Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert

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Klassische Moderne

Während der relativen Stabilität der mittleren 1920er Jahre experimentierten die Künstler weniger frenetisch als in der unmittelbaren Nachkriegsperiode; stattdessen suchten sie stabile Formen, um die Beschaffenheit des Modernen auszudrücken. In Zentraleuropa war das Ergebnis eine Wende hin zum Nüchternen, Schlichten und Unpathetischen; die damals vorherrschende Richtung hieß »Neue Sachlichkeit«. Die Kulturschaffenden wollten nicht mehr so sehr schockieren, sondern eher das Wesen der Modernität erfassen. Da technische Innovationen, industrielle Produktion und turbulentes Großstadtleben nun einmal existierten und wenig dafür sprach, dass sie bald wieder verschwänden, mussten sich die Menschen an den Lärm, die Hektik und die Aufregung gewöhnen, die das alles mit sich brachte. Höchstens noch auf dem Lande gab der Wechsel der Jahreszeiten den Rhythmus vor; die scheinbare Unordnung des urbanen Lebensstils verlangte eine andere, neue Art Ästhetik: Sie musste den spezifischen Gefühlen und Erfahrungen gerecht werden, die man ihm verdankte. Eine Flucht in dekorative Schönheit, so meinte man, passe nicht für ein Zeitalter der Geschwindigkeit und Energie. Stattdessen könne eine neue Beschränkung auf das objektive Dasein der Gegenstände, »Neue Sachlichkeit« eben, den rationalen Geist der Technik adäquater einfangen. Aus dieser veränderten Einstellung heraus favorisierte man die Reportage als akkurate Beschreibung und die Fotografie als verlässliche Reproduktion der Realität. Zwar beendete die Neue Sachlichkeit das Experimentieren nicht gänzlich, aber sie bremste doch die unbegrenzte Vermehrung der Stile. Vertretern dieser Richtung gelangen einige bemerkenswerte Werke von bleibendem künstlerischem Verdienst, vor allem aber fanden sie eine klassische Form für die Moderne.1

Die überraschenden Entdeckungen der Nuklearphysik legten derweil den Gegensatz zwischen Ungewissheit und Rationalität in der wissenschaftlichen Forschung bloß. Schon um 1900 gewann Max PlanckPlanck, Max Einsichten in die Grundbeschaffenheit der Materie, indem er entdeckte, dass Strahlungen ihre Energie nicht kontinuierlich abgeben, sondern in winzigen Energieportionen, denen er der mathematischen Darstellbarkeit zuliebe den Namen »Quanten« verlieh. Ein halbes Jahrzehnt später vertrat Albert EinsteinEinstein, Albert, hauptberuflich technischer Experte im Schweizer Patentamt, die These, Licht sei gleichzeitig Welle und Teilchen; diese und andere Erkenntnisse führten ihn zur Speziellen Relativitätstheorie, die ihren Ausdruck in der berühmten Formel fand: E = mc2. Nach dem Krieg konnte Niels BohrBohr, Niels in Kopenhagen, auf diese Theoreme aufbauend, die Binnenstruktur des Atoms näher ergründen. In jenen Jahren gelangte Werner HeisenbergHeisenberg, Werner durch statistische Methoden zur Klärung der Frage, warum zwei Eigenschaften eines Teilchens nie gleichzeitig mit derselben Genauigkeit bestimmt werden konnten: »Messen heißt Stören« – in diesem Diktum resümierte Heisenberg sein bekanntes »Unschärfeprinzip«.2 Während die Erkundungen zum Aufbau des Atoms die mechanische Ordnung des NewtonschenNewton, Isaac Universums zu zerstören schienen, stärkten die mathematischen Berechnungen, mit deren Hilfe sich die Aktivitäten subatomarer Teilchen erfassen ließen, doch wieder den Glauben an den menschlichen Verstand.

