Buch lesen: «Streben nach der Erkenntnis», Seite 2

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„Ich habe mit Marion und Helga gesprochen. Sie erzählten mir, dass es wieder sehr lustig und hübsch war.“

„Na, und? Mutti – ich bin dein Sohn. Erzähle mir jetzt, was die erzählt haben!“

„Ich gebe ja zu, ich weiß, dass dir die Janine sehr gut gefällt und du sie küssen musstest, um deine Murmel wieder einzulösen. Ich hätte gar nicht gedacht, Klausmann, dass du schon mit deinen acht Jahren so interessiert an Mädchen bist.“ Natürlich wurde ich wieder ziemlich unsicher und korrigierte. „Ich bin nicht acht, sondern vor einem Monat neun geworden. Das müsstest du als meine Mutti wissen. Du findest wohl unsere Spiele schlecht?“

„Nein, nein – ganz im Gegenteil. Ich bin nur erstaunt, dass du kleines Kerlchen bei den jungen Damen schon so begehrt bist. War es nun sehr aufregend, als du die hübsche Janine auf den Mund geküsst hast?“ Jetzt löste sich plötzlich meine Verspannung, ich wachte auf und schwatzte mit hohem Mitteilungsbedürfnis plötzlich los. „Weißt du, Mutti, das ist ja was ganz Besonderes, wenn man ein Mädchen so berührt, weißt du? Verstehst du das überhaupt? Ich meine, warum ist das denn so anders, als wenn ich den Lothar berühre? In dieser Beziehung interessiert der mich überhaupt nicht, auch, wenn ich mit Jungs zusammen bin, will ich nur wissen, was wir zusammen spielen, wie Armbrustschießen, Räuber und Gendarm oder Katapultschießen. Ist denn das richtig? Woher kommt denn, verdammt nochmal, dieser Unterschied?“

„Liebster Klaus, das ist auf alle Fälle mehr als richtig – es ist nämlich einfach stinknormal, dass man Interesse für das andere Geschlecht hat. Ich freue mich für dich, dass es offensichtlich in dir gekribbelt hat.“ Sie gab mir einen Kuss auf die Wange und schaute mir dann ganz lange sehr, sehr lieb in meine Augen. „Komm, mein Großer, ab jetzt bist du für mich nicht mehr der ganz kleine Junge. Wir gehen Abendbrot essen“.

SCHIMMELS GLANZPARADE

Wegen der zeitlichen Einordnung des Frühstücks herrschte bei uns eigentlich immer Uneinigkeit. Als Lutt noch nicht in die Schule gehen musste, gab es eine Regelung, die meine Mutti immer zum Widerspruch reizte. Sie aß früh sehr zeitig (da sie ins Gemeindeamt, vor allem zu ihrem Lieblingsbürgermeister Jupp, musste) mit denen, die auf unserem Gut werkelten, das heißt mit Oma, Opa, Tante Friedel, Onkel Heinel, Tante Marie, Heinels Schwiegermutter und zwei Frauen, die zeitweilig bei uns arbeiteten. Hinzu kam Helga, die ja in die Schule musste. Wir Jungs hatten die Sondererlaubnis, später mit Oma zu frühstücken, die das erste Frühstück für sich persönlich wegließ, da sie für die anderen viel vorzubereiten und aufzutragen hatte. Mutti passte das überhaupt nicht und als Lothar in die Schule kam, musste auch ich zeitig mit antreten. Mitunter täuschte ich Unwohlsein vor und konnte dann, später, neben Oma sitzend, mein Butterbrötchen in die heiße Milch meines Dippls ditschen. Leider hatte sich das mit dem Unwohlsein prompt erledigt, als ich Schulanfänger wurde. Lothar feixte hinterlistig, als ich ihm das erzählte: „Weshalb sollte es dir anders gehen als uns. Du konntest ein Jahr länger gammeln als ich.“

