Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert

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Ideologische Kulturkriege

Die Begegnung der Künste und der Wissenschaften mit der Moderne bewirkte zwischen 1900 und 1933 eine Explosion der Kreativität. Ihr sind einige bemerkenswerte kulturelle Leistungen zu verdanken, die den Menschen um neue Erkenntnisse und neue Erlebniswelten bereicherten. Die wissenschaftlichen Durchbrüche in der Nuklearphysik veränderten das Verständnis des Universums; die medizinischen Entdeckungen, etwa die der Bakterien, ermöglichten es, viele Krankheiten zu heilen; und die technischen Innovationen wie das Automobil oder das Telefon verbesserten Transport und Kommunikation. Während jener Jahre wurde erfolgreich versucht, die stilistische Freiheit der Moderne zu nutzen. Dabei entstanden Werke, die neue und tiefere Einsichten in das Menschsein vermittelten – besonders wenn sich die Inanspruchnahme der Freiheit mit einer gewissen Selbstbeschränkung paarte. Nennen wir als Beispiele nur ein paar herausragende Leistungen: für die Musik StrawinskysStrawinsky, Igor Rhythmusexperimente, für die Malerei Picassos kubistische Bilder, für die Plastik BrancusisBrancusi, Constantin gleißende Stahlfiguren, fürs Theater BrechtsBrecht, Bertolt epische Stücke, für die Literatur Thomas MannsMann, Thomas meisterliche Romane. In solchen Werken hinterfragten die Künstler radikal die Bestimmtheit des Menschen und fanden doch häufig Formen von einer Schlichtheit, die man nur klassisch nennen kann. Aber so eindrucksvoll diese Explosion der Kreativität auch war – sie verhinderte doch, wie sich zeigen sollte, das Abgleiten Europas in die nächste Katastrophe keineswegs.1

Die Provokation durch die modernistischen Stile und Ideen löste einen heftigen ideologischen Kampf aus, bei dem es regelrecht um die Zukunft der menschlichen Zivilisation zu gehen schien. Diejenigen, die gegen die Tradition rebellierten, sahen ihr Unterfangen als progressiven Versuch eines Bruchs mit der Konvention und einer Beendigung der Zensur, um neue Formen künstlerischen Ausdrucks durchzusetzen und bis dato tabuisierte Themen zu behandeln. Der Schock des Weltkrieges zwang die Intellektuellen, zwischen Hypernationalismus und Internationalismus zu wählen; sie mussten sich entscheiden, ob sie den Mythos vom heroischen Soldatentum aufrechterhalten oder demontieren sollten. Nach der Rückkehr des Friedens kam mit der Populärkultur, zu deren Entstehen die Weiterentwicklung der Technik den Anstoß geliefert hatte, ein neues Streitobjekt auf; viele bemängelten die Kommerzialisierung der Inhalte und die Vulgarität der Stile. Gleichzeitig wurde um die Oberhoheit über die kulturellen Institutionen wie Museen und Konzerthallen gerungen. Die Erneuerer eroberten sich zumindest stellenweise eine feste Position, aber die Verteidiger der Tradition schlugen sofort heftig zurück gegen die neuen »Barbaren«.2 Die Vertreter des Neuen verbündeten sich dabei meistens mit den Parteien der Linken, während die Verteidiger der Tradition scharenweise in die rechten Bewegungen hineinströmten.

