Buch lesen: «Mephisto», Seite 4

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Frau von Herzfeld hatte Hendrik aufgefordert, noch eine Tasse Kaffee mit ihr zu trinken. Im leeren Lokal machte Vater Hansemann schon die Lampen aus. Für Hedda war das Halbdunkel vorteilhaft: ihr großes, [59] weiches Gesicht mit den sanften, klug beseelten Augen erschien nun jünger, oder doch alterslos. Dieses war nicht mehr das betrübte Antlitz der alternden, intellektuellen Frau. Die Wangen wirkten nicht mehr flaumig, sondern glatt. Das Lächeln um die orientalisch trägen, halbgeöffneten Lippen war nicht mehr ironisch, sondern fast verführerisch. Still und zärtlich schaute Frau von Herzfeld auf Hendrik Höfgen. Sie dachte nicht daran, daß sie selber reizvoller aussah als sonst; nur daß Hendriks Gesicht mit dem angestrengten Leidenszug an den Schläfen und dem edlen Kinn blaß und deutlich in der Dämmerung stand, merkte sie und genoß sie.

Hendrik hatte seine Ellenbogen auf den Tisch gestützt und die Fingerspitzen seiner ausgestreckten Hände gegeneinander gelegt. Diese anspruchsvolle Haltung leistete er sich wie einer, der besonders schöne, gotisch spitze Hände hat. Höfgens Hände waren aber keineswegs gotisch; vielmehr schienen sie den Leidenszug der Schläfen durch ihre unschöne Derbheit widerlegen zu wollen. Die Handrücken waren sehr breit und rötlich behaart; breit waren auch die ziemlich langen Finger, die in eckigen, nicht ganz sauberen Nägeln endigten. Gerade diese Nägel waren es wohl, die den Händen ihren unedlen, beinah unappetitlichen Charakter gaben. Sie schienen aus minderwertiger Substanz zu sein: bröckelig, spröde, ohne Glanz, ohne Form und Wölbung.

Diese Schadhaftigkeiten und Mängel aber verbarg die vorteilhafte Dämmerung. Hingegen ließ sie das träumerische Schielen der grünlichen Augen rätselhaft und reizend wirken.

„Woran denken Sie, Hendrik?” fragte die Herzfeld, nach langem Schweigen, mit einer innig gedämpften Stimme.

Ebenso leise antwortete Höfgen: „Ich denke daran – [60] daß Dora Martin unrecht hat …” Hedda ließ ihn, über seine aneinander gelegten Hände hinweg, ins Dunkel reden, ohne zu fragen oder zu widersprechen. „Ich werde mich nicht beweisen,” klagte er in die Dämmerung. „Ich habe nichts zu beweisen. Niemals werde ich erstklassig sein. Ich bin provinziell.” Er verstummte, preßte die Lippen aufeinander, als erschräke er selber vor den Erkenntnissen und Bekenntnissen, zu denen die sonderbare Stunde ihn brachte.

„Und weiter?” fragte Frau von Herzfeld mit sanftem Vorwurf. „Und weiter denken Sie nichts? Immer nur daran?” Da er stumm blieb, dachte sie: ‚Ja – dieses ist wohl das Einzige, was ihn wirklich beschäftigt. Das mit dem politischen Theater vorhin und sein Enthusiasmus für die Revolution – das war also auch nur Komödie.’ Diese Entdeckung erfüllte sie mit Enttäuschung; irgendwo fühlte sie sich aber auch auf eine merkwürdige Art von ihr befriedigt.

Er ließ mysteriös die Augen schillern; eine Antwort hatte er nicht.

„Merken Sie denn nicht, wie Sie die kleine Angelika quälen?” fragte die Frau neben ihm. „Spüren Sie denn nicht, daß Sie – andere leiden machen? Irgendwo müssen Sie doch für all das bezahlen.” Sie ließ den klagenden und suchenden Blick nicht von ihm. „Irgendwo müssen Sie doch büßen – und lieben.”

Nun war es ihr doch peinlich, daß sie dies gesagt hatte. Es war entschieden zu viel, sie hatte sich gehen lassen. Schnell entfernte sie ihr Gesicht von seinem. Zu ihrem Erstaunen bestrafte er sie durch kein böses Grinsen, durch kein höhnisches Wort. Vielmehr blieb sein Blick, schielend, schillernd und starr, ins Dunkel gerichtet, als suchte er dort Antwort auf dringliche Fragen, Stillung seiner Zweifel und das Bild einer Zukunft, deren eigentlicher Sinn es war, ihn groß zu machen.