Ebendieser Geist rational-empirischer Analyse veränderte auch die Arbeitswelt. Ein neuer Produktionsmodus entstand, für den sich später die Bezeichnung »Fordismus« einbürgerte, ein Neologismus, der übrigens auf Antonio GramsciGramsci, Antonio zurückgeht. Mehr Prosperität, so hatte man erkannt, ließ sich nicht nur durch technische Innovationen, sondern auch durch höhere Effizienz in der fabrikmäßigen Herstellung erzielen; dies senkte die Preise und machte die Produkte für weitere Kreise der Bevölkerung erschwinglich. Um die Produktivität zu steigern, müsse man Verschwendung vermeiden, postulierte Frederick Winslow TaylorTaylor, Frederick Winslow und propagierte eine »wissenschaftliche Betriebsführung«, eine Methode, die er auf der Grundlage von Bewegungs-Zeit-Studien an Industriearbeitern entwickelte. In Detroit übertrug Henry FordFord, Henry TaylorsTaylor, Frederick Winslow Ergebnisse auf die Kraftwagenproduktion: Der Herstellungsprozess wurde in dicht aufeinanderfolgende Arbeitsschritte unterteilt. Bei jedem einzelnen hatten ein oder mehrere Arbeiter bestimmte standardisierte Handgriffe zu verrichten, wobei die häufige Wiederholung ihnen Routine verlieh; ein Fließband, das das zu komplettierende Objekt transportierte, erleichterte den Übergang von einem Arbeitsschritt zum jeweils nächsten. Auf diese Weise war FordFord, Henry imstande, Autos billiger produzieren als seine Konkurrenten. Nun konnten Millionen Bürger seine Wagen kaufen, darunter das berühmte Modell T. Jene Rationalisierung behandelte Menschen wie Maschinen, was zur Folge hatte, dass nicht wenige Arbeiter und Ingenieure als unrentabel und redundant aussortiert wurden; Charlie ChaplinChaplin, Charlie drehte über den Vorgang seinerzeit die Filmsatire Modern Times. Die Einführung dieser amerikanischen Verfahren in Europa kurbelte aber auch den Massenkonsum an und beförderte die Motorisierung breiterer Segmente der Mittelschicht.3

Inspiriert von solchen Ideen, fand die Neue Sachlichkeit ihren klassischen Ausdruck in der länderübergreifenden Strömung des »Internationalen Stils«, deren deutschen Zweig die Bewegung »Bauhaus« stellte. 1907 gründete der Architekt Hermann MuthesiusMuthesius, Hermann in MünchenMünchen den »Deutschen Werkbund«, der sich eine Verbindung von Handwerk und industriellem Design zum Ziel setzte. Nach dem Krieg etablierte Walter GropiusGropius, Walter eine Schule für Architektur und andere Kunstarten, die ihren Sitz erst in WeimarWeimar, dann in DessauDessau und schließlich in BerlinBerlin nahm. Was sie anstrebte, waren preiswerte, massengefertigte, aber trotzdem attraktive Gebäude und Konsumgegenstände: »Wir wollen«, verkündete GropiusGropius, Walter programmatisch, »eine Architektur, die unserer Welt der Maschinen, der Radios und schnellen Autos angepasst ist, deren Funktion in ihrer Beziehung zur Form klar erkennbar ist.« Eine außergewöhnliche Künstlergruppe, zu der Architekten, Möbeldesigner, Innendekorateure und Maler gehörten, formulierte diese neue Ästhetik, der zufolge die Form sich nach der Funktion zu richten habe. Beim Bauen solle man zudem bevorzugt jene Materialien heranziehen, deren Verwendbarkeit in jüngster Zeit optimiert worden sei, namentlich Stahl, Glas und Beton. Die aus dieser Konzeption heraus entstandenen Gebäude hatten klare Linien, offene Räume und große Fenster; jeder Rückgriff auf historische Modelle wurde vermieden. Realisieren konnten die Bauhaus-Leute selbst nur ein paar wenige Objekte, aber Architekten wie Mies van der Rohevan der Rohe, Mies brachten die Ideen der Bewegung ins Ausland, als sie vor dem Nazi-Regime fliehen mussten. Damit trugen sie das Ihre zur Durchsetzung des »Internationalen Stils« bei, und »Bauhaus« wurde in der Kunstgeschichte schließlich zum Synonym für moderne Architektur schlechthin.4

