Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert

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Mechanisierte Metzelei

Die »Fronterfahrung« hinterließ tiefe Narben bei den europäischen Intellektuellen, denn sie nahm ihnen die optimistische Illusion eines kontinuierlichen Fortschritts. Eine »verlorene Generation« von Dichtern versuchte das »Leid des Krieges« zu verstehen. Wilfred OwenOwen, Wilfred etwa offenbarte die Hohlheit der Phrase vom ›Tod in Ehren‹, indem er die Auswirkungen eines Gasangriffs schilderte:

Wenn auch du in erdrückenden Träumen liefest

Hinter dem Wagen, in den wir ihn warfen,

Und die verdrehten weißen Augen in seinem Gesicht sähest,

In seinem hängenden Gesicht, wie das eines Teufels, der der Sünde müde ist,

Wenn du hören könntest, wie bei jedem Stoß das Blut

Gurgelnd aus seinen schaumgefüllten Lungen läuft,

Ekelerregend wie der Krebs, bitter wie das Wiederkäuen

Von Auswurf, unheilbare Wunden auf unschuldigen Zungen,

Mein Freund, du erzähltest nicht mit so großer Lust

Kindern, die nach einem verzweifelten Ruhmesglanz dürsten,

Die alte Lüge: Dulce et decorum est

Pro patria mori.

Schockierende Erfahrungen dieser Art zerstörten den Glauben an eine wohlwollende Vorsehung, desillusionierten den patriotischen Idealismus und untergruben die militärische Disziplin. Viele der größten Talente der jungen Autorengeneration bezahlten ihren Patriotismus mit ihrem Leben, etwa die beiden Lyriker Rupert BrookeBrooke, Rupert und Walter FlexFlex, Walter. Einige überlebende Soldaten stellten nicht nur die Sinnhaftigkeit des Krieges in Frage, sondern sogar die Werte selbst, die sie angeblich zu verteidigen hatten. Die meisten Schriftsteller, darunter Erich Maria RemarqueRemarque, Erich Maria und Robert GravesGraves, Robert, richteten scharfe Anklagen gegen den Krieg, um vor einer Wiederholung solcher Gräuel zu warnen. Nationalistische Schreiber wie Ernst JüngerJünger, Ernst und Louis-Ferdinand CélineCéline, Louis-Ferdinand jedoch glorifizierten die Gefahr und Kameradschaft im Krieg als Gelegenheiten zu männlicher Bewährung.1

In solchen Zeugnissen erscheint der mechanisierte Krieg als alles verschlingende Macht, die früher unvorstellbare Ausmaße von Gewalt freisetzte. Dank dem technischen Fortschritt hatten Waffen wie schwere Artillerie, Maschinengewehre, Giftgase und Panzer eine viel zerstörerischere und tödlichere Wirkung als je zuvor. Nach dem Kampf ähnelte das Schlachtfeld daher immer öfter einer Mondlandschaft mit Schützengräben, Granatenkratern, Betonbunkern und Geschützstellungen. Darin gab es Häuser, von denen nur noch die Trümmer, Bäume, von denen nur noch die Stümpfe standen, und Tümpel voller Pferdekadaver. Rund siebzehn Millionen Menschen – so viele Opfer hatte noch nie ein Krieg gefordert – verloren ihr Leben, etwa gleich viele waren schwer verwundet, und andere erwiesen sich später als dermaßen traumatisiert, dass sie mitten in der Nacht schreiend aufwachten. Zwar geschah das Töten vielfach aus größerer Distanz, etwa bei Artilleriebombardements, durch Maschinengewehrsalven oder Gewehrschüsse, doch die Grabenkämpfe erforderten sehr wohl auch noch das Vorgehen Mann gegen Mann, wobei Handgranaten, Seitenwaffen und Bajonette zum Einsatz kamen. Nach Gefechten dieser Art verschwanden die meisten Illusionen um den individuellen Heroismus. Die Wirklichkeit des industriellen Krieges stellte sich als schmutzig, zerstörerisch und bedrückend heraus.2