[61]

II
DIE TANZSTUNDE

Für den nächsten Tag hatte Hendrik den Beginn der Probe auf halb zehn Uhr angesetzt. Pünktlich versammelte sich das Ensemble, so weit es in „Frühlings-Erwachen” beschäftigt war, teils auf der zugigen Bühne, teils im spärlich beleuchteten Parkett. Nachdem man etwa eine Viertelstunde lang gewartet hatte, entschloß sich Frau von Herzfeld dazu, Höfgen aus dem Bureau zu holen, wo er sich seit neun Uhr mit den Direktoren Schmitz und Kroge besprach.

Gleich bei seinem Eintritt waren sich alle darüber klar, daß er sich heute in der ungnädigsten Stimmung befand – der strahlende Causeur vom vorigen Abend war nicht wiederzuerkennen. Die Schultern auf nervöse Art hochgezogen, die Hände in den Hosentaschen vergraben, ging er eilig durch das Parkett und bat, mit einer vor Gereiztheit fast tonlosen Stimme, um ein Exemplar des Textbuches. „Ich habe meines zu Hause liegen lassen.” Er hatte einen bitter gekränkten Ton, der gleichsam allen Anwesenden einen leisen aber intensiven Vorwurf aus dem Umstand machte, daß er, Hendrik, beim Weggehen vergeßlich und zerstreut gewesen war. „Nun, darf ich bitten?” Es gelang ihm, zugleich wegwerfend gedämpft und sehr schneidend zu sprechen. „Hat denn niemand so ein Heftchen für mich?”

Die kleine Angelika reichte ihm das ihre. „Ich brauche mein Buch nicht mehr,” sagte sie errötend. „Ich kann meinen Text.” – Hendrik, anstatt sich zu bedanken, bemerkte kurz: „Das will ich auch hoffen!” – und wandte sich von ihr ab.

Über dem roten Seidenschal, den er statt eines Hemdes trug – oder der doch das Hemd, falls er ein solches [62] anhatte, versteckte – wirkte sein Gesicht besonders fahl. Das eine Auge schaute, unter halb gesenktem Lid, verächtlich und böse; vor dem anderen blitzte das Monokel. Als er mit einer plötzlich ganz hellen, durchdringenden und etwas klirrenden Kommandostimme rief: „Anfangen, Herrschaften!” – zuckte alles zusammen.

Er rannte im Zuschauerraum umher, während auf der Bühne gearbeitet wurde. Den Moritz Stiefel – die Rolle, welche er sich selber vorbehalten hatte – ließ er von Miklas, dem seine eigene Partie nur sehr wenig zu tun gab, markieren. Darin konnte man eine besondere Bosheit sehen, da der arme Miklas doch seinerseits den Moritz für sein Leben gerne gespielt hätte. Übrigens schien Höfgen, mit provokantem Hochmut, den Kollegen andeuten zu wollen, daß er seinerseits es keineswegs nötig habe, irgendetwas zu probieren oder vorzubereiten: er war der Regisseur, stand über dem Ganzen; seine Routine war so groß wie sein Genie, die eigene Rolle erledigte er nebenbei; erst auf der Generalprobe würde man es von ihm zu sehen und zu hören bekommen, wie Moritz Stiefel, der düstere Gymnasiast, der verzweifelt Liebende, der Selbstmörder aufzufassen und zu spielen sei.

Hingegen bekam man es jetzt schon von ihm gezeigt, was man aus dem Mädchen Wendla, dem Knaben Melchior, der mütterlichen Frau Gabor machen konnte. Hendrik sprang, mit einer überraschenden Behendigkeit, auf die Bühne, und wirklich: er verwandelte sich in das zarte Mädchen, das in den morgendlichen Garten tritt und die ganze Welt umarmen möchte, da sie an den Geliebten denkt; in den lebenshungrigen und stolzen Knaben; in die kluge, sorgenvolle Mutter. Seine Stimme konnte zärtlich, übermütig oder gedankenvoll klingen. Es gelang ihm, in diesem Augenblick kindlich jung auszusehen, im nächsten aber uralt. Er war ein glänzender Schauspieler.