„Deine Meinung interessiert mich überhaupt nicht, Lutt! So eine Scheiße aber auch. Ich muss jetzt tun, was die Lehrer wollen. Verdammt nochmal!“, war meine Reaktion. Bei einem dieser nächtlichen Eilfrühstücke sprach Oma plötzlich den Opa an, der fleißig wie immer, aber ohne Knigge, den Kopf über der großen Schüssel hängend, Kürbissuppe in sich hineinschaufelte. „Alfred, in den nächsten zwei Tagen musst du nach Freiberg in die bäuerliche Handelsgenossenschaft fahren, um nun endlich das Getreide und die Düngemittel für unsere großen zwei Felder an der Leipziger Straße zu holen. Es pressiert!“ Ohne denselben zu heben, drehte er nur seinen Kopf zu seiner Martha, war sofort auf Hundert und rollte mit seinen hellblauen Augen wie wild. Allen war bekannt, dass ihm das ständige Kommandieren von Oma auf den Geist ging. Ich schaute zu Mutti hin und bekam Angst, da sie schon wieder übernervös war. „Lasst uns doch erst einmal in Ruhe frühstücken – Probleme hinterher, bitte, bitte!“, warf sie angstvoll ein. „Nein, nein, Gretel, das muss schon jetzt geklärt werden. Der Opa muss heute Nachmittag oder morgen diese Tour machen, unbedingt!“ Opa schnaufte in seine Suppe hinein und gab keuchend von sich: „Lass mich in Ruhe, Marrrrtha! Ich werde heute und morgen nicht nach Freiberg fahren!“

„Du regst mich schon wieder auf, Alfred, indem du ständig widersprichst und außerdem, wenn ich dich so ansehe – wie du bei Tisch so dasitzt. Du bist alles andere als ein Vorbild für die Kinder. Du hast senkrecht zu sitzen und den Löffel zum Mund zu führen und nicht umgekehrt. Du sitzt da wie eine Bogenlampe und an deinem Mundwinkel sehe ich noch Primsaft von vorhin. Das ist ohne Kultur und Knigge!“ Das war Opa eindeutig zu viel. Er knallte den halbvollen Löffel auf den Tisch, stand auf und da die Schüssel über den Tischrand hinausstand (das tat er immer, um den Weg Schüssel zum Mund gering zu halten und außerdem, um nicht auf den Fußboden zu klecksen), kippte er mit seinem dicken Bauch die Schüssel nach hinten an, so dass die Hälfte seiner Suppe auf den Tisch schwappte. Er stand vollends auf und verließ fluchend und schimpfend – „Immer dieses Kommandoweib. Einfach ekelhaft! Das muss ich dieser Ziege noch abgewöhnen! Dieses Scheusal denkt, sie hat hier alles zu melden!“ – den Raum. Sein Fluchen wurde leiser, sicher war er auf den Hof hinausgegangen, um seine Erregung durch Primen oder Zigarre qualmen, zu bekämpfen. Lothar und ich, die wir sicherlich noch das beste Gehör hatten, hörten allerdings von weiter Ferne auch noch: „So ein Miststück höchsten Grades!“ Wir verständigten uns dazu nach dem Frühstück und hatten den Eindruck, dass die Erwachsenen dies nicht mitbekommen hatten. Jetzt ging die Aufregung aber erst richtig los.

Am meisten regte diese fürchterliche Missstimmung meine Mutti auf. Sie sah blass aus, war wie um Jahre gealtert und zitterte. Ich ging zu ihr hin, drückte meine Wange an die ihre und fragte: „Mama, was ist denn los?“