Rückblickend scheint es immer noch erstaunlich, dass die Soldaten in solch einem mörderischen Krieg einfach weitermachten, trotz der nicht geringen Wahrscheinlichkeit, bei der Sache zu sterben. Tagebücher und Briefe von der Front geben uns aber Aufschluss über ihre Motive. Ursprünglich war es in der Tat ein hohes Maß an patriotischer Begeisterung, das britische Oberschichtangehörige bewog, sich zum freiwilligen Einsatz zu melden, und die deutschen Studenten dazu trieb, bei Langemarck in den Tod zu rennen. Bei den eingezogenen Arbeitern hat wohl eher Zwang dafür gesorgt, dass sie die Uniform anbehielten, denn ›Drückeberger‹ wurden hart bestraft, Deserteure sogar erschossen. Eine Weile spornte dann der Hass auf den jeweiligen Feind die Kampfmoral an, was sich auch in Schimpfnamen niederschlug: Bei den Briten hießen die Deutschen jerries, bei den Franzosen boches; die Deutschen wiederum nannten die Briten Tommies und die Franzosen Franzmänner oder Froschfresser.

Aber es gab auch Augenblicke der Waffenruhe, die man nutzte, um Verwundete aufzusammeln; manchmal, freilich seltener, kam es sogar zu Verbrüderungen, wenn man etwa gemeinsam Weihnachtslieder sang. In solchen Momenten ahnten die Beteiligten, dass man in einem Strudel gefangen war, aus dem es kein Entkommen gab. Eine noch stärkere Solidarität verband den Soldaten mit seinen eigenen Kameraden, denn die Einheiten wurden zu Überlebensgemeinschaften, in denen jeder Einzelne von allen anderen abhing. Des Weiteren spielte der fehlgeleitete Wunsch eine Rolle, seine Maskulinität zu beweisen; schließlich wollte man sich als junger Mann nicht vor anderen jungen Männern blamieren.3

Die moderne Form der Kriegsführung stellte auch an die Zivilisten neue Anforderungen, denn die Eskalation hin zum totalen Krieg involvierte die Heimatfront in viel höherem Ausmaß als zuvor. Die traditionelle Aufgabenverteilung legte ja fest, dass die Frauen die heimatlichen Herdfeuer am Brennen hielten, während nichtwehrpflichtige männliche Arbeitskräfte her- und bereitstellten, was die Kämpfenden draußen dringend brauchten. Aber im Ersten Weltkrieg setzte die britische Blockade auch Alte, Mütter und Kinder gnadenlos dem Hungertod aus, und deutsche U-Boote versenkten mit den Schiffen, die sie trafen, auch deren Mannschaften und Passagiere. Da die Regierungen nun Massenpolitik zu betreiben hatten, mussten sie sich erheblich mehr anstrengen, um ihre Wähler von der Gerechtigkeit ihrer Sache zu überzeugen und sie glauben zu machen, es gehe doch nur darum, das Vaterland bzw. la mère patrie zu verteidigen, obwohl ihre Kriegsziele eindeutig expansionistisch waren. Um den Kampfeswillen des Gegners zu brechen, versuchten sie ihn zusätzlich politisch zu destabilisieren. Dabei kleideten sie ihre nationalen Interessen in eine möglichst allgemeine Sprache und beriefen sich auf universell akzeptierte Werte, weil sie hofften, so vielleicht bei bestimmten Minderheiten in der Feindbevölkerung Anklang zu finden. Innerhalb dieses politischen Wettbewerbs hatten die Demokratien bessere Karten als die Monarchien, denn Erstere waren Konflikte gewohnt, während Letztere sich auf den Respekt ihrer Untertanen verlassen mussten.4