[63] Wenn er es dem schönen Bonetti, der die Brauen halb verärgert halb achtungsvoll hochzog, oder der demütigen Angelika, die gegen Tränen kämpfte, eindrucksvoll demonstriert hatte, was man mit ihren Rollen eigentlich anfangen könnte, wenn man nur das Zeug dazu hätte, schnitt er eine müde und verächtliche Grimasse, klemmte sich das Monokel vors Auge und stieg ins Parkett zurück. Von dort aus erklärte, arrangierte und kritisierte er weiter. Keiner blieb verschont von seinen höhnisch herabsetzenden Worten, sogar Frau von Herzfeld wurde abgekanzelt – was sie mit einem verzerrt-ironischen Lächeln hinnahm –; die kleine Angelika hatte sich schon mehrmals tränenüberströmt in die Kulisse zurückgezogen; auf Bonettis Stirne zeigten sich Zornesadern; am tiefsten und leidenschaftlichsten aber ärgerte sich Hans Miklas, dessen Gesicht vor Zorn zu verfallen und schwarze Löcher zu bekommen schien.

Da alle litten, wurde Hendrik zusehends besserer Laune. Während der Mittagspause, in der Kantine, unterhielt er sich recht angeregt mit Frau von Herzfeld. Um halb drei Uhr ließ er die Gesellschaft wieder zur Arbeit antreten. Es war gegen halb vier Uhr, als der schöne Bonetti seinen angewiderten Zug um den Mund bekam, die Hände in die Hosentaschen steckte und gnauzend wie ein verwöhntes Kind sagte: „Ist denn noch nicht bald Schluß mit der Schinderei?” Daraufhin warf Höfgen ihm einen vernichtenden Blick zu aus seinen weichen und eiskalten Augen. Er sagte: „Wann aufgehört wird, das bestimme allein ich!” und hielt das schöne Kinn besonders hoch gereckt. Dem eingeschüchterten Ensemble zeigte er das Antlitz eines edlen und nervösen Tyrannen, welches aber gleichzeitig an das fahle Gesicht einer älteren, gereizten Gouvernante erinnert. Alle fürchteten sich; besonders der kleinen Angelika liefen süße und heftige Schauer über den [64] Rücken. Einige Sekunden lang verblieb man in demütiger Regungslosigkeit; das Aufatmen war hörbar, mit dem die verängstigte Gruppe auf die nächste, befreiende Geste ihres Herrn reagierte. Hendrik geruhte in die Hände zu klatschen und das Haupt mit einer gnädigen Munterkeit in den Nacken zu werfen. „Weitermachen, Herrschaften!” rief er, wobei seine Stimme den hellen Metallton hatte, dem fast niemand widerstehen konnte. „Wo haben wir unterbrochen?”

Man probierte folgsam die nächste Szene, war aber kaum mit ihr zu Ende gekommen, als Hendrik seinerseits einen Blick auf die Armbanduhr warf. Sie zeigte ein Viertel vor vier Uhr: während er es feststellte, erschrak er, und zwar so heftig, daß es weh im Magen tat. Ihm war eingefallen, daß er um vier Uhr eine Verabredung mit Juliette in seiner Wohnung hatte. Sein Lächeln war etwas krampfhaft, als er dem Ensemble mit hastig-freundlichen Worten mitteilte, nun müsse Schluß gemacht werden. Dem jungen Miklas, der sich ihm mürrischen Gesichtes nahte, um irgendeine Frage zu stellen, winkte er eilig ab. Er rannte durch das dunkle Parkett dem Ausgang zu; legte das steile Stück Weges, das zwischen dem Theaterportal und der Kantine lag, laufend zurück; langte atemlos im H. K. an; riß dort seinen braunen Ledermantel und den weichen grauen Hut vom Nagel, und war schon davon.

In den Überzieher schlüpfte er erst auf der Straße. Gleichzeitig dachte er nach. ‚Wenn ich zu Fuße gehe, werde ich ein paar Minuten zu spät kommen, so sehr ich mich auch beeile. Juliettchen wird mir einen furchtbaren Empfang bereiten. Mit dem Taxi käme ich zurecht, mit der Trambahn auch beinah noch. Aber ich habe nur ein Fünfmarkstück in der Tasche: dies ist das Geringste, was ich Juliette anbieten darf. An ein Taxi ist also überhaupt nicht zu denken; an die Trambahn [65] aber auch eigentlich nicht, denn es blieben nur vier Mark fünfundachtzig – was zu wenig für Juliettchen ist –, und auch diese Summe in kleiner Münze – was sie sich doch ein für alle Mal verbeten hat.’

Während er diese Überlegung anstellte, war er auch schon weitergetrabt; im Grunde hatte er wohl überhaupt nicht ernsthaft daran gedacht, sich einen Wagen oder auch nur die Trambahn zu leisten; denn über die angebrochenen fünf Mark würde seine Freundin sich wirklich geärgert haben, während ihr scheinbar so heftiger Zorn über seine kleine Verspätung zu den beinah unvermeidlichen Riten ihres Zusammenseins gehörte.