Obwohl die Aktivisten der modernistischen Avantgarde sich gern in revolutionäre Posen warfen und gegen die Zwänge der bürgerlichen Kultur zu kämpfen vorgaben, erzielten sie ganz und gar keine Einigkeit darüber, wodurch diese zu ersetzen wäre. Den Bohème-Intellektuellen machte es durchaus Vergnügen, Kurt TucholskysTucholsky, Kurt Satiren auf die herrschenden Klassen zu hören und ihnen zu applaudieren; sie waren ja auch witzig und einfallsreich. Für weite Kreise war der Krieg eine leidvolle Erfahrung gewesen, weshalb der französische Autor Romain RollandRolland, Romain nach 1918 mit seinen pazifistischen Botschaften viele bereitwillige Leser fand. Ferner entzündete der Triumph der sowjetischen Revolution Hoffnungen, es könne mit der Ausbeutung bald ein Ende haben; wer aber leichtfertig versuchte, das russische Ereignis daheim zu imitieren, konnte rasch im Gefängnis landen, wie es der radikale Dichter Ernst TollerToller, Ernst erfahren musste. Besonders bitter jedoch stritten die linksradikalen Gesellschaftskritiker darum, ob sie für die Unterdrückten sprechen oder nicht vielmehr die Arbeiter anhalten sollten, selbst Kunst zu produzieren, wie es die proletkult-Bewegung in der Sowjetunion vorgemacht hatte. Bei der Unterstützung des Kommunismus ergab sich außerdem die Frage nach der künstlerischen Unabhängigkeit; die Partei diktierte nämlich gern die Produktion und regierte auch in Agitprop-Plakate und -Revuen hinein. Schließlich sollten diese unbedingt simpel genug ausfallen, um nur ja das Proletariat zu mobilisieren. Während die schneidende Kritik der Linken bei den Intellektuellen durchaus auf Resonanz stieß, fanden die sie übenden innovativen Künstler weder Form noch Botschaft, die Freiheit und Gleichheit zusammengeführt hätte.3

Ähnliche Fronten gab es bei den Antimodernisten: Man war sich einig, dass man den »Kulturbolschewismus« bekämpfen musste, aber über das Wie gingen die Ansichten auseinander. Da sie immer noch viele kulturelle Institutionen kontrollierten, konnten die Hüter der Tradition wie der österreichische Autor Hugo von HofmannsthalHoffmannsthal, Hugo von versuchen, in der Hoffnung die Stellung zu halten, dass die Attacken der Avantgarde sich bald totliefen. Aus dieser defensiven Position heraus appellierten sie an die klerikalen und konservativen Parteien, den Einfluss der Kirchen zu sichern und die Standards des Bildungskanons zu verteidigen. Die jüngere Generation aber begriff, dass der Krieg die Monarchen, Generäle und Bischöfe derart diskreditiert hatte, dass es töricht war, auf deren Rückkehr zu setzen. Stattdessen machten sich jene Neokonservativen die Botschaft der »Jugendbewegung« zu eigen. Mitglieder dieser pfadfinderähnlichen Strömung lehnten die dekadenten Gewohnheiten des urbanen Lebens ab, darunter Alkoholkonsum, Rauchen und Sexualität ohne Gefühl. Stattdessen hegten sie den romantischen Traum von einer Rückkehr zu einer gesünderen Existenzweise, dem sie näherkommen wollten, indem sie über Land wanderten.4 Wie der deutsche Freikorpskämpfer Ernst von SalomonSalomon, Ernst von forderte diese neue Rechte eine konservative Revolution, die eine andere, bessere Art von Gemeinschaft begründen müsse. Doch was aus der Phantasie später wurde, erwies sich als destruktiver als alle Gemeinschaften zuvor – im Faschismus.

In diesen Kulturkriegen wurden die Demokraten von beiden Seiten bedrängt und schließlich dazwischen zerrieben. Als französische Intellektuelle während der DreyfusDreyfus, Alfred-Affäre die »Liga für Menschenrechte« gründeten, zogen viele Künstler mit, weil das Ziel sie überzeugte, die Rechte eines unschuldig angeklagten Bürgers zu schützen. Angeführt von republikanischen Politikern wie Ferdinand BuissonBuisson, Ferdinand, weitete sich die Gruppe 1922 zur internationalen Organisation aus und versuchte eine Kooperation im Geiste des Völkerbundes zu schmieden.5 Den deutschen Zweig der Liga unterstützten z. B. der Publizist Carl von OssietzkyOssietzky, Carl von, der Herausgeber der Weltbühne, und der Pazifist Ludwig QuiddeQuidde, Ludwig. Allerdings hatte die bolschewistische Revolution in Russland eine Zeitlang sogar solche Geistesgrößen wie den britischen Philosophen Bertrand RussellRussell, Bertrand fasziniert, und der Aufstieg des italienischen Faschismus hatte so eminente Gestalten des Literaturbetriebs wie den amerikanischen Dichter Ezra PoundPound, Ezra in Bann geschlagen. Die Demokraten fanden sich daher verloren zwischen zwei politischen Extremen wieder. In WeimarWeimar versuchte eine moderate Gruppe der »Vernunftrepublikaner«, zu denen etwa der deutsche Historiker Friedrich MeineckeMeinecke, Friedrich gehörte, die Verfassung zu verteidigen. Aber da die modernistischen Künstler radikaler sein wollten und die neokonservativen Intellektuellen eine nationale Wiedergeburt anstrebten, kamen die meisten der kreativen Geister nicht herbeigeeilt, um die Demokratie zu schützen.6