Dieser Waffengang markierte den Beginn der Selbstzerstörung Europas; in diesem Sinne war der Erste Weltkrieg »die große Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts«.5 Sie schleppte sich über viereinhalb Jahre hin und legte Häuser überall in Schutt und Asche – in Belgien, NordostfrankreichNordostfrankreich, auf dem BalkanBalkan, in Polen, Russland und im Baltikum. Wenn heute Felder gepflügt werden, auf denen einst der Grabenkrieg tobte, wie beispielsweise an der Somme, finden sich immer noch Leichenteile und Bruchstücke metallenen Militärgeräts. In VerdunVerdun erinnern verkrüppelte Bäume an die mörderischen Ereignisse, während auf FlandernsFlandern Feldern der rote Klatschmohn die Sinnlosigkeit des Blutvergießens symbolisiert. Indem sie Soldaten aus ihren Kolonien mobilisierten, erschütterten die Imperien den Mythos von der Überlegenheit der weißen Rasse. Außerdem brachten sie ihren Untergebenen die militärischen Fähigkeiten bei, mit denen die Letzteren die Ersteren schließlich verdrängen würden. Dass nun auch transozeanische Mächte mitwirkten, so JapanJapan und die Vereinigten StaatenVereinigte Staaten, markierte obendrein das Ende der Hegemonie Europas im Weltgeschehen, denn der Konflikt konnte nicht gelöst werden ohne Rückgriff auf Ressourcen und Einsatzkräfte von außerhalb des Kontinents. Die Kämpfe schließlich waren mit einer nie gekannten Gewaltsamkeit ausgetragen worden, weshalb sie ein Erbe des Hasses hinterließen, das die europäische Politik für die Lebenszeit der nächsten Generation vergiftete. Auch wenn der Waffengang diverse Neuerungen hervorbrachte, etwa ein paar technische Innovationen und medizinische Fortschritte, kann daher die Auswirkung des ersten modernen Krieges auf Europa gar nicht negativ genug eingeschätzt werden.

Die bolschewistische Revolution


LeninLenin, Wladimir I. als Revolutionär, 1920

Es war der 3. April 1917, Finnischer Bahnhof, PetrogradSankt Petersburg (Leningrad, Petrograd). Kurz vor Mitternacht entstieg Wladimir I. LeninLenin, Wladimir I. dem Zug, der ihn in die russische Hauptstadt gebracht hatte. Gerade aus dem Schweizer Exil zurück, lancierte der noch nicht sehr prominente Revolutionär gleich einen bewegenden Appell zu einer »weltweiten sozialistischen Revolution«. Am nächsten Tag publizierte die bolschewistische Parteizeitung Prawda LeninsLenin, Wladimir I. zehn »Aprilthesen«, in denen er seine radikalen Ideen darlegte. Keine Unterstützung mehr für den Krieg, forderte er darin, und da die bürgerliche Provisorische Regierung ihn fortführen wolle, sei ein Bruch mit ihr unvermeidlich. Es sei nun Zeit, überzugehen »zur zweiten Etappe, die die Macht in die Hände des Proletariats und der armen Schichten der Bauernschaft legen muss«. Da LeninLenin, Wladimir I. sehr wohl wusste, dass seine Kaderpartei nur eine kleine Minderheit innerhalb der breiten revolutionären Bewegung bildete, wies er der Propaganda eine entscheidende Bedeutung zu. Diese solle »Aufklärung der Massen darüber« leisten, »dass die Arbeiterdeputiertenräte die einzig mögliche Form der Revolutionsregierung sind«.1 Mit dem Instinkt eines begabten Politikers versprach er die Abschaffung der verhassten Polizei, des Militärdienstes und des Beamtentums, dazu die Enteignung und Aufteilung des Großgrundbesitzes sowie die Kontrolle der Arbeiter über die industrielle Produktion. Um eine verwirrte Linke in Schwung zu bringen, befürwortete dieses improvisierte Programm eine zweite, radikalere Revolution.

 