Der Wintertag war klar und sehr kalt; Hendrik fror in seinem leichten Ledermantel, den zu schließen er obendrein noch vergessen hatte. Besonders an den Händen und Füßen spürte er den Frost: Handschuhe besaß er nicht, und die sandalenartigen Spangenschuhe, die seine Fußbekleidung ausmachten, waren entschieden nicht das Passende für die Jahreszeit. Um wärmer zu werden und um Zeit zu sparen, machte er große Schritte, die eine Neigung hatten, in recht kuriose Sprünge und Hüpfer auszuarten. Viele Passanten schauten dem merkwürdigen jungen Mann mit Lächeln oder mit Mißbilligung nach: auf seinem leichten und originellen Schuhwerk bewegte er sich mit einer Behendigkeit, die halb närrischen, halb göttlichen Charakters schien. Übrigens sprang und hüpfte er nicht nur, sondern sang auch dazu, und zwar abwechselnd Mozart-Melodien und Operettenschlager. Singen und Hüpfen begleitete der Laufende mit allerlei Gesten, wie man sie auch nicht alle Tage sieht. Jetzt eben spielte er Fangball mit einem Veilchenstrauß. Diesen hatte er im obersten Knopfloch seines Mantels befestigt gefunden, er mußte das Geschenk einer Verehrerin aus dem Ensemble sein, wahrscheinlich kam die zarte Gabe von der kleinen Angelika.

[66] Hendrik dachte an das kurzsichtige und liebenswürdige Geschöpf, während er, springend und singend, auf offener Straße zum Amüsement und Ärgernis der Leute wurde. Merkte er nicht, wie die eine Bürgersdame die andere anstieß, um ihr zuzuraunen: „Das muß doch einer vom Theater sein?!” Woraufhin die andere kicherte: „Freilich – das ist doch der, der immer im Künstlertheater mitspielt – dieser Höfgen. Sehen Sie doch nur, Liebste, was er für ulkige Bewegungen macht und wie er immerzu vor sich hinplappert!” Sie lachten Beide, und auf der anderen Straßenseite lachten ein paar halbwüchsige Jungen mit. Aber Hendrik – obwohl doch aus Eitelkeit und von Berufes wegen darin geübt, die Reaktion der Menschen auf jede seiner Gesten zu beachten und zu registrieren – bemerkte diesmal weder die Damen noch die Gymnasiasten. Sein beschwingter Lauf durch die Kälte und die Vorfreude auf das Zusammensein mit Juliette hatten ihn in einen Zustand leichter Berauschtheit versetzt. Wie selten wurden so enthusiastische Stimmungen ihm jetzt noch zu Teil! Früher – ja, früher war er oft, vielleicht beinahe immer so gewesen: so beflügelt und so selbstvergessen. Als er, zwanzigjährig, bei der Wanderbühne Väter und reife Helden spielte: damals hatte er lustige Tage gekannt. Damals waren sein Übermut, seine Verspieltheit stärker gewesen als sein Ehrgeiz – es war lange her, wenn auch vielleicht so unendlich lange noch nicht, wie es ihm jetzt meistens erscheinen wollte. Hatte er sich wirklich so verändert? War er nicht noch immer übermütig und verspielt? Auch jetzt, in dieser guten Stunde, wußte er nichts mehr vom Ehrgeiz. Wären die Begriffe des Ehrgeizes, der großen Karriere ihm jetzt gegenwärtig geworden, er hätte über sie nur lachen können. Gegenwärtig aber war ihm jetzt nur: daß die Luft frisch und durchsonnt, und daß er selber noch jung war; weiterhin: daß er lief; daß sein [67] Schal flatterte; daß er nun gleich bei seiner Liebsten sein würde.

Die schöne Stimmung ließ ihn wohlwollend werden, zum Beispiel gegenüber Angelika, die er so häufig demütigte und kränkte. Nun dachte er an sie beinah zärtlich. ‚Ein liebes Kind, ein sehr liebes Kind, ich will ihr heute abend irgendwas schenken, damit sie sich auch einmal freut. Könnte man nicht mit Angelika zusammenleben? Ja, das wäre ein bequemes Dasein – ein viel bequemeres als das mit meiner Juliette.’ – Bei allem ergriffenen Wohlwollen des Augenblicks mußte er nun doch höhnisch kichern, weil er Angelika mit Juliette verglichen hatte – die arme kleine Siebert mit der großen Juliette, die auf eine schreckliche und genaue Art das war, was er brauchte. Für solchen Frevel bat er Juliette innerlich um Verzeihung, während er vor seiner Haustür angelangt war.