TEIL II

Auf dem Weg zur Selbstzerstörung, 1929–1945

Eine verhängnisvolle Depression


Suppenküche zur Zeit der Großen Depression, 1930

Am 11. Mai 1931 hatte das größte Bankhaus WiensWien schlechte Nachrichten für die österreichische Regierung: Es war zahlungsunfähig. Sofort stürzten sich die Kunden auf die Einlagen der Bank. Die Creditanstalt, so ihr Name, konnte ihre Verpflichtungen nicht mehr erfüllen, weil sie sich zwei Jahre zuvor durch die Übernahme eines Konkurrenten zu stark belastet hatte. Und nun verlangten auch noch die Franzosen ihre bei den WienernWien aufgenommenen Auslandsgelder zurück – politisch motiviert, denn Paris wollte Österreich von einer Zollunion mit Deutschland abhalten. Obwohl die City of LondonLondon frische Darlehen anbot, brach die Wiener Regierung zusammen, und die Panik griff auf kleinere Institute über. Ein Bankier erschoss sich, ein anderer versuchte sich in der Donau zu ertränken. Beim nördlichen Nachbarn standen die Dinge nicht besser. Einen Monat später geriet die Darmstädter Nationalbank unter Druck, als Gerüchte vermeldeten, ihr Hauptkreditnehmer, die Textilkompanie Nordwolle, sei insolvent; schon wurden auch in Deutschland, der größten Wirtschaftsmacht des Kontinents, die Banken belagert. Am 13. Juli sah sich die Berliner Regierung gezwungen, Bankfeiertage anzuordnen: Für zwei Tage durften keine finanziellen Transaktionen getätigt werden.1 Knapp zwei Jahre nach dem Schwarzen Donnerstag, dem berüchtigten Börsenkrach von New YorkNew York, sorgten diese Bankpleiten dafür, dass die Finanzkrise nun auch Europa mit voller Wucht überkam.

Der Bankenkollaps verwandelte eine zyklische ökonomische Konjunkturschwäche in einen umfassenden und längeren Abschwung, den beunruhigte Beobachter »Weltwirtschaftskrise« oder, wie US-Präsident Herbert HooverHoover, Herbert, »die Große Depression« nannten. Aufgrund kriegsbedingter Überproduktion waren die Preise für Agrarprodukte und Rohstoffe schon während des letzten Jahrzehnts um rund ein Drittel gesunken. Nach dem Schwarzen Donnerstag jedoch stellten die Hauptkreditgeber in New YorkNew York und LondonLondon kein Geld mehr zur Verfügung und begannen in Europa auch ihre kurzfristigen Darlehen wieder zurückzurufen. Allein aus Deutschland flossen im Sommer 1931 binnen nur sechs Wochen zwei Milliarden Dollar ab! Das Geschäftsklima verschlechterte sich, Kohle- und Stahlproduktion gingen um 40–60 Prozent zurück, der weltweilte industrielle Output schrumpfte um 30 Prozent, das europäische Handelsvolumen fiel zwischen 1929 und 1935 von 58 auf 21 Milliarden Dollar. Infolge dieser Entwicklungen wurden mehr als zwanzig Millionen Europäer arbeitslos.2 Das Ineinanderwirken von Rückgängen im Finanzwesen, bei der Agrar- und Industrieproduktion und im Handel verstärkte eine normale Rezession zu einer Depression von einer Dauer und einem Ausmaß, wie man sie sich bis dato nicht hatte vorstellen können. Sie traf die Regierungen unvorbereitet, die nun nicht recht wussten, wie sie der hartnäckigen und allesverheerenden Katastrophe Herr werden sollten.