In zahllosen Artikeln und Reden hat LeninLenin, Wladimir I. seine Vision wiederholt und verbreitet. Ihre Attraktivität gewann sie daraus, dass sie die marxistische Theorie fundamental revidierte, indem sie nämlich versprach, der Traum von der klassenlosen Gesellschaft lasse sich sofort realisieren. Die Revolutionäre müssten situationsbezogen umdenken, befand LeninLenin, Wladimir I.: Statt zu warten, bis sich der bürgerliche Kapitalismus voll entwickelt habe, solle man doch geistesgegenwärtig die Anarchie, die dem Zusammenbruch des Zarismus gefolgt sei, für die eigenen Zwecke nutzen. Keineswegs dürfe man mit der liberalen Mittelschicht aus Unternehmern und Freiberuflichen kooperieren, sondern müsse danach trachten, die Macht in die Hände der seit langem leidenden Massen zu legen – der Arbeiter, Bauern und Soldaten –, die nunmehr vertreten würden durch basisdemokratische Räte, die »Sowjets«. Nachdem sie sich gedanklich vom historischen Determinismus befreit hatten, den Karl MarxMarx, Karl und Friedrich EngelsEngels, Friedrich seinerzeit verfochten, konnten wagemutige Revolutionäre wie Leo TrotzkiTrotzki, Leo und Josef StalinStalin, Josef nun den Versuch befürworten, das schwächste Glied in der imperialistischen Kette zu brechen. Dazu müsse man die Widersprüche nutzen, die sich in einem immer noch agrarisch geprägten, sich aber wirtschaftlich und technologisch rasch entwickelnden Staate wie eben Russland auftaten. In heroische Narrative gekleidet, zu denen John ReedsReed, John Erlebnisberichte ebenso beitrugen wie Leo TrotzkisTrotzki, Leo autobiografische Darstellungen und Sergei EisensteinsEisenstein, Sergei Filme, nahm diese voluntaristische Umdeutung einer strukturellen Theorie mythischen Charakter an und inspirierte während der folgenden Jahrzehnte viele Nachahmer auf der ganzen Welt.2

Sie wurde mit gewaltigen Hoffnungen entwickelt, diese revolutionäre Form der marxistischen Modernisierung, aber sie forderte enorme Anstrengungen und ungeheures menschliches Leid. Eigentlich wäre in Russland nun der liberale Kapitalismus an der Reihe gewesen, doch diese Etappe übersprang man komplett – dafür bedurfte es des Einsatzes von viel Zwang und Gewalt, was den emanzipatorischen Intentionen der Bewegung widersprach. Weder die personalen Überbleibsel der zaristischen Autokratie noch die bürgerlichen Reformer würden, das wusste man, freiwillig ihrem Anspruch auf Macht entsagen. Die weitgehend analphabetischen Bauern und die immer noch in halb ländlichen Umständen lebenden Industriearbeiter würden davon überzeugt werden müssen, das marxistische Projekt eines emanzipatorischen Egalitarismus zu unterstützen. Selbst wenn es der Regierung gelänge, ihrer allerschlimmsten Not abzuhelfen, sei dennoch eine fundamentale Neugestaltung der russischen Gesellschaft anzustreben. Unter den Mitgliedern der bolschewistischen Partei wuchs die Zahl derer, die sich darauf freuten, endlich einmal revolutionäre Macht innezuhaben, und die radikale Intelligenzija könnte sich, so die Erwartung, in ein soziales Projekt nie dagewesenen Ausmaßes einbringen. Aber indem man die – hier und da bereits beginnende – Entwicklung hin zu einem Kapitalismus und einer Demokratie westlichen Stils stoppte und damit eine ganze Entwicklungsphase übersprang, drängte eine Minderheit von Berufsrevolutionären ihre theoretische Sichtweise einem widerstrebenden Plebs auf, der auf solch einen drastischen Wandel nicht vorbereitet war.3

Im Laufe des letzten Jahrhunderts erfuhr die Russische Revolution höchst unterschiedliche Bewertungen; nach dem Ende der UdSSR aber, als eine abschließende Einschätzung möglich wurde, wurden ihre Apologeten weitgehend diskreditiert und ihre Kritiker überwiegend gerechtfertigt. Während der Glanzzeiten der Sowjetunion gehörte es zum patriotischen Ritual, die »Große Oktoberrevolution« zu feiern und jenes Kollektiv heroischer Übermenschen zu preisen, das sie unter der Führung LeninsLenin, Wladimir I. vollbracht hatte. Die Oktoberrevolution war der Gründungsmythos, auf den die Kommunisten sich auch später immer wieder zur Legitimation ihres Anspruchs beriefen: Ohne dieses Ereignis hätte es weder die Industrialisierung des Landes noch den Sieg im Zweiten Weltkrieg gegeben. Doch schon damals wiesen Skeptiker auf bedenkliche Phänomene hin: Medien und öffentliche Verlautbarungen zeigten sich nach einer Weile vom Personenkult um StalinStalin, Josef beherrscht; in Ungnade gefallene Altbolschewiken wurden aus Fotografien der Revolutionszeit wegretuschiert. Im Westen waren die Meinungen stets entlang den ideologischen Frontlinien gespalten; hoben Antikommunisten und Emigranten die repressiven Aspekte des Regimes hervor, wobei ihnen sogar antistalinistische Linksradikale zustimmten, waren viele Liberale eher bereit zu konzedieren, dass die Bolschewiken das Land tatsächlich modernisiert hatten, wenn auch mit Gewalt.4 Später stellte dann der Zusammenbruch der Sowjetunion die ursprüngliche Frage neu: War der Kommunismus ein notwendiger Schritt nach vorn oder ein beklagenswerter Irr- und Umweg, der eine zuträglichere Entwicklung verhindert hatte?