Die altmodische Villa, in deren Erdgeschoß er ein Zimmer bewohnte, lag in einer jener stillen Straßen, die vor dreißig Jahren zu den vornehmsten der Stadt gehört hatten. Mit der Inflation waren die meisten Bewohner der feinen Gegend arm geworden; ihre Villen mit den vielen Zinnen und Giebeln sahen schon recht heruntergekommen aus – verwahrlost, wie die großen Gärten, die sie umgaben. Auch Frau Konsul Mönkeberg, der Hendrik monatlich vierzig Mark für eine geräumige Stube bezahlte, fand sich in bedrängten Verhältnissen. Trotzdem war sie eine tadellose, stolze alte Dame geblieben, die ihre sonderbaren Kostüme mit Puffärmeln und Spitzenumhang würdevoll trug, auf deren glatten Scheitel niemals ein Haar sich widerspenstig zu zeigen wagte und um deren schmale Lippen ironische aber nicht bittere Fältchen spielten. Die Witwe Mönkeberg war überlegen genug, an den Exzentritäten und diversen Unartigkeiten ihres Mieters keinen Anstoß zu nehmen, sondern ihnen eher die [68] drolligen Seiten abzugewinnen. Im Kreise ihrer Freundinnen – alten Damen von ähnlicher Feinheit, ähnlicher Armut und fast dem gleichen Aussehen wie sie – pflegte sie mit trockenem Humor von den Narreteien ihres Untermieters zu berichten. „Manchmal springt er auf einem Bein die Treppe hinauf,” sagte sie, und lächelte beinahe wehmütig. „Und wenn er spazierengeht, setzt er sich oft plötzlich aufs Trottoir – denken Sie sich doch: auf das schmutzige Pflaster weil er fürchtet, er müsse sonst stolpern und hinfallen.” Während alle Damen ihre grauen Häupter schüttelten und, halb schockiert halb amüsiert, mit den Mantillen raschelten, fügte die Konsulin versöhnlich hinzu: „Was wollen Sie, meine Lieben? Ein Künstler … Vielleicht ein bedeutender Künstler –”, sprach die alte Patrizierin langsam, und bewegte die hageren, weißen Finger, an denen sie seit zehn Jahren keine Ringe mehr trug, auf der verblichenen Spitzendecke des Teetisches.

Hendrik fühlte sich unsicher in der Gegenwart der Dame Mönkeberg; ihre vornehme Herkunft und Vergangenheit schüchterten ihn ein. So war es ihm auch jetzt durchaus nicht angenehm, der feinen Alten im Vestibül zu begegnen, nachdem er gerade die Haustür so krachend hinter sich ins Schloß geworfen hatte. Angesichts ihrer imposanten Haltung nahm auch er sich ein wenig zusammen; zupfte sich den roten Seidenschal zurecht und klemmte sich das Monokel vors Auge. „Guten Abend, gnädige Frau, wie geht es Ihnen?” sprach er mit der singenden Stimme, die sich am Ende der Höflichkeitsfloskel nicht hob, wodurch der formelhaft konventionelle und anmutig leere Charakter des Satzes betont ward. Die artige kleine Anrede begleitete er mit einer leichten Verneigung, die, bei aller eleganten Nachlässigkeit, doch beinah höfischen Stil hatte.

Die Witwe Mönkeberg lächelte nicht; nur die Fältchen einer erfahrenen Ironie spielten ihr ein wenig [69] stärker um Augen und schmale Lippen, als sie erwiderte: „Beeilen Sie sich, lieber Herr Höfgen! Ihre – Lehrerin erwartet Sie schon seit einer Viertelstunde.” – Die boshafte kleine Pause, welche Frau Mönkeberg vor dem Wort „Lehrerin” machte, bewirkte, daß Hendrik sein Gesicht heiß werden fühlte. ‚Sicher bin ich ganz rot geworden,’ dachte er, ärgerlich und beschämt. ‚Aber sie kann es wohl hier im Halbdunkel nicht bemerken,’ versuchte er, sich selbst zu beruhigen, während er sich mit der vollendeten Anmut eines spanischen Granden zurückzog.

„Ich danke Ihnen, gnädige Frau.” Er hatte die Türe zu seinem Zimmer geöffnet.