 

Die Frage, wie der Großen Depression zu begegnen sei, entfachte einen erbitterten ideologischen Streit zwischen Monetaristen und Keynesianern, der auch heute noch die Debatte um das richtige Wirtschaftsmodell beherrscht. Auf der einen Seite standen die Zentralbanker, an ihrer Spitze Sir Montagu NormanNorman, Montagu aus Großbritannien. Sie wollten unbedingt am Goldstandard festhalten, der feste Wechselkurse garantiere und so den internationalen Handel erleichtere. Der amerikanische Finanzmann Andrew MellonMellon, Andrew betrachtete die Krise als ökonomische Strafe für die exzessiven Spekulationen während der 1920er Jahre und riet der Wall Street, die »Fäulnis aus dem System auszutreiben«: Man solle die Spekulanten, die sich dank ihrer überdehnten Aktionen in Bedrängnis befänden, getrost dem Bankrott überlassen, statt sie etwa durch staatliche Interventionen zu retten. Die Gegenposition vertrat der britische Ökonom John Maynard KeynesKeynes, John Maynard, dessen Konzept auch die Gewerkschaften unterstützten. Laut Keynes sollte der Staat antizyklische Ausgaben tätigen, um der Wirtschaft einen Neustart zu ermöglichen. Während einer Rezession, meinte er, müsste eine Regierung mit geliehenem Geld öffentliche Projekte finanzieren. Nur so ließen sich die Menschen wieder in Arbeit bringen, und es entstehe eine Kaufkraft, die infolge der gewachsenen Nachfrage die Geschäfte wiederbelebe. Der Konflikt blieb ungelöst. »Dieses Mal ist es anders«, sagen neoliberale Ökonomen bis heute bei jeder neuen Krise und schelten nach wie vor die US-Notenbank, sie tue nicht genug, um die Geldschöpfung zu begrenzen, während linksgerichtete Kommentatoren die »Goldstandard-Mentalität« kritisieren, die die nationalen Regierungen verleite, Deflationspolitik zu betreiben.3

Mehr als irgendein anderes Zwischenkriegsereignis beeinträchtigte die Große Depression die politische Stimmung in Europa: Aus friedfertigem Optimismus wurde kriegstreiberischer Pessimismus, denn der Fortschritt der Moderne im Materiellen kam zum Erliegen. Die Situation wirkte sich hart auf die Millionen Erwerbsloser aus: Sie mussten zu einer Zeit ums nackte Überleben kämpfen, da die öffentlichen Leistungen zurückgefahren wurden. Auch die weniger schlimm betroffenen Nachbarländer blieben von der Krise nicht unberührt, weder finanziell noch psychologisch, denn die Beschäftigten dort erhielten weniger Lohn und fürchteten sowohl den Jobverlust als auch Einbußen an Lebensstandard und Sicherheit. Eine ganze Generation der Oberschul- und Universitätsabsolventen sah eine Zukunft ohne Chancen vor sich, denn es gab viele Entlassungen und kaum Einstellungen. Nicht wenige von ihnen machten nun »das System« für jenes Übel verantwortlich, das ja nicht sie selber verschuldet hätten. Als sich kein Ende des Abschwungs abzeichnen mochte und die internationale Kooperation zusammenbrach, begannen sich viele Kommentatoren mit dem österreichischen Ökonomen Joseph SchumpeterSchumpeter, Joseph zu fragen: »Kann der Kapitalismus überleben?«4 Da die Sowjetunion gerade während der Großen Depression bei der Industrialisierung gewaltig vorankam und sogar das faschistische Italien von den gravierendsten Auswirkungen der Malaise verschont zu bleiben schien, stürzte der konjunkturelle Einbruch die demokratische Variante der Modernisierung in die Krise.