Abstrahiert man einmal von den Positionen der einzelnen Parteien, erscheinen die russischen Revolutionen und die Planungen zu diesen weitestgehend als ein Kampf zwischen konkurrierenden Entwürfen der Modernisierung. Während die Slawophilen die alte ländliche Dorfgemeinschaftsordnung bewahren wollten, sah selbst die zaristische Autokratie ein, dass man bestimmte Innovationen aus dem Westen importieren musste, namentlich industrielle Produktion, Sozialreformen und politische Repräsentation, wenn das Land wettbewerbsfähig werden sollte. Das Leid des Großen Krieges offenbarte jedoch, dass jene Umgestaltung nicht weit genug gediehen war, und das erweckte Unmut in breiten Kreisen der Bevölkerung. Die Februarrevolution eröffnete einen Weg zur liberalen Moderne, aber das Ungeschick ihrer Führer, die Russland im Krieg halten wollten, diskreditierte deren Bemühungen, eine neue Verfassung zu erarbeiten. So erweist sich die Oktoberrevolution als paradoxes Gebilde: zu einem Teil ein bolschewistischer Militärcoup, der ein mehr und mehr Richtung Diktatur mutierendes Regime installierte; zum anderen Teil ein aufrichtiger Versuch, den Unterdrückten mehr Macht zu verleihen. Nur weil die autoritäre Transformation von oben her und die Entwicklung der Mittelklasse zur Liberalität hin scheiterten, bekamen die Bolschewiken eine Chance, ihre eigene diktatorische Modernisierung durchzusetzen – von unten her.5

Späte Westernisierung

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts betrachteten ausländische Reisende, aber auch einheimische Beobachter Russland kritisch als die rückständigste der fünf Großmächte in Europa. Sogar Karl MarxMarx, Karl war skeptisch, was die Chancen einer Revolution in einer unterentwickelten Gesellschaft betraf; erst gegen Ende seines Lebens revidierte er diese Meinung. Tatsächlich rechtfertigten viele Anzeichen solch eine pessimistische Sichtweise. Das riesige Land wurde regiert von einem autokratischen Monarchen, genannt der Zar, den bei diesem Geschäft ein schwerfälliger Beamtenapparat, eine gewaltige Armee und eine unbarmherzige Geheimpolizei unterstützten. Die führende Schicht war die Aristokratie, die sich zum kaiserlichen Hof hin orientierte und von den Erträgen ihrer Ländereien lebte. Die Mehrheit des Volkes wohnte immer noch in Bauerndörfern; dort arbeitete man entweder für den Adel oder bebaute gemeinschaftlichen Bodenbesitz in einer Landkommune, einem sogenannten mir; diese kollektive Agrarform gelangte zu einiger Berühmtheit. Das religiöse Leben beherrschte die orthodoxe Kirche, eine zuverlässige Stütze der traditionellen Hierarchie. In den Mietskasernen der überfüllten Städte vegetierten Massen armer, analphabetischer Menschen vor sich hin, die von Tag zu Tag darum kämpften, irgendwie über die Runden zu kommen.1 Und doch entgingen dem, der solche Rückständigkeitsstereotype verbreitete, die sich mehrenden Zeichen einer raschen Entwicklung, die jenen schlafenden Riesen bald aufwecken sollten.