Im Raume herrschte ein rosiges Halbdunkel; es brannte nur die mit buntem Seidentuch verhüllte Lampe auf dem niedrigen, runden Tisch neben dem Schlafsofa. In die farbige Dämmerung hinein rief Hendrik Höfgen mit einer ganz kleinen, demütigen, etwas zitternden Stimme:

„Prinzessin Tebab, wo bist du?”

Aus einer dunklen Ecke antwortete ihm ein tiefes, grollendes Organ: „Hier, du Schwein – wo denn sonst?”

„Oh – danke –,” sagte, immer noch sehr leise, Hendrik, der mit gesenktem Haupt bei der Türe stehen geblieben war. „Ja … jetzt kann ich dich sehen … Ich bin froh, daß ich dich sehen kann …”

„Wieviel Uhr ist es?” schrie die Frau aus der Ecke. Hendrik versetzte bebend: „Ungefähr vier Uhr – denke ich.”

„Ungefähr vier Uhr! Ungefähr vier Uhr!” höhnte die böse Person, die immer noch im Schatten unsichtbar blieb. „Ist ja drollig! Ist ja ausgezeichnet!” – Sie sprach mit einem stark norddeutschen Akzent. Ihre Stimme war ausgeschrien, wie die eines Matrosen, der sehr viel säuft, raucht und schimpft. – „Es ist ein Viertel [70] nach vier Uhr,” stellte sie fest, plötzlich unheimlich leise. Mit derselben schauerlichen Gedämpftheit, die nichts Gutes verhieß, forderte sie ihn auf: „Willst du nicht eben mal ein bißchen näher an mich ran kommen, Heinz – nur ein ganz klein bißchen! Aber erst mach’ das Licht an!”

Unter der Anrede „Heinz” zuckte Hendrik zusammen, wie unter dem ersten Schlag. Er gestattete es keinem Menschen, auch seiner Mutter nicht, ihn so zu nennen: nur Juliette durfte es wagen. Außer ihr wußte es wohl niemand hier in der Stadt, daß sein eigentlicher Vorname Heinz war – ach, in welcher süßen und schwachen Stunde hatte er es ihr anvertraut? Heinz: das war der Name, mit dem alle ihn angeredet hatten, bis zu seinem achtzehnten Jahr. Erst als er sich darüber klar geworden war, daß er Schauspieler und berühmt werden wollte, hatte er sich den gewählteren „Hendrik” zugelegt. Wie schwer war es bei der Familie durchzusetzen gewesen, daß man sich an ihn gewöhnte und ihn ernst nahm – diesen ausgefallenen, anspruchsvollen „Hendrik”! Wie viele Briefe, die mit „Mein lieber Heinz!” begannen, hatte man unbeantwortet gelassen – bis auch die Mutter Bella und die Schwester Josy sich endlich zu der neuen Anrede bequemten. Mit Jugendfreunden, die hartnäckig bei „Heinz” blieben, hatte man den Verkehr rigoros abgebrochen; übrigens legte man ohnedies keinen Wert auf den Umgang mit Kameraden, die peinliche Anekdoten aus einer schalen Vergangenheit mit dem wiehernden Gelächter eines taktlosen Humors hervorzuholen liebten. Heinz war gestorben; Hendrik sollte groß werden. – Der junge Schauspieler Höfgen kämpfte einen erbitterten Kampf mit den Agenturen, den Theaterdirektoren und Feuilletonredaktionen darum, daß man seinen frei erfundenen, präziösen Vornamen richtig schriebe. Er zitterte vor Zorn und Gekränktheit, wenn [71] er sich auf einem Programm oder in einer Rezension als „Henrik” aufgeführt fand. Das kleine „d” in der Mitte seines selbstgewählten Namens war für ihn ein Buchstabe von ganz besonderer, magischer Bedeutung: Wenn er es erst erreicht haben würde, daß ausnahmslos alle Welt ihn als „Hendrik” anerkannte, – dann war er am Ziel, ein gemachter Mann.

Eine so dominierende Rolle spielte der Name – der mehr als eine Personalbezeichnung, nämlich eine Aufgabe und Verpflichtung war – in Hendrik Höfgens ehrgeizigen Gedanken. Trotzdem duldete er es nun, daß Juliette aus ihrer finsteren Ecke ihn drohend anredete mit dem abgelegten und verhaßten „Heinz”.