„Lass mich nur, Klausmann, ich habe solche Angst! Geh nur mit Lothar spielen! Ihr müsst das ganze Chaos dieser Familie nicht miterleben“, sagte sie mit dermaßen bebender und ängstlicher Stimme, dass mir richtig mulmig wurde. Jetzt mischte sich Tante Friedel ein. „Gretel, nimm das bitte nicht so tragisch! Reiß dich zusammen, nicht, dass du wieder Zipperlein wie in Dresden bekommst! Das wäre ja furchtbar.“ Plötzlich schaute Mutti empört um sich. „Oma“, rief sie laut und entrüstet, „du kannst aber auch unseren Vater nicht dermaßen angehen. Du weißt genau, dass er nicht der Vornehmste ist – er ist nun mal Fleischer von Beruf. Das hast du auch vor der Eheschließung gewusst. Immer dein Benehmen wie ein Generalfeldmarschall und dann noch dazu Wutanfälle. Das hast du dir gefälligst abzugewöhnen!“ Oma bellte mit barscher, kratziger Stimme (offensichtlich ging ihr ausnahmsweise einmal die Kritik von ihrer zart fühlenden Erstgeborenen ans Gemüt) zurück: „Der Alfred kann einem aber mit seiner Langschemlichkeit auch auf den Geist gehen. Es dauert alles zu lange, er bewegt sich zu langsam und isst wie ein Bauer ohne Niveau.“ Nun mischte sich Friedchen ins Geschehen ein. „Mache mal unseren Vater nicht gar so schlecht! Der ist eeeeben soooo und das wirst auch dduuuuu (!) nicht mehr ändern! Außerdem solltest du die Gretel mit deinem Geschrei nicht so aufregen! Du weiß genau, wie es in Dresden war, wo sie immer bibberte, wenn Familienstreit bei Tisch war. Sonst fängt das wie damals wieder an und außerdem muss sie jetzt ins Gemeindeamt, wo sie konzentriert arbeiten muss. Komme jetzt bitte her zu deiner Großen, drücke sie und entschuldige dich, damit sie sich wieder beruhigt!“ So hatte ich unsere Tante Friedel noch nicht erlebt. Mir tat sehr gut, dass sie Mama so beistand und von Oma mehr Gefühl einforderte. Nach etlichem Hin und Her, wo Friedel noch einmal wiederholte, Oma zurückschimpfte, stand diese – für mich erstaunlich – doch auf und ging zu Mutti hin. Sie nahm Mamas Hand und sagte mit normaler, einigermaßen ruhiger Stimme: „Nimm dir das bitte nicht so zu Herzen, Gretel. Den Opa muss man aber ab und zu mal anraunzen!“ Friedel drehte den Kopf. „Mutti, eben das sollst du gerade nicht tun! Du sollst den Vater nicht angehen! Wir wollen hier endlich einmal Familienfrieden haben, nicht wahr, Bruder?“ Vieles an diesem Frühstück war neu und erstaunlich, denn Onkel Heinel hatte nicht einen Ton von sich gegeben. Wahrscheinlich infolge Friedels konsequenter Kritik fühlte sich Oma bemüßigt, Mutti zu drücken und ihr sogar einen Kuss auf die Stirn zu geben. Lothar und ich waren erstaunt – das hatten wir noch nie von Oma erlebt. Mama wurde dadurch ruhiger, hörte auf zu zittern. Da sie aber das Gesamte doch sehr bewegt hatte, brach es aber noch einmal mit zittriger Stimme aus ihr hervor: „Mutter, ’s is’ aber auch wirklich wooohr!“ Diesen Satz hatten Lothar und ich schon häufig gehört und deshalb wunderten wir uns nicht. Er kam immer, wenn sie uns fürchterlich aufgeregte Vorträge über schlechtes Benehmen oder dies und das gehalten hatte und noch einmal bekräftigen wollte, dass das auch alles fürchterlich wahr sei. „Es ist doch aber auch wirklich wahr (woooohr).“

Drei Tage später fuhren wir tatsächlich nach Freiberg. Mutti hatte mit Opa gesprochen. „Es hat doch keinen Sinn, Vater, dass du dich mit Mutter streitest. Auch wenn sie das vielleicht etwas unsachlich getan hat – Recht hat sie aber, denn wir müssen den Getreidesamen und das andere unbedingt holen, da wir es ja für unser Gut dringend brauchen. Was überlegst du denn, Opa?“

„Ich denke nach, ob ich den Braunen oder den Weißen einspanne.“

„Siehst du ein Problem, Opa?“

„Nein, nein, Gretel – ich versuche nur, abzuwägen. Spanne ich die Lore ein, brauchen wir mehrere Tage, bis wir in der BHG eintreffen. Spanne ich den Schimmel ein, wird es mit diesem hochdressierten, sensiblen Zirkuspferd eine aufregende Sache werden. Der Vorteil wäre aber, dass wir schnell an unserem Ziel sind.“

„Du bist der Fuhrmann, Opa, mach nur, wie du denkst. Kommt, ihr Jungs, Lothar und Klaus, wir gehen noch schnell in die Küche einen Happen essen. Dann geht’s los.“ Als wir wieder auf den Hof traten, hatte Opa schon den Schimmel angespannt. Offensichtlich freute sich dieser unheimlich über die Abwechslung, spreizte die Nüstern und wieherte wild. Es war einfach ein richtig schöner Anblick, aber auch nicht zu verkennen, dass er viel größer, kräftiger und muskulöser als Lore war. Ich bekam schon wieder etwas Respekt und Angst. „Opa, du hast doch alles im Griff? Nicht, dass der Schimmel mit uns ein Wettrennen veranstaltet. Die Frau Mehnert hatte uns vor kurzem noch einmal mitgeteilt, dass Bekannte aus Dresden voll überzeugt sind, dass Frau Sarrasani vom Zirkus in Dresden unseren Schimmel geritten hat.“