Indem sie die Entwicklungsrichtung des materiellen Fortschritts umkehrte, verstärkte die great depression jene negativen Aspekte der Moderne, die Europa während der folgenden Jahrzehnte an den Rand der Selbstvernichtung brachten. Die Schwierigkeiten der ökonomischen Neujustierung nach dem Ersten Weltkrieg und die Auswirkungen der Hyperinflation verzögerten die wirtschaftliche Erholung und begrenzten die Rückkehr des Wohlstands auf gerade einmal eine halbe Dekade. Die Tiefe der durch die Bankpleiten ausgelösten Zerrüttung machte die Hoffnungen zunichte, dass es weiter aufwärtsgehe, und schuf ein Klima der Furcht, in dem Individuen, Unternehmen und ganze Länder nur noch ihren unmittelbaren Eigeninteressen folgten. Folglich schrumpften Konsum, Produktion und internationaler Warenaustausch – eine sich selbst verstärkende Abwärtsspirale. Die massive Arbeitslosigkeit steigerte die Spannung zwischen den sozialen Klassen, etwa, wenn die Gewerkschaften öffentliche Programme forderten und die selbst im harten Existenzkampf begriffene Geschäftswelt jede Hilfe verweigerte. Die Zerrüttung des internationalen Handels- und Kreditwesens förderte den ökonomischen Nationalismus, der wiederum Kooperation über Grenzen hinweg verhinderte und Autarkiebestrebungen ermutigte. Die Weigerung der Liberalen, sich für öffentliche Projekte zu engagieren, brachte die Demokratie in Misskredit. Plötzlich erschienen die links- und rechtsextremen Diktaturen dynamischer und effektiver; so geriet Europa auf einen fatalen Kurs.5

Nachkriegsverwerfungen

Schon während der Verhandlungen in Versailles 1919 hatte John Maynard KeynesKeynes, John Maynard, damals Berater der britischen Delegation, gewarnt, ein harter Frieden werde desaströse Konsequenzen nach sich ziehen. Allgemein kritisierte er die Bedingungen als unfair, zumal sie die vor dem Waffenstillstand getroffenen Vereinbarungen verletzten. Besonders aber beunruhigten den brillanten Ökonomen aus CambridgeCambridge die umfassenden Reparationsforderungen, da sie Inflationen verursachen könnten. Des Weiteren plädierte er dafür, dass WashingtonWashington seinen Alliierten ihre Schulden erlasse; so könne es einen materiellen Beitrag zu einem Krieg leisten, in den es erst im April 1917 eingetreten sei. Vielleicht war das, was KeynesKeynes, John Maynard, der enttäuschte Wilsonianer, forderte, angesichts der aufgeheizten Atmosphäre während der Nachkriegsjahre unrealistisch – im Hinblick auf die ökonomischen Folgen der VersaillerVersailles Verträge behielt er recht. »Wer kann sagen, wie viel ertragbar ist oder in welche Richtung Menschen sich am Ende wenden, um ihrem Ungemach zu entgehen?«1 Angesichts der Vernichtung von rund einem Viertel seines Bruttoinlandprodukts brauche Kontinentaleuropa einen Plan zur ökonomischen Gesundung. Die Wiederherstellung internationaler Kooperation sei dringlicher als neue Grenzen, die noch mehr Entzweiung schafften, und hohe Ausgaben für militärische Sicherheit.

Allein schon die physischen Verheerungen zu beheben war eine beängstigend schwere Aufgabe. Das entstandene Schlachtfeld erstreckte sich von NordfrankreichNordfrankreich, Belgien und Norditalien bis nach Polen, Russland und in die BalkanländerBalkan, ganz zu schweigen vom Nahen OstenNaher Osten sowie den Kolonien. Die Grabensysteme, die Sperrfeuer und die Bombardements aus der Luft – jene typischen Elemente moderner Kriegsführung eben – hatten eine wahre Mondlandschaft hinterlassen: Granatenkrater, so weit das Auge reichte, Gräben, die nun voll Wasser standen, gefällte Bäume, zerstörte Gebäude und menschliche wie tierische Leichen prägten das Bild. Den Boden neu zu erschließen, damit wieder etwas gepflanzt, die Häuser neu zu errichten, damit wieder darin gewohnt werden konnte, war eine enorme Herausforderung. Allein in Frankreich mussten 23 000 Fabriken, 5000 Kilometer Eisenbahnschienen, 200 Bergwerke, 742 000 Häuser und 3,3 Millionen Hektar Ackerland instand gesetzt werden; die Kosten beliefen sich auf 80 Milliarden Francs.2 Während die reicheren Länder des Westens solche öffentlichen Anstrengungen finanzieren konnten, besaßen neu geschaffene Staaten im Osten und Südosten wie Polen und Jugoslawien kaum genug Ressourcen und Kapazitäten, um sich diesem schwierigen Problem zu stellen. Selbst wenn durch die Wiederaufbauprogramme vorübergehend mehr Leute in Lohn und Brot kamen – was an Mitteln eingesetzt werden musste, um bei den Lebensstandards das Vorkriegsniveau zu erreichen, war ungeheuer.