Er gehorchte ihren beiden Befehlen; bewegte den Lichtschalter, so daß plötzlich eine grelle Helligkeit ihm die Augen blendete, und machte dann, die Stirne noch immer gesenkt, ein paar Schritte auf Juliette zu. Einen Meter entfernt von ihr blieb er stehen; auch dieses aber war ihm nicht gestattet. Sie murmelte mit einer heiseren und höchst beunruhigenden Freundlichkeit – wobei ihre Zähne zusammengebissen blieben: „Komm doch näher, mein Junge!”

Da er sich nicht von der Stelle bewegte, lockte sie ihn, wie einen Hund, den man mit Schmeicheltönen an sich heranholt, um dann umso grausamer zu strafen: „Nur näher, mein Schöner! Ganz nahe! Nur keine Angst!” Er blieb immer noch bewegungslos, immer noch mit dem geneigten Gesicht; Schultern und Arme hingen ihm schlaff nach vorne, um Schläfen und Augenbrauen trat ein leidender, gespannter Zug hervor; die geblähten Nüstern schnupperten ein penetrant süßes und gemeines Parfüm, das sich mit einem anderen, noch wilderen, aber durchaus nicht süßen Geruch – der Ausdünstung eines Körpers – auf erregende und peinigende Art vermischte.

Da das Mädchen durch seine wehleidige und edle [72] Positur auf die Dauer gelangweilt und irritiert wurde, ließ sie plötzlich eine Zornesstimme hören, die wie heiseres Brüllen aus dem Urwald klang: „Steh doch nicht da, als ob du dir in die Hosen gemacht hättest! Kopf hoch, Mensch!” – Majestätischer fügte sie hinzu: „Blicke mir ins Gesicht!”

Er hob langsam den Kopf, während sich der Leidenszug um seine Schläfen vertiefte. Im fahlen Antlitz waren seine grün-blauen Augen erweitert – vor Wonne oder vor Angst. Sprachlos starrte er auf Prinzessin Tebab, seine Schwarze Venus.

Negerin war sie nur von der Mutter her – ihr Vater war ein Hamburger Ingenieur gewesen aber die dunkle Rasse hatte sich als stärker erwiesen als die helle: sie sah nicht nach „Halbblut” aus, sondern beinah nach Vollblut. Die Farbe ihrer rauhen, stellenweis etwas rissigen Haut war dunkelbraun, an manchen Partien – zum Beispiel auf der niedrigen, gewölbten Stirne und auf den schmalen, sehnigen Handrücken – fast schwarz. Heller gefärbt hatte die Natur nur das Innere ihrer Hände; während sie selbst, mittels Auflegen von Schminke, die Farbe ihrer oberen Wangenhälften eigenwillig verändert hatte: über den starken, brutal geformten Backenknochen lag das künstliche Hellrot wie ein hektischer Schimmer. Auch die Augenpartie war kosmetisch bearbeitet: die Brauen abrasiert und durch schmale Kohlestriche ersetzt; die Wimpern künstlich verlängert; die Schatten auf dem oberen Lid, und bis hinauf zu den schmalen Brauen, ins rötlich-Blaue vertieft. Hingegen hatte sie den wulstigen Lippen die natürliche Farbe gelassen. Über den blendenden Zahnreihen, die sie beim Lachen wie beim Schimpfen entblößte, erschienen sie rauh, wie das Fleisch der Hände und des Halses, und von einem dunklen Violett, gegen dessen trüben Ton das gesunde Rot des Zahnfleisches und der Zunge heftig kontrastierte. [73] In ihrem Gesicht, das von den beweglichen, grausamen und gescheiten Augen und von den blitzenden Zähnen beherrscht war, bemerkte man zunächst gar nicht die Nase; wie flach und eingedrückt sie war, erkannte man erst bei genauerem Hinschauen. Diese Nase schien in der Tat so gut wie nicht vorhanden; sie wirkte nicht wie eine Erhöhung inmitten der wüsten und auf eine schlimme Art attraktiven Maske; eher wie eine Vertiefung.

Für Juliettens höchst barbarisches Haupt hätte man sich als Hintergrund eine Urwaldlandschaft gewünscht, statt dieser bürgerlichen Stube mit ihren Plüschmöbeln, Nippesfiguren und seidenen Lampenschirmen. Übrigens enttäuschte nicht nur die Dekoration, von der dieses Haupt sich abhob, sondern auch die Krönung des Hauptes selber: das Haar. Es war keineswegs die krause, schwarze Mähne, die man zu dieser Stirne, diesen Lippen passend gefunden hätte; vielmehr überraschte es durch Glattheit und eine mattblonde Färbung. Die Frisur war einfach; der Scheitel in der Mitte gezogen. Die dunkle Dame gefiel sich in der Behauptung, so seien ihre Haare immer gewesen, niemals habe sie etwas an ihnen verändert: ihre Farbe und Beschaffenheit habe sie vom Vater, dem Ingenieur Martens aus Hamburg, geerbt.