Weniger deutlich wirkte sich die Wendung zur Sachlichkeit auf die Malerei aus, in der weiterhin mehrere verschiedene stilistische Impulse miteinander wetteiferten. Natürlich ermutigte die Rehabilitation des nüchternen Wirklichkeitsbezugs realistische Künstler wie Otto DixDix, Otto, Käthe KollwitzKollwitz, Käthe und Max BeckmannBeckmann, Max, die in ihren Bildern soziale Ungerechtigkeit kritisierten. Andere Maler wie Fernand LégerLéger, Fernand und Lyonel FeiningerFeininger, Lyonel hielten an einer stilisierten Version der Menschengestalt fest oder boten kristallisierte Ansichten von Seelandschaften, weil sie ein erweitertes Verständnis von Gegenständlichkeit im Sinn hatten. Symbolisten wie Giorgio de ChiricoChirico, Giorgio di benutzten zwar oberflächlich betrachtet realistische Darstellungsmethoden, die gemalten Objekte entstammten aber der Phantasie – eine Tendenz, die Surrealisten wie Max Ernst oder Salvador Dalí dann noch radikalisierten. Aber die dominante Wirkung des Modernismus bestand doch in der Zurückdrängung erkennbarer Formen; sie wurden reduziert auf bloße Anspielungen, die als magische Stenogramme der Wirklichkeit fungierten wie etwa in den Werken Joan MirósMiró, Joan und Paul KleesKlee, Paul. Maler wie Piet MondrianMondrian, Piet gingen noch weiter, indem sie ihre Bildsprache so weit vereinfachten, dass nur noch Linien und Farben zu sehen waren und es keinerlei Bezug zum Erkennbaren mehr gab. Ähnliches geschah im Bereich der Plastik: Die Bildhauer Constantin BrancusiBrancusi, Constantin und Jean ArpArp, Jean schufen abstrakte Formen aus glänzendem Stahl oder poliertem Stein, die durch ihre Einfachheit Modernität signalisierten.5

Auf den Bühnen hinterließ die neue Tendenz zu nüchternem Wirklichkeitsbezug markantere Spuren, namentlich das »Epische Theater«, das der Regisseur Erwin PiscatorPiscator, Erwin und der Dramatiker Bertolt BrechtBrecht, Bertolt propagierten. Die beiden verwarfen die gefühlsbetonten Melodramen des Expressionismus, stattdessen sollte ihr Darstellungsmodus Einfachheit, Klarheit und kritische Distanz des Zuschauers zum Bühnengeschehen erzeugen, der nicht mitzufühlen, sondern mitzudenken und eine soziale Botschaft zu begreifen hatte. Während PiscatorPiscator, Erwin die BerlinerBerlin Volksbühne benutzte, um sowjetsozialistische Ideen einem breiteren Publikum zugänglich zu machen, versuchte BrechtBrecht, Bertolt sich an Stücken, die gleichzeitig unterhalten und provozieren sollten. Brecht mühte sich, sein marxistisches soziales Bewusstsein mit der Faszination zu versöhnen, die der amerikanische Kapitalismus auf ihn ausübte. Privat hatte er einiges von einem Hallodri, einem Schürzenjäger und gar einem Ausbeuter an sich – auch, was den kreativen Prozess betraf, war er durchaus nicht gegen Arbeitsteilung: Viele seiner Dramen und Gedichte haben Frauen aus seiner Umgebung mitverfasst, etwa die ihm treu ergebene Sekretärin Elisabeth HauptmannHauptmann, Elisabeth oder seine Gattin, die Schauspielerin Helene WeigelWeigel, Helene. Aus der Zusammenarbeit mit dem Komponisten Kurt WeillWeill, Kurt gingen gleichwohl bleibende Werke hervor wie die Dreigroschenoper oder Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny, die Frische, Entertainment und Kritik an der modernen Gesellschaft gleichzeitig boten. In seinen besten Stücken, etwa Mutter Courage, ging BrechtBrecht, Bertolt über die ideologische Lehre hinaus und schuf ein ergreifendes Bild zeitlosen menschlichen Leidens.6

 