Ironischerweise kam der Anstoß von der Monarchie selbst, denn ausgerechnet sie nahm sich eine Innovation, eine »Modernisierung von oben« vor: Russland sollte der Konkurrenz mit dem Westen standhalten können. Die Niederlage im Krimkrieg 1856 hatte gezeigt, dass fundamentale Veränderungen notwendig waren, um die militärische Schlagkraft des Reiches wiederherzustellen. Die ersten Schritte erfolgten bald. 1861 befreite Zar Alexander II. Alexander II.23 Millionen Bauern aus der Leibeigenschaft. Sie konnten jetzt selbst Land erwerben und bestellen, statt feudaler Dienste waren ihnen nur noch Ablösezahlungen an den Grundherrn auferlegt. Das sollte den Agrarsektor dynamisieren. Drei Jahre später schuf der ZarAlexander II. lokale Selbstverwaltungseinheiten, sogenannte semstwa. In einem solchen semstwo saßen Adelige, Stadtbewohner und Bauern, die sich gemeinsam um die Verbesserung des Volksbildungs-, Gesundheits- und Verkehrswesens sowie um die Weiterentwicklung der landwirtschaftlichen Kultur kümmerten. 1874 führte Alexander II. Alexander II.die allgemeine Wehrpflicht ein; sie war nun Voraussetzung für die Staatsbürgerschaft. All diese vielversprechenden Reformen fanden jedoch ein abruptes Ende, als Mitglieder der Terrorgruppe »Narodnaja Wolja« (›Volkswille‹) den Zaren 1881 ermordeten.2 Da sie danach Revolten fürchteten, verweigerten sein Sohn Alexander III. Alexander III.und sein Enkel Nikolaus II. Nikolaus II.entschieden jedes weitere Zugeständnis.

Fortan konzentrierte sich der Reformeifer gänzlich auf den wirtschaftlichen Bereich, in dem Russland während der nächsten Jahrzehnte bedeutsame Fortschritte gelangen. So setzte sich Finanzminister Graf Sergej WitteWitte, Sergej für die rasche Industrialisierung des Landes ein und begann den Bau der Transsibirischen Eisenbahn, die das europäische mit dem asiatischen Russland verbinden sollte. Unter WittesWitte, Sergej Ägide wurden zahlreiche Großfabriken errichtet, die für ihren Betrieb die neuesten Produktionsmethoden aus Westeuropa importierten; dies tat die Schwerindustrie ebenso wie der Maschinenbau und die Textilfertigung. Mit einer durchschnittlichen Zuwachsrate von circa 5 Prozent jährlich wurde Russland rasch die viertgrößte Industriemacht in Europa.3 Ein anderer Wirtschaftsreformer, Premierminister Pjotr StolypinStolypin, Pjotr, trieb die Kommerzialisierung der Landwirtschaft voran. Dazu löste er das System der sogenannten obschtschiny auf, in denen die Bauern gemeindeeigenes, ihnen von der Dorfgenossenschaft zugeteiltes Land bearbeiteten. Stattdessen sollten diese Bauern Privatbesitzer ihres Bodens werden und ihn hauptsächlich für den eigenen Gewinn kultivieren, nicht mehr primär für das Gemeinwohl. Weiterhin wurden Großbetriebe eingerichtet, landwirtschaftliche Kooperative geschaffen und Techniken der Melioration (Bodenverbesserung) propagiert; auch konnten die Bauern nun Kredite erhalten. Diese Maßnahmen entfachten eine überraschende Dynamik, durch die Russland die Chance bekam, den Westen einzuholen.