Daß ein Mann dieses Namens und dieses Berufes ihr Vater gewesen war, schien festzustehen, oder wurde doch von niemandem bestritten. Übrigens war Martens seit Jahren tot. Der arbeitsreiche Aufenthalt im Inneren Afrikas war ihm nicht bekommen. Geschwächt vom Malariafieber, das Herz ruiniert von Chininspritzen und von alkoholischen Exzessen, war er nach Hamburg zurückgekehrt, um dort, eilig und ohne viel Aufsehen zu erregen, zu sterben. Das Negermädchen, das seine Geliebte gewesen war, ließ er am Kongo; ebenso das dunkelhäutige kleine Geschöpf, dessen Vater er [74] sein mochte. Die Nachricht vom Tode des Ingenieurs drang nicht bis nach Afrika. Nach geraumer Zeit verlor Juliette auch noch die Mutter; nun machte sie sich auf in das sehr ferne, sicherlich sehr wundervolle Deutschland. Sie hoffte, dort von der väterlichen Liebe lanciert zu werden. Indessen konnte man ihr nicht einmal das Grab des Ingenieurs zeigen; die Gebeine ihres armen Vaters waren verloren gegangen, wie sein Andenken.

Ein Glück für die junge Juliette, daß sie leidlich Steptanzen konnte: sie hatte es noch bei den Ihren gelernt. So gelang es ihr, bald eine Anstellung in einem der besten Etablissements von St. Pauli zu finden. Dort hätte sie sich sicherlich halten können, und vielleicht wäre der gescheiten und energischen Person ein ehrenvoller Aufstieg beschieden gewesen – hätten nur ihr heftiges Temperament und eine unbeherrschbare Neigung für starke Getränke ihr nicht den allerfatalsten Strich durch die Rechnung gemacht. Sie liebte es und konnte es gar nicht lassen, mit der Reitpeitsche auf diejenigen ihrer Bekannten und Kollegen loszugehen, mit denen sie gerade nicht in allen Stücken der gleichen Meinung oder Stimmung war –: eine Angewohnheit, über die man in St. Pauli-Kreisen sich zunächst wie über eine humoristische und niedliche Nuance ergötzte, die aber auf die Dauer gar zu originell und übrigens einfach störend wurde.

Juliette bekam ihre Entlassung, und erlebte nun, in unbesorgt geschwindem Tempo, das, was man gemeinhin „von-Stufe-zu-Stufe-sinken” nennt; das heißt: sie mußte ihre Tanzkünste in immer kleineren, immer übler beleumundeten Lokalen zeigen. Ihre Einnahmen aus solcher Tätigkeit wurden nach und nach so gering, daß sie sich bald gezwungen sah, ihnen durch Nebenverdienste aufzuhelfen. Welche Beschäftigung kam in Frage, wenn nicht die des abendlichen Spaziergangs [75] auf der Reeperbahn und in den benachbarten Gassen? Ihr schöner, dunkler Körper, den sie im aufrechten, stolzen, ja fast hochmütigen Gang über das Trottoir bewegte, war wahrhaftig nicht das schlechteste Stück von diesem ungeheuren Ausverkauf der Leiber, der sich hier allnächtlich den durchreisenden Matrosen und den armen wie den ehrenwerten Männern der Stadt Hamburg bot.

Der Schauspieler Höfgen übrigens hatte die Bekanntschaft seiner Schwarzen Venus keineswegs auf dem Strich gemacht; vielmehr in der engen, vom Tabaksqualm und vom Lärm besoffener Schiffer erfüllten Kneipe, wo sie, für eine Abendgage von drei Mark, ihre dunklen, glatten Glieder und ihre kunstvoll klappernden Steps zur Schau stellte. Auf dem Programm des finsteren Kabaretts war die schwarze Tänzerin Juliette Martens als „Prinzessin Tebab” angezeigt – ein Name, den sie nur als Künstlerin führen durfte, auf den sie aber auch im zivilen Leben Anspruch zu haben behauptete. Durfte man ihren Angaben Glauben schenken, so war ihre verstorbene Mutter, die verlassene Geliebte des Hamburger Ingenieurs, von rein fürstlichem Blute gewesen: Tochter eines veritablen, unermeßlich reichen, großmütigen und leider in relativ zartem Alter von seinen Feinden verspeisten Negerkönigs.

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