Die Neue Sachlichkeit beeinflusste auch die eigentliche Epik, den Roman zumal, indem sie klassischen erzählerischen Autoren, die sich nun aber zunehmend darauf verlegten, soziale und psychische Belange zu erkunden, wieder zu mehr Geltung verhalf. In Frankreich las das Publikum die psychologischen Romane des Katholiken François MauriacMauriac, François, während die britischen Buchkonsumenten in John GalsworthysGalsworthy, John verwickelten Familiensagas Trost fanden. In Österreich legten Robert MusilMusil, Robert und Joseph RothRoth, Joseph eloquent die kulturellen Gründe für den Kollaps des Habsburgerreichs bloß, während in der Schweiz Hermann HesseHesse, Hermann die Psyche der männlichen Heranwachsenden ergründete. Der ambitionierteste dieser Autoren aber war der Deutsche Thomas MannMann, Thomas, der 1901 die Literaturszene mit seinem Romanerstling Die Buddenbrooks betrat, einer feinsinnigen Chronik des Verfalls einer Patrizierfamilie in LübeckLübeck, der Heimatstadt des Verfassers. In seinem Monumentalopus Der Zauberberg (1924) schuf er die Figur des Hans CastorpCastorp, Hans, eines jungen Wahrheitssuchers, der in einem Schweizer Sanatorium die Zukunft der europäischen Zivilisation mit Vertretern des westlichen Rationalismus und des östlichen Mystizismus debattiert. Während des Ersten Weltkriegs hatte Thomas MannMann, Thomas noch die Überlegenheit der deutschen Kultur gepriesen; dann aber stellte er sich, wenn auch widerwillig, hinter die Weimarer Republik, um sie gegen die Angriffe seitens der Rechten zu verteidigen.7

Und noch eine letzte großartige Geistesleistung ist für die Mitte der 1920er Jahre zu verzeichnen: die »Kritische Theorie« der Frankfurter Schule, eine bestechende Reflexion der gesellschaftlichen Lebensbedingungen des modernen Menschen. Der Soziologe Max HorkheimerHorkheimer, Max leitete das 1923 in Frankfurt am MainFrankfurt am Main gegründete Institut für Sozialforschung, das über mehrere Jahre eine Reihe herausragender Intellektueller anzog, darunter Theodor W. AdornoAdorno, Theodor W., Erich FrommFromm, Erich, Herbert MarcuseMarcuse, Herbert und Walter BenjaminBenjamin, Walter. Die großen sozialistischen Bewegungen der damaligen Zeit enttäuschten sie, die Rigidität des Kommunismus nicht minder als die Zaghaftigkeit der Sozialdemokratie. Also versuchten die Institutsmitglieder den marxistischen Impuls vom Dogmatismus zu befreien, indem sie sich bei anderen Gesellschaftsanalytikern theoretische Anregung holten, etwa bei Sigmund FreudFreud, Sigmund und Max WeberWeber, Max. Um einen überzeugenden Entwurf zur Durchsetzung von Emanzipation und Aufklärung zu liefern, entwickelten sie ihre »Kritische Theorie«, in der das Denken dialektisch um Aspekte wie ökonomische Ausbeutung und kulturelle Abstumpfung kreiste. Sie verglichen die verschiedenen ästhetischen Prätentionen des Modernismus miteinander und warfen der Kulturindustrie vor, sie betreibe eine neue Form der Massenunterjochung, diesmal durch seichtes Entertainment.8 Ihre Forschung vermittelte faszinierende Einblicke in die Ambivalenz der Moderne. Letztere habe durchaus positives Potenzial, nur müsse es durch die kritische Vernunft verstärkt werden.

Der antimodernistische Rückschlag

Durch die Geschwindigkeit der Veränderungen erschreckt, lehnten viele Europäer die Moderne ab und ebenso deren kulturellen Ausdruck, den Modernismus. Konservative religiöse Gruppen verabscheuten die Wissenschaft und vertrauten lieber weiter ihrer Heiligen Schrift. Handwerker hatten etwas gegen maschinelle Technik: Wurde ihre Geschicklichkeit und Kunstfertigkeit, auf die sie so stolz waren, überhaupt noch gebraucht? Kritiker des Kapitalismus brandmarkten die Industrialisierung und sehnten sich zurück nach einer stabileren, korporativen Ordnung. Psychologen zeigten sich besorgt darüber, wie die Urbanisierung Nervenkrankheiten fördere; das Leben auf dem Lande erschien ihnen gesünder. Angehörige der angegriffenen Eliten fürchteten den Aufstieg der Massen und verurteilten den Verlust von sowohl Hierarchie als auch Respekt. Idealisten attackierten den Siegeszug des Materialismus, Altruisten missbilligten die Ausbreitung des Hedonismus, Moralisten verdammten das Überhandnehmen der Unzüchtigkeit, und Sexisten beklagten den Vormarsch des Feminismus. Und die Verteidiger des »guten Geschmacks« missbilligten sowohl die Experimente der Avantgarde als auch die Krudität der Populärkultur. Dergestalt provoziert, schrieb die Schar der Traditionalisten dem Modernismus die Schuld am Zusammenbruch von Ordnung, Werten und Konventionen zu, ein Verfall, den für sie die Juden personifizierten. Diese Entwicklung könne nur ins Chaos führen und müsse um jeden Preis aufgehalten werden.1