„Ist ja schon gut, Kinder, aufsteigen!“ Lothar und ich ließen uns das nicht zweimal sagen. Wir stiegen auf die Ladefläche des hölzernen Pferdewagens. Dort hatte Opa eine längliche Kiste, auf der mehrere Decken lagen, hingestellt. Opa als Fuhrmann saß vorn auf einem Querbrett und Mutti setzte sich neben ihn. Nun ging das Geholper los. Die kurzen und harten Schläge gingen uns durch Mark und Pfennig und nach fünf Minuten Fahrt sagte auch Mama: „Mein Gott, Vater, das erschüttert einen ja in den Grundfesten. Hier kommen ja die Gedanken von den Füßen im Kopf an und umgekehrt. Ich bin schon mal mit einer Kutsche gefahren – die war wunderbar gefedert.“

„Gretel, wir sind hier auf keinem Fest, sondern auf einer Versorgungstour – das müsstest du doch als landwirtschaftliche Sachbearbeiterin der Gemeinde Klewado wissen.“ Lothar und ich unterhielten uns noch darüber, dass die Holzräder eisenbereift sind und dadurch die Unebenheiten der Straße noch härter zu spüren sind. Der Kommentar von Lutt war: „Nützt alles nichts, wir müssen das nun ertragen!“ Wir fuhren die gesamte Dorfstraße bis zum Ende des Oberdorfs, wo unsere Kirche stand. Dann ging es links herum auf die Hainichener Straße bis nach Freiberg. Es war schon eine ziemliche Tortur, dauerte fürchterlich lange und war recht langweilig. Erst in Freiberg wurde es interessant. Der Betrieb und die Hektik (so meinten wir) waren enorm und als wir am Ende der Hainichener Straße waren, wurde es so richtig interessant, da wir den Schwanenteich sahen. Auf ihm fuhren relativ viele Boote und in dem Schwanenteich sahen wir ein äußerst interessant aussehendes Holzgebäude. Opa erläuterte uns, dass dies das Schwanenschlösschen sei, ein bekanntes Restaurant, was schon über einhundert Jahre auf dem Buckel hat und wie Venedig auf Holzpfosten im Wasser ruht. Autos waren wenig zu sehen, etliche Fahrräder und viele Pferdegespanne, so wie wir. Wir fuhren auf der Burgstraße entlang, Richtung Obermarkt, Kopfsteinpflaster. So sachte gewöhnten wir uns an das Gerüttel und Geschüttel. Plötzlich hörten wir, erst leise, dann wurde es doch beträchtlich laut, Blasmusik, irgendein Marsch. Es war schön anzuhören und Opa rief begeistert: „Gretel, schön, höre mal – das ist der Schützen-Defiliermarsch.“ Er konnte es kaum zu Ende sprechen, denn, als unser Schimmel dies hörte, muss er sich wie im siebten Himmel bei seinem Zirkus Sarrasani gefühlt haben. Wiederum spreizte er unheimlich die Nüstern, machte das Maul auf, wieherte leidenschaftlich in den Himmel und ging vorn hoch. Er blieb auch mit den Vorderläufen oben und lief nur auf den Hinterbeinen, wie ein Mensch. Die Muskelpakete auf Schimmels Hinterläufen und auch vorn an der Brust waren in voller Anspannung zu sehen. Es war begeisternd – diiiiese Kraft. Uns verging aber sofort die Bewunderung, denn unser Holzwagen ging ruckartig vorwärts, blieb stehen, ruckte nach vorn, neigte sich stark zur Seite, nach links, dann nach rechts, dann zurück und dann kam das Schlimmste, der Wagen ging vorn hoch, dermaßen hoch, dass Lutt und ich auf unserer Kiste nach hinten rutschten. Meine Mutter schrie in Panik: „Opa, halte den Schimmel! Das geht nicht gut – das ist unser Ende!“ Trotz der riesengroßen Not, in der wir zweifellos hingen, ließ er sich aber zu der Bemerkung hinreißen: „Gretel, so ein Quatsch – du denkst immer gleich an den Tod und das Schlimmste. Halte deine Schnute (hochdeutsch Mund)!“ Mit fester, ruhiger und tiefer Stimme, kommandierte er: „Schschiiiiimmmel, ruuuuhhhig, ruuuuhig, mache nicht einen solchen Zirkus!“ Lothar und ich dachten: Gerade das will aber unser Schimmel, Opa! Der denkt, er ist in Dresden bei Sarrasani. Opa zog an der Leine und wir sahen, wie es Schimmel im Maul schmerzte. Obwohl Lothar und ich schreckliche Angst hatten, tat uns der Schimmel leid, denn mit seinem Zerren an der Leine musste das dem armen Hengst unheimlich weh tun – der Speichel floss und spritzte aus seinem Maul nur so heraus, ohne dass er von seinem Tanz abließ. Parallel dazu versuchte Opa, mit einer Leier den Wagen abzubremsen. Wir waren kurz vor dem Umschlagen des Wagens. Selbst Lothar sah leichenblass aus. Ich konnte mich ja, Gott sei Dank, nicht sehen. Offensichtlich war der Marsch zu Ende, denn unser Schimmel ließ in seinen Eskapaden nach und kam wieder auf vier Beinen zu stehen. Von seinem leidenschaftlichen Wiehern ließ er allerdings nicht ab und schmiss den Kopf hin und her, hoch und runter. Wir fuhren weiter. Keiner sagte ein Wort und hing seinen Gedanken nach. Was wäre nur aus uns geworden, wenn die Musik weitergespielt hätte?