Die Belastungen durch vernichtete Menschenleben, nämlich die Opfer der militärischen Kämpfe selbst und die der »indirekten Kriegsführung« gegen Zivilisten, waren ebenfalls gravierend – und weitgehend irreparabel, denn Tote können keine Kinder zeugen. Die meisten Schätzungen besagen, dass der Erste Weltkrieg 9,4 bis 11 Millionen Soldaten sowie 7 Millionen Zivilisten dahinraffte, und fast doppelt so viele blieben fürs Leben durch Verwundungen verstümmelt. Deutschland allein verlor 2 037 000 Mann, Russland kaum weniger – 1 811 000 –, Frankreich 1 398 000, Österreich-Ungarn 1 100 000, England 733 000 und Italien 651 000. Das Gemetzel kostete Frankreich und Deutschland rund 10 Prozent der einheimischen Arbeitskräfte, Italien und Österreich-Ungarn 6 Prozent und das Vereinigte Königreich 5 Prozent. Hinzu kam der Mangel an Lebensmitteln: Felder waren kriegsbedingt nicht ordentlich bestellt, Ernten vernichtet worden, Seeblockaden taten das Ihre, und es verbreiteten sich gewaltige Hungersnöte. Der Quäker Herbert HooverHoover, Herbert und die American Relief Administration versuchten diese zu lindern, indem sie Millionen Tonnen Getreide ins kriegszerrissene Europa verschiffen ließen. Die Grippepandemie von 1918 forderte schließlich noch einmal Millionen Opfer, da die Bevölkerung ohnehin durch Kampf und Entbehrung geschwächt war.3 Demografisch betrachtet verursachte der Erste Weltkrieg einen tiefen und dauerhaften Einriss auf der männlichen Seite der europäischen Bevölkerungspyramide: schlechte Bedingungen für wirtschaftliche Gesundung.

Der ökonomische Krieg und die Schaffung neuer Staaten lenkten den internationalen Handel um und durchtrennten alte Verbindungen. Der Krieg mit Waffen hatte die Austauschverhältnisse und -muster neu geformt, das kontinentale Geschäftsleben unterbrochen und dabei die neutralen sowie die Überseeländer bereichert. Die Friedensverträge machten die Sache noch schlimmer, denn sie zerstückelten das deutsche, das österreichisch-ungarische, das russische und das osmanische Imperium. Das vermehrte die Zahl der europäischen Länder von 24 auf 38, die wiederum 27 verschiedene Währungen benutzten. Um ihre Souveränität zu behaupten und die neu hinzugewonnenen Territorien einzugliedern, befestigten die neuen ostmittel- und südosteuropäischen Staaten ihre Grenzen und erhoben Zölle, den höheren Staatseinnahmen zuliebe. Solche Barrieren unterbrachen aber traditionelle Handelsrouten, und die Kreditgewährer suchten eher diplomatische Allianzen zu stützen, als dass sie sich an Standards der Profitabilität orientiert hätten. Präsident WilsonsWilson, Woodrow Hoffnung auf den Freihandel wurde daher rasch vereitelt durch den zunehmenden Barrierenbau des ökonomischen Nationalismus. So kam es, dass das Welthandelsvolumen 1921 auf 53 Prozent seines Vorkriegsniveaus gesunken war; die Höhe von vor 1914 erreichte es erst wieder gegen Ende des Jahrzehnts.4

Diese strukturellen Schwierigkeiten verschärften sich noch durch das endlose politische Ringen um Reparationen und die Kriegsschulden zwischen den Alliierten, die die Vergabe von Wiederaufbaukrediten verkomplizierten. In der aufgeheizten Nachkriegsatmosphäre sah die Reparationskommission sich außerstande, wissenschaftlich exakt zu bestimmen, wie groß der entstandene Schaden wirklich war und welche Zahlungen man Deutschland realistischerweise zumuten durfte. Die 1920 in Spa festgesetzte Summe von 132 Milliarden Goldmark fand BerlinBerlin zu hoch, während Deutschlands tatsächliche Abgabe von rund einer Milliarde Pfund jährlich ParisParis zu gering erschien. Gleichzeitig zeigte sich die US-Regierung nicht bereit, den Ententeländern die Kredite zu erlassen, die jene für den Erwerb von Kriegsmaterial aufgenommen hatten, durch den es in den Vereinigten StaatenVereinigte Staaten zu einem Boom gekommen war. Dabei hätten sie dadurch den Kampf der Europäer unterstützen können. Die Weigerung, den logischen Nexus zwischen Reparationen und Kriegsschulden anzuerkennen, erzeugte einen Teufelskreis: Obwohl sich ihre Wirtschaft gerade erholte, wollten die Deutschen keine Reparationen zahlen, welche die siegreichen europäischen Alliierten aber dringend brauchten, um ihre Schulden bei den USAVereinigte Staaten zu begleichen.5 Da sich die Situation festfuhr, trübte der Streit um die Reparationen die Aussichten auf vollständige ökonomische Erholung.