Unter den führenden Köpfen des Antimodernismus waren viele Mitglieder des Klerus, denn man sah sich in der Defensive gegen den Anspruch der Wissenschaften, die Welt rein rational zu erklären. Das musste die Autorität der Bibel in Zweifel ziehen, schließlich stellten die neuen Theorien die Entstehung von Universum und Mensch wesentlich anders dar als das Erste Buch Mose. Besonders die katholische Kirche warnte in doktrinären Stellungnahmen vor der Ketzerei des Modernismus, denn sie fürchtete, die Anwendung der menschlichen Vernunft auf alles und jedes werde die Grundlage des Glaubens zerstören. Papst Pius X. Pius X.dekretierte 1910, alle Geistlichen und Religionslehrer sollten in einem Eid dem Modernismus abschwören. Ihm zufolge war »nicht das Glaubensgegenstand […], was entsprechend der Kultur eines jeden Zeitabschnittes besser und passender scheinen könnte«; vielmehr gelte allein »die absolute, unabänderliche Wahrheit, die seit Anfang von den Aposteln gepredigt wurde«. Die meisten Protestanten zeigten sich nicht ganz so verschlossen gegenüber der wissenschaftlichen Forschung, aber selbst viele Vertreter der Dialektischen Theologie empfahlen, sich wieder mehr am Wortlaut der Heiligen Schrift zu orientieren, ihn als eigentliche Offenbarung zu verstehen sowie zu den Lehren Martin LuthersLuther, Martin und anderer Reformatoren zurückzukehren. Diverse Sekten zeigten sich rationalistischem Denken noch feindlicher gesinnt: Sie schotteten sich von der zeitgenössischen Welt völlig ab oder warteten auf die Wiederkunft Christi, die laut ihrer Lehre unmittelbar bevorstehe.2 Gläubige, die sich modernen Betrachtungsweisen nicht gänzlich verschließen mochten, fühlten sich einem beständigen inneren Konflikt ausgesetzt – dem Dilemma, wie Wissenschaft und Religion in Einklang zu bringen seien.

Anders gingen die ebenfalls antimodernistischen Rassisten vor, denn sie bedienten sich auf ihre Weise durchaus der wissenschaftlichen Forschung. Wollten sie den traditionellen Antisemitismus neu rechtfertigen, zogen sie zur Untermauerung ihrer Vorurteile biologische Argumente jüngeren Datums heran. Einer der Pioniere dieser neuen Theoretisierung war der französische Adelige Arthur de GobineauGobineau, Arthur de, der die Überlegenheit der arischen Rasse gegenüber ihren schwarzen und gelben Rivalen feierte. Wenn man solches rassistisches Denken mit sozialdarwinistischen Theoremen kombinierte, etwa dem »Kampf ums Überleben«, ließ es sich zur Legitimation der imperialistischen Herrschaft der weißen Rasse über die gesamte übrige Welt nutzen. Anders als die religiöse Judenfeindlichkeit bot im wissenschaftlich basierten Antisemitismus die Konversion zum Christentum keinen Ausweg mehr, denn man hielt den rassischen Makel des »Jüdischseins« für untilgbar. Unter der Parole »Die Juden sind unser Unglück« popularisierte der nationalliberale deutsche Historiker Heinrich von TreitschkeTreitschke, Heinrich von dieses biologische Ressentiment in akademischen Kreisen.3 Der britische Wagner-Verehrer Houston Stewart ChamberlainChamberlain, Stewart präsentierte weitere Argumente für den Primat der arischen Rasse in seiner antisemitischen Schrift Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts. Nach dem Ersten Weltkrieg wagte sich unter Berufung auf derlei konfuse Vorstellungen eine transnational operierende Bewegung, die Eugenik propagierte, mit der Idee an die Öffentlichkeit, die rassische Erbgesundheit der Bevölkerung durch Sterilisationen zu verbessern.