Diese ökonomische Entwicklung schuf jedoch enorme soziale Belastungen, weil sie einen raschen Übergang von einem spätfeudalistischen zu einem sich eben erst formierenden kapitalistischen System erzwang. Die Industrialisierung verhalf dem Großbürgertum zu gewaltigen Vermögen. Plötzlich konnte die neureiche Bourgeoisie in der Zurschaustellung von Wohlsituiertheit mit der herrschenden Aristokratie wetteifern, etwa indem auch sie elegante Stadtpaläste bauen ließ. Die Expansion des Beamtenapparats und die Arbeit der semstwa ließ eine Schicht studierter Freiberufler entstehen, die mehr Mitsprache in öffentlichen Angelegenheiten reklamierte. Immer weitere Kreise hatten Zugang zu Bildung, freilich fand nicht jeder eine seinem Abschluss entsprechende Stellung. Gleichzeitig wucherten die Printmedien, in denen man sich mitteilen konnte – all diese Faktoren brachten eine kritische Intelligenzija hervor, die energisch auf radikalere Veränderungen innerhalb der Gesellschaft hinwirken wollte. Die Kommodifizierung des Agrarbereichs verhalf manchen grundbesitzenden Bauern zu großen Geschäftserfolgen; wer sich mit ihr schwertat, der zog in die Stadt, um dort sein Glück zu suchen. Wo riesige Fabriken entstanden, brauchte man auch jede Menge neue Arbeitskräfte. Rund zwei Millionen wurden fürs Erste rekrutiert, aus denen das russische Industrieproletariat hervorging.4 Jede einzelne dieser Gruppen hatte ihre eigene Vorstellung, wie das Russland der Zukunft auszusehen habe; leider vertrugen sich die Visionen der einen ganz und gar nicht mit den Szenarien der anderen.

 

Diese sozialen Spannungen entzündeten eine heftige intellektuelle Debatte um die Identität Russlands: Sollte es sich als eine unabhängige Alternative zu Europa begreifen? Oder nicht vielmehr als potenziellen Teil Europas? Auf der einen Seite vertraten die Verteidiger der religiösen Orthodoxie die Theorie, Moskau sei das Dritte Rom, nämlich der Nachfolger Konstantinopels, und habe sich daher östlich zu verorten. Die aufeinanderfolgenden Bewegungen der Slawophilen, Panslawisten und Neoslawisten zogen daraus ethnozentrische Konsequenzen; sie glaubten, Russland obliege die besondere Mission, alle slawischen Brüder in Osteuropa und auf dem BalkanBalkan zu vereinen. Diese antiwestlichen Gruppen glorifizierten die Romanow-Dynastie und feierten die Heiligkeit der orthodoxen Kirche sowie die Überlegenheit des russischen Lebensstils. Auf der anderen Seite standen zahlreiche westlich orientierte ReformerPeter I., »der Große« (Russland). Sie wollten die einheimische Ignoranz und Armut so rasch wie möglich überwinden, und das, meinten sie, gehe nur, wenn man Ideen, Stile und Praktiken aus dem Westen übernehme, wie es Peter der Große einst vorgemacht hatte. Leider war die Phalanx der ›Westernisierer‹ ihrerseits gespalten: hier die auf Evolution setzenden Freiberufler und Selbständigen, die liberalen Modellen einer kapitalistischen Demokratie nacheiferten, dort die Radikalen, die eher einen revolutionären Bruch mit der Vergangenheit befürworteten. Da diese Entwürfe miteinander inkompatibel waren, bestand durchaus keine Klarheit darüber, welchem der Wege Russland letztendlich folgen würde.5

Der Marxismus kam spät nach Russland, da dort ja schon konkurrierende Oppositionsströmungen existierten. Außerdem war das russische Industrieproletariat noch nicht sehr umfangreich. Oppositionsversuche hatte es diverse gegeben, etwa sporadische Bauernrevolten – sie bildeten schon eine Art Tradition –, das linkspopulistische Projekt der Narodniki, die das Volk agitierten, schließlich die Anarchisten mit ihrer Vorliebe für Terrorismus. Erst als diese Unternehmungen gescheitert waren, bekam die sozialistische Alternative einen Fuß in die Tür. 1883 gelang es dem marxistischen Theoretiker Georgi W. PlechanowPlechanow, Georgi, im Schweizer Exil eine Gruppe »für die Befreiung der Arbeit« zu gründen. Nachdem sich sozialistische Ideen in der Intelligenzija des Zarenreiches verbreitet hatten, konstituierte sich 1898 die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands (SDAPR), die sich der Zweiten Internationale anschloss. Nach der Jahrhundertwende spaltete sich diese radikale Gruppe. Der moderatere Flügel, geführt von Julius MartowMartow, Julius, wollte eine offene, demokratische Arbeiterpartei schaffen, die innerhalb der bestehenden Gesellschaft stark genug wäre, soziale Reformen voranzutreiben. Die extremere Fraktion, die Hardliner um LeninLenin, Wladimir I., folgten dagegen dessen Vorstellung, man müsse eine Kaderpartei aus engagierten Berufsrevolutionären formieren; anders sei die zaristische Repression nicht zu brechen. Als 1903 auf dem zweiten Parteitag der SDAPR die Radikalen die Majorität errangen, nannten sie sich fortan »Bolschewiki« (›Mehrheitler‹); für die Gemäßigten blieb entsprechend die Bezeichnung »Menschewiki« (›Minderheitler‹) übrig.6