AUFKLÄRUNGSVERSUCH MITTELS DOKTORBUCH

Wir zwei Jungs waren nun öfter bei Tante Frida, vor allem nachmittags nach der Schule. Bei ihr war Ruhe und Geborgenheit und wir vermieden so die ständigen Aufrufe von Oma an uns, irgendetwas aus dem Keller zu holen, aufzuwaschen, abzutrocknen oder irgendetwas irgendwohin zu schaffen. Mitunter erledigten wir sogar unsere Hausaufgaben bei ihr. Viele Schätze hatte Tante Frida nicht, die sich für uns gelohnt hätten – sie hatte keine Karl May-Bände, kein Lederstrumpfbuch – das einzige, was uns reizte, war ein dickes, fettes Doktorbuch. Dieses befand sich in einem Schrank um die Ecke rum, das heißt, wenn man aus Fridas großem Zimmer hinaustrat auf den langen Flur, musste man nur um die Ecke zu dem großen Podest gehen, wo mehrere Schränke dann, eigentlich mit dem Rücken zu dem Kabuff ihres Zimmers, standen. Dazwischen war nur die Trennwand. Zufällig hatten wir das Doktorbuch entdeckt, als Mutti und Tante Friedel im Schrank irgendetwas suchten. Die Prozedur, um unentdeckt an diese dicke Schwarte zu gelangen, war allerdings recht kompliziert.


„Schnell, schnell, der Schlüssel muss sofort zurück!“

Wenn ich jetzt als Erwachsener, der aus diesem kleinen Jungen Klaus hervorging, bzw. sich weiterentwickelte, mir die Frage stelle, weshalb wir dies alles mit diesem fürchterlich hohen Heimlichkeitsgrad und -kodex abwickelten, fällt mir eine Antwort eindeutig schwer. Eines würde ich auf alle Fälle behaupten – wir Kinder dieser Generation waren alle ziemlich straff erzogen und teilweise für heutige Verhältnisse ziemlich devot. Ich hatte schon früher erwähnt, dass ich ziemlich schüchtern in die Welt blickte. Lothar war ähnlich, wenn er auch manchmal einen Wutanfall bekam. Ich muss nachdenken – diese Zeilen und dieses Buch schreibe ich mehr als drei Generationen später, wenn ich für eine Generation zwanzig Jahre ansetze. Jede Generation schimpft auf die Generation vor sich. Ich will hier auch nicht schimpfen, ich möchte ja nur mein Erstaunen zum Ausdruck bringen. Zurzeit biete ich Lesungen für mein Buch „Kleine Kelly – was nun?“ an und habe schon relativ viel ausgeführt. Da ich dies neuerdings fast durchweg nur in Gymnasien tue, habe ich oft Telefongespräche mit Lehrern und, wenn diese nicht gegenwärtig sind, sind meist deren Kinder mein Telefonpartner. Da bin ich jedes Mal erstaunt, mit welcher Aufgewecktheit, Intelligenz und auch Schnelligkeit so ein kleiner Knirps oder ein kleines Mädchen von manchmal nur fünf Jahren diese Angelegenheit abwickelt. „Hat denn meine Mutti Ihre Telefonnummer, wenn nicht, dann geben Sie sie mir. Natürlich habe ich schon einen Stift in der Hand und auch Papier vor mir liegen – es kann losgehen. Wenn meine Mutti wieder da ist, ruft sie dann gleich zurück!“ Wir hatten ja damals auf unserem Bauerngut überhaupt noch kein Telefon – von Computer, iPhone, Handy und anderem elektronischen Kram ganz zu schweigen. Selbst Fernsehen war damals noch in weiter Ferne. Jetzt habe ich mich aber ziemlich verplaudert und verschwatzt. Eigentlich wollte ich mit dieser Darstellung nur deutlich machen, dass wir längst nicht so fix und flott wie die heutige Jugend unterwegs waren und außerdem viel zurückhaltender, viel mehr Respekt und sogar Angst vor Erwachsenen hatten – also deshalb diese Heimlichkeit. Es durfte niemand wissen, konnte für uns nur Ärger bedeuten, wenn es herauskam.