Die führenden Vertreter des Kulturpessimismus kritisierten die modernistischen Experimente als Verfall der Kohärenz sowie anderer unverzichtbarer Normen und riefen nach einer Neubelebung der Tradition. Schon während der letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts hatte es solche Stimmen gegeben. In England verwarfen Kritiker wie Matthew ArnoldArnold, Matthew den viktorianischen Optimismus. In Deutschland missbilligte der Philosoph Friedrich NietzscheNietzsche, Friedrich die zeitgenössische Bildung und Erziehung als oberflächlich und verweichlichend – es bedürfe doch, meinte er, einer Rasse von »Übermenschen«, um die Herausforderungen der Zukunft zu meistern. Andere Intellektuelle, die zu einer gewissen Popularität gelangten, wie Paul de LagardeLagarde, Paul de und Julius LangbehnLangbehn, Julius, sahen den Auslöser für die Malaise der Moderne in der Emanzipation der Juden, die sie für Träger und Förderer der kulturellen Dekadenz hielten.4 Nach dem Krieg machte der Historiker Oswald SpenglerSpengler, Oswald solche Ideen noch populärer: In seinem Werk Der Untergang des Abendlandes argumentierte er, dass sich Aufstieg und Fall von Zivilisationen in der Geschichte immer wieder zyklisch abgelöst hätten, und empfahl als Rettung vor den Übeln der Moderne eine Fusion von Preußentum und Sozialismus. In Großbritannien gab der Lyriker T. S. EliotEliot, T. S. in seinem berühmten Langgedicht The Waste Land (dt. Das wüste Land) dem auch anderswo zu hörenden Skeptizismus, die europäische Kultur sei im Niedergang begriffen, einen komplexeren, elaborierteren Ausdruck. Der Philosoph Arnold ToynbeeToynbee, Arnold präsentierte eine Geschichte der Weltzivilisation mit dem gleichen pessimistischen Grundgedanken.

Viele Verfechter der Hochkultur beklagten die Vulgarität der Produkte, mit denen die Populärkultur die Massen versorgte. Ein in solch geistiger Armut gehaltenes Publikum, fanden sie, lasse sich leicht für finstere Zwecke manipulieren und instrumentalisieren. In seinem Beststeller aus dem Jahre 1896, Psychologie der Massen, warnte der französische Mediziner Gustave Le BonLe Bon, Gustave vor dem Verlust rationaler Kontrolle, der in großen Menschenansammlungen drohe, denn die »Kollektivseele« neige unweigerlich zum Primitivismus. Eine Generation später gab der spanische Philosoph José Ortega y GassetOrtega y Gasset, José solchen Ängsten in seinem Traktat Der Aufstand der Massen noch überzeugendere Gestalt. Der Kastilier Ortega, der in Deutschland studiert hatte, beklagte den Aufstieg des »Massenmenschen«, wozu er aber keineswegs allein den proletarischen Plebs, sondern auch die Beamten der Mittelklasse zählte. Die vermeintliche Gefahr, die von den Letzteren ausging, hatte schon der französische Philosoph Julien BendaBenda, Julien in seinem Essay über den Verrat der Intellektuellen behandelt. In seiner Polemik wider die »homogenisierte Massengesellschaft« resümierte OrtegaOrtega y Gasset, José eine Reihe kulturpessimistisch motivierter Befürchtungen, in der »Massenkultur« würden Normen und Standards verlorengehen, da sie zum Sentimentalen und Primitiven tendiere.5 Ironischerweise rechtfertigten diese neokonservativen Kritiker der »Vermassung« durch Amerikanisierung exakt jene Trends totalitärer Manipulation, gegen die sie zu kämpfen meinten.