 

Die Beeinträchtigung durch den Krieg war so schwerwiegend und nachhaltig, dass sie die Dominanz Europas in der Weltwirtschaft beendete. Schon während des Ersten Weltkriegs geriet die Landwirtschaft des Alten Kontinents ins Hintertreffen, weil die Europäer einen Großteil des landbestellenden Personals an die Front einberiefen, Pferde für Kampfeinsätze requirierten, Kunstdünger als Schießpulver verwendeten und nicht wenige ihrer Ackerflächen zerstörten. So kam es, dass die Spitzenplätze bei der Agrarproduktion nunmehr die Weizenfelder von KanadaKanada und die Rinderranches des amerikanischen Westens einnahmen. Gleichzeitig verlagerte sich dank des Bedarfs der Entente an Kriegsmaterial die finanzielle Kommandogewalt von LondonLondon nach New YorkNew York. Dadurch wurden die unvorbereiteten Vereinigten Staaten zum »Bankier der Welt« und spielten eine Hauptrolle beim Wiederaufbau Europas. Obwohl der europäische Kontinent nach dem Ende des Gemetzels seine alte Produktionskapazität wiedererreichte, fiel sein Anteil am Welthandel von 36 Prozent im Jahre 1914 auf 24,4 Prozent im Jahre 1936. Die Friedensstifter zeigten sich schlecht beraten, denn ihre nationalistischen Prioritäten ließen sie die ökonomische Dimension dessen, was sie taten, weitgehend ignorieren. Sie schienen nicht wahrzunehmen, wie sehr es das internationale Klima vergiftete, dass man immer neue Grenzen hochzog und auf Reparationen und interalliierter Schuldenbegleichung bestand. Verglichen mit den boomenden USAVereinigte Staaten und der aufsteigenden Sowjetunion verlor Europa fast ein Jahrzehnt an Wachstum und beschleunigte dadurch seinen Abstieg.6

Der Krieg und seine Nachwirkungen unterbrachen auch den Prozess der Globalisierung, der die europäischen Länder und den Rest der Welt seit der Jahrhundertwende einander nähergebracht hatte. In fast allen Produktions- und Handelsindices verursachte der Erste Weltkrieg einen tiefen Einschnitt, der einer längeren Fortschrittsperiode ein Ende machte. Nach dem Krieg gingen die Kurven zwar wieder hoch, doch starteten sie eben von einem niedrigeren Ausgangspunkt und erreichten den Vorkriegsstand erst während der späten 1920er Jahre. Dieses Niveau wiederum lag um einiges unter dem, das sie hätten erzielen können, wenn die ganze Zeit Frieden geherrscht hätte. Die allmähliche Befriedung des Kontinents und die Rückkehr zum Goldstandard verhalfen dem internationalen Warenverkehr zweifellos zu neuer Energie. Aber infolge der kriegsbedingten ökonomischen Verzerrungen und der Mühen des Wiederaufbaus suchten viele Verantwortliche ihr Heil statt im Freihandel lieber im Protektionismus, denn jedes Land war hauptsächlich damit beschäftigt, die eigene wirtschaftliche Basis zu regenerieren und möglichst rasch voranzukommen. Die Strapazen des Krieges und die Schwierigkeiten des Wiederaufbaus hatten ungute Konsequenzen: indem sie die Finanz- und Handelsverbindungen zwischen den höher entwickelten Ländern schwächten, lähmten sie die Schwungkraft des Fortschritts, die bisher der Modernisierung ein positives Image verliehen hatte.7

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