Tante Frida war uns schon wohlgesonnen, schon deshalb, weil wir etwas Abwechslung in ihr tristes Leben brachten. Allerdings bekam sie schon irgendwie mit, dass wir tricksten, um an die knochenharten Brötchen zu kommen. Wenn man in ihr Zimmer trat, waren gleich rechts am Türgewand oben viele Schlüssel zu sehen, die auf einem starken Haken hingen. Wir wussten nie so genau, wofür welcher Schlüssel existierte, hatten aber mit viel Aufwand herausbekommen, welcher für den relevanten Schrank mit dem Doktorbuch zutreffend war. Dazu mussten wir mindestens fünf Schlüssel ausprobieren, bis es schnackelte. Der Ablauf, den wir uns zuvor in mehreren Sitzungen flüsternd erarbeitet hatten, war folgendermaßen. Einer von uns, zum Beispiel in diesem Fall ich, musste Tante Frida in ihre Küche locken. Dies erfolgte mit der Bitte um Kathreiner, ein Glas Wasser oder auch wegen eines Butterbrötchens. Ging dann Tante Frida in ihr Kabuff, war dies das Signal, in diesem Fall für Lutt, einen Schlüssel zu nehmen, hinauszurennen und ihn auszuprobieren. Als wir dann den Schlüssel ermittelt hatten, wurde es einfacher, aber gleichzeitig auch aufwändiger, denn der Schlüssel musste genommen, rausgerannt, Schrank aufgeschlossen, Buch herausgenommen, unter den Schrank gelegt, Tür wieder zugeschlossen, zurückgegangen und Schlüssel wieder hingehängt, werden. Später passierte uns, dass Tante Frida bereits aus ihrer Küche zurück, aber der Schlüssel von Lothar noch nicht wieder hingehängt war. Das war aufregend, sehr sogar. Frieda schaute misstrauisch auf den Schlüsselhaken. „Wo ist denn der große Schlüssel und der Lothar?“ Statt einer Antwort sagte ich erschrocken: „Hast du noch etwas Zucker, Tante Frida?“ Sie schaute mich an, war etwas unschlüssig und gab mir dann den Rat: „Geh doch mal in die Küche, zweites Regal unten links.“ Dann überlegte sie: „Habe es allerdings gar nicht gern, wenn ihr in die Küche geht. Ich hol es lieber selbst.“ Dann drehte sie listig die Daumen weiter, ruhig, wie immer, gaaaanz laaaannngggsaaammm voooorwärts und wieder rüüüückwärts. „Worauf wartest du denn, Tante Frida?“