Andere Denker wollten das von der Moderne angerichtete Chaos wieder in Ordnung bringen, indem sie irrationale oder autoritäre Lösungen vorschlugen. Der deutsche Philosoph Martin HeideggerHeidegger, Martin, der seine Gedankengänge bewusst verrätselte, verwarf die gesamte philosophische Tradition des Westens. Stattdessen wollte er das Denken zu einer existenziellen Reflexion hin verschoben wissen, wie er in seinem Hauptwerk Sein und Zeit (1927) dartat. Obschon einige seiner Thesen – etwa die Verantwortlichkeit des Menschen für seine eigene Existenz – durchaus diskutabel und nicht fest an seine übrigen Positionen gebunden sind, belegen andere Bemerkungen, so jene zur Technik oder zur Überlegenheit der Imagination über den Verstand, seine Neigung zu einem Antimodernismus, der dazu beigetragen hat, fortschrittliches Denken zu unterminieren. Ähnliches gilt für die Kommentare, die der brillante Rechtstheoretiker Carl SchmittSchmitt, Carl zur liberalen Demokratie abgab. Für ihn war entscheidend, dass der Staat Macht innehatte und jederzeit den Ausnahmezustand verhängen durfte; ferner erklärte er »Freund« und »Feind« zu grundlegenden Kategorien der Politik. Auf die Krise der Weimarer Republik angewandt, stärkte dieser rechtliche Dezisionismus die Exekutive, verkörpert im Präsidenten. Damit legitimierte er dessen Entscheidungsgewalt als den Beratungen des Parlaments übergeordnet und gestattete ihm die Außerkraftsetzung verfassungsmäßiger Rechte.6 Es verwundert kaum, dass beide Denker die Favoriten jener Intellektuellen wurden, die sich von der Moderne beunruhigt fühlten.

 

Während der 1920er lehnten neokonservative Kritiker sowohl den Liberalismus als auch den Kommunismus ab und suchten einen dritten Weg, der Nationalismus und Sozialismus vereinte. Stark beeinflusst wurden sie von dem französischen Schriftsteller Maurice BarrèsBarrès, Maurice: Er vertrat einen »Integralen Nationalismus«, verachtete die Dritte Republik und machte sich den biologischen Antisemitismus zu eigen. Sein Mitstreiter Charles MaurrasMaurras, Charles ging noch weiter, indem er eine antirepublikanische Bewegung namens Action Française gründete, die ganze Generationen von Intellektuellen mit rechter Ideologie versorgte. In Deutschland vertrat der Historiker Arthur Moeller van den BruckMoeller van den Bruck, Arthur die Idee einer nationalen Revolution, die durch die Gründung eines neuen Staates, genannt »Das Dritte Reich«, ins Werk gesetzt werden solle. Besagter Staat müsse sich hinter einem inspirierenden Führer versammeln – eine Vision, welche die Nazis nur zu gern übernahmen. Ein noch radikalerer Kampfbund für deutsche Kultur polemisierte gegen die rassische Degeneration, die der Aufstieg von »Untermenschen« bewirkt habe; er forderte eine kulturelle Wiedergeburt durch Rückbesinnung auf die ethnischen Wurzeln. Ähnliches trieb den österreichischen katholischen Philosophen Othmar SpannSpann, Othmar um, der für einen korporativen Staat eintrat, der wiederum eine Alternative zur gescheiterten Demokratie und zum blutrünstigen Bolschewismus gleichermaßen bieten sollte.7

Ironischerweise waren die meisten dieser Antimodernisten selbst nicht frei von den Tendenzen, die sie so verabscheuten, denn sie benutzten moderne Argumente und Methoden, um die Moderne zu bekämpfen. Zwar hassten Denker wie der französische Autor Pierre Drieu la RochelleDrieu La Rochelle, Pierre Szientismus, Industrialismus, Materialismus, Feminismus, Liberalismus und Sozialismus gleichermaßen; aber sie wussten auch, dass sie nicht einfach zu einer mythischen agrarischen Vergangenheit zurückkonnten, sondern Lösungen für ihre eigene Zeit finden mussten. Daher integrierten die Neokonservativen ausgewählte moderne Elemente in ihre Strategie. Beispielsweise rechtfertigten sie ihren rassistischen Antisemitismus quasi-wissenschaftlich, denn sie wollten möglichst viele überzeugen, damit eine rechte Massenbewegung entstand, die stark genug wäre, den vermeintlichen Verfall aufzuhalten und die jeweils eigene Nation zu revitalisieren. Zwar beklagten sie die ausufernde Experimentiersucht in den Künsten, doch in ihren Schriften verwendeten sie oft Avantgardestile, und sie benutzten ohne Scheu die neuen Medien, um ihre Ideen zu propagieren. Statt die Wiederherstellung einer romantisierten früheren Ordnung zu betreiben, kämpften sie für eine alternative Zukunft – und die sollte dynamisch, viril und begeisterungskräftig sein. Da ihnen Jugend, Aktion und Gefahr so viel galten, war ihre Revolte wider die Moderne durchzogen von Elementen genau dessen, wogegen sie anrannten.