Die Spannungen im Staate explodierten in der Revolution von 1905, die eine Art Generalprobe für den Sturz der zaristischen Autokratie war. Der Russisch-Japanische Krieg bescherte der Regierung empfindliche Niederlagen; sehr schadete ihrem Ruf, dass Port ArthurPort Arthur fiel und die Flotte des Monarchen die Seeschlacht bei TsushimaTsushima verlor. Nachrichten wie diese erregten die Öffentlichkeit bis zum Siedepunkt. Als eine Schar Protestler mit dem Priester Georgi GaponGapon, Georgi an der Spitze zum Winterpalast in Sankt PetersburgSankt Petersburg (Leningrad, Petrograd) zog, eröffneten die Wachen das Feuer und töteten Hunderte von Demonstranten. Dieser »Petersburger Blutsonntag« entfachte einen Flächenbrand: Bauernrevolten brachen aus, rund dreitausend adelige Landsitze wurden ein Raub der Flammen, und in vielen Städten kam es wiederholt zu Streiks. Gesteuert wurden die Unruhen von der Partei der Sozialrevolutionäre (SR genannt). Diese populistische Gruppierung hatte eine neue Institution erfunden – basisdemokratisch bestimmte revolutionäre Räte, die Sowjets (sovjeti); hier beteiligten sich auch die orthodoxen Marxisten. Die Regierung antwortete mit militärischer Gewalt und schaffte es schließlich, die Ordnung wiederherzustellen. Graf WitteWitte, Sergej jedoch und ähnlich reformgewillte Kreise der Öffentlichkeit erhöhten den Druck auf den ZarenNikolaus II. und ließen nicht locker, bis er endlich nachgab: Im Oktobermanifest dekretierte er die Einrichtung eines für ganz Russland zuständigen Parlaments, der »Staatsduma«. Diese Konzession minderte die umfassende Macht des Monarchen keineswegs, aber sie stellte ihm ein Beratergremium zur Seite, in dem über die richtige Politik diskutiert wurde und das er nicht ignorieren konnte.7

Während der letzten Vorkriegsjahre rangen drei Modernisierungsprogramme um Akzeptanz in der öffentlichen Meinung. Die Unterstützer der Autokratie – also die Aristokratie, der Beamtenapparat, die Armee und die Kirche – setzten auf ein einheimisches Konzept, das die militärische Schlagkraft des Landes verbessern sollte, ohne die traditionelle Hierarchie anzutasten. Die aufsteigende Klasse der Unternehmer und Freiberufler sowie die reformbereiten Adeligen begrüßten hingegen die Einrichtung der Duma. Mit deren Hilfe, glaubten sie, könne man die wirtschaftliche Entwicklung voranbringen, Rechtsstaatlichkeit erreichen und eine Regelung finden, wie man die Macht mit der Krone zu teilen habe. Anders als die angeschlagene Kaste der Aristokraten glaubten die meisten der neu zugelassenen Parteien optimistisch, nun sei der weitere gesellschaftliche Fortschritt gesichert, und das hieß für sie: der Weg hin zu einem liberalen System.8 Die ausgebeuteten Massen der landlosen Agrarkräfte, der Industriearbeiter und der Armen in den Städten schließlich hofften auf eine revolutionäre Erhebung, die endlich die sie knechtende Herrschaft hinwegfegen und ihnen ein besseres Leben ermöglichen würde. Während die Sozialrevolutionäre – aufs Land ausgerichtet, wie sie waren – eine Neuverteilung des Bodens forderten, schlugen die Menschewiki soziale Reformen vor, und die Bolschewiki propagierten kurzerhand eine echte Revolution.