„Auf Lothar, natürlich!“ So was Ausgefuchstes, dachte ich, jetzt hat sie uns in der Falle. Dann kam Lothar wieder herein und sofort wurde von Tante Frida verlangt, zu wissen, wo er war bzw. herkäme. Lothar wurde bleich, seine Augen traten hervor: „Ich, ich, ich – war auf dem Klo.“ Er erhielt nur eine Antwort. „Interessant!“ Nun war Lothar natürlich in der Zwickmühle bzw. wir, denn er konnte ja nicht vor Fridas Augen den Schlüssel wieder hinhängen. Ich zeigte ihm hinter Fridas Rücken an, er solle sich hinsetzen. Das tat er. Tante Frida drehte listig die Daumen weiter, ruhig, wie immer, gaaaanz laaaannnggggsaaaammmm voooorwärts und wieder rüüüückwärts. Keiner sprach ein Wort. Offensichtlich war es ein Geduldsspiel geworden. Nach langer Zeit, für uns eine Ewigkeit, stand Tante Frida auf, ging in die Küche und holte Zucker. Lothar sprintete hoch, raste zum Schlüsselhaken und hängte das vertrackte Ding hin. Er sprintete zurück. Tante Frida kam mit dem Zucker zurück, schaute auf den Schlüsselhaken und setzte sich hin. Wir schauten in ihr Gesicht und konnten kaum eine Reaktion wahrnehmen.

Spätestens jetzt stellt sich aber doch die Frage, weshalb wir denn so nass auf das Doktorbuch waren. Es war mit Sicherheit die altbekannte Neugier der Kinder. Hören Sie sich mal den Dialog an. „Wonach müssen wir denn überhaupt in dem dicken Wälzer suchen, Lothar?“

„Na, Mensch, mich interessiert vor allem, wie die Kinder entstehen.“

„Quatsch, Lutt, wie die Kinder entstehen, ist für mich Kacke. Mich würde aber brennend interessieren, wo die Kinder herkommen und wie das alles so passiert.“

„Eu ja, ich will alles wissen. Sonst tanzen uns die Erwachsenen immer auf der Nase herum und tun so überschlau. Das kann ich überhaupt nicht leiden.“

„Lass uns doch einfach mal anfangen, Lothar.“

„Ja, ja, ist schon gut.“ Wir blätterten unsystematisch und wild in der fetten Schwarte. „Pass auf, Lutt, dass wir nichts kaputtmachen, sonst kriegen die das alles heraus.“

„Guck mal hier – Nasenbluten. Ei Gott, das sieht ja furchtbar aus, das ist ja alles Blut, was da runter läuft. Der Katarrh der Nasenschleimhaut, alles uninteressant. Asthma, Bluthusten, Blutspucken, Blutsturz – einfach grässlich, das alles. Brustfell- oder Rippenfellentzündung, Herzbeutelentzündung, Herzbeutelwassersucht, Herzvergrößerung und Herzerweiterung, Herzinsuffizienz, die Bauchhöhle mit ihren Eingeweiden – sieht ja schrecklich aus, guck mal hier, das alles – der Darm, darüber Leber, Magen, Milz, absteigender Dickdarm. Nun habe ich es aber bald satt. Sieh mal hier das Bild – der Bauch, Eingeweide, Milz, daneben der Magen. Das ist der, Lutt, in den du immer maximal viel hineinstopfst.“

„So geht das nicht, Klaus – außerdem kommt jemand die Treppe herauf, also sofort unter den Schrank damit!“ Wir gaben an diesem Tage auf. Nun begann aber das fast größere Problem, denn wir mussten den Schlüssel wieder unbemerkt holen, Schrank aufschließen, Buch zurücklegen, Schlüssel wieder stillschweigend hinhängen. Einmal hatten wir Riesenglück, indem Tante Frida auf das Klo musste. Da hatten wir ausreichend Zeit und konnten in Ruhe unseren dunklen Geschäften nachgehen. Leider ging es beim Studium des Doktorbuches weiter so, d. h. uninteressante und eklige Sachen kamen uns bei unserer Suche in den Weg. Einer von uns, in dem Fall war es Lothar, blätterte und redete darüber, während der andere nur zuhörte und schaute. Lothar legte dar: „Die Gaumenspalte oder der Wolfsrachen, Hals- und Mandelentzündung, Magenkatarrh, Mastdarmfistel, Stuhlverstopfung – du, Klaus, wollen wir hier mal lesen, denn da haben wir ja auch manchmal ein Problem.“ Wir lasen, kamen aber bei der altdeutschen Schrift nur schwer zurande. Also ging es weiter. „Wurmkrankheiten, Bandwürmer, Spulwürmer, der Peitschenwurm, die Fettleber und die Speckleber, die Schnür- und die Wanderleber. Mensch, Klaus, ich hab schon wieder den Kanal voll. Kann denn eine Leber wandern?“

„Lutt, wir machen das nächste Mal weiter!“ Nächstes Mal der gleiche Zirkus. „Gallensteine, Gallensteinkolik, zur Anatomie und Physiologie der Harnorgane, die Schrumpfniere, Krankheiten und Leiden der Geschlechtsorgane.“

„Lothar ich denke, jetzt kommen wir ran an das, was wir suchen, fein.“

„Männliche Geschlechtsorgane, zur Anatomie und Physiologie der weiblichen Geschlechtsorgane – Lutt, jetzt komm wir langsam ans Ziel. Die Frauen bekommen doch die Kinder und damit hat das unbedingt was zu tun. Sieh mal, hier ist ein Bild – äußere Geschlechtsteile, große Schamlippen, kleine Schamlippen mit dem Kitzler, Scheide, Eierstock. Großer Gott, wozu das wohl alles gut ist? Sieh mal, hier ist ein Durchschnitt durch den weiblichen Körper in der Mittellinie – Scheiße, bringt uns auch nicht weiter.“

„Klaus, hier geht’s weiter – Harnröhrenentzündung, der akute Tripper, der chronische Tripper, Blasenkatarrh, Entzündung der Vorsteherdrüse, der weiche Schanker, Syphilis mit Bildung von roten Flecken und Papeln –iiiiiiii! Das sieht ja ekelig aus, mir wird ganz schlecht.“

„Lothar, wir machen das so – wir schauen jetzt noch für fünf Minuten weiter und wenn wir das immer noch nicht gefunden haben, dann sicher das nächste Mal. Wir sind ja immerhin schon in der Mitte dieser fetten Fibel.“

„Gut, weiter – die Eichelentzündung, krankhafte Samenergüsse, Krankheiten des Hodens und des Nebenhodens, weibliche Krankheiten – Gebärmutterentzündung, Eierstockentzündung und hier, sieh mal – Erkrankungen in der Schwangerschaft, die Geburt und Entbindung, Wochenbett und Krankheiten des Wochenbettes.“

„Ich glaube, wenn die Frauen ein Kind bekommen, müssen sie ins Bett, eben das Wochenbett – du, wir machen das nächste Mal weiter. Jetzt sind wir am Kern der Dinge, hurra!“

„So ein Quatsch, was du da redest, hier steht doch Das Wochenbett beginnt mit der Ausstoßung der Nachgeburt und dauert 4 - 6 Wochen.

„Lass mich mal lesen, Lutt – Daaas Woooochchcheeenbeeett.“

„Schluss jetzt, Klaus, du liest ja wie ein Erstklässler. Bei deinem reichlichen Schuljahr hast du noch nicht viel gelernt. Das dauert ja ewig und keiner kann dich verstehen!“

„Wegen mir, Lutt, da liest eben du. Denke aber daran, dass du ein Jahr älter bist als ich.“

„Auf alle Fälle kommt das Wochenbett nach der Geburt. Also lass uns nochmal dazu lesen. Sobald das Kind im Mutterleibe völlig ausgereift ist, ist die Natur vor die Aufgabe gestellt, den Fötus, wie man die Leibesfrucht auch nennt, ans „Licht der Welt“ zu bringen. Diese Aufgabe – siehst du, hier haben wir es – bezeichnet man als den Geburtsvorgang und die Hilfsmittel, derer sie sich zu diesem Werke der Kindesausstoßung bedient, sind die Wehen, die so genannte Bauchpresse. Das untere Bild links auf der Tafel „Embryo“ zeigt dies. Hier siehst du, Klaus, wie der Fötus, oder wie das Ding heißt – eben das Kind – aus der Mutter herauskommt. Wir haben es geklärt. Es kommt also aus dem Arsch der Frau heraus!“

„Das klingt aber irgendwie gemein, finde ich, Lutt. Könnte man nicht auch After dazu sagen?“

„Sicher, Klaus, du Kleinkind, kannst auch Popo dazu sagen. Tatsache ist, dass wir jetzt wissen, wo es langgeht und keiner kann uns mehr etwas vormachen!“

„Ich denke, wir machen heute erst einmal Schluss. Da wir aber erst in der Mitte des Buches sind, können wir uns den Rest das nächste Mal in Ruhe anschauen.“

„Ach, war das heute wieder ein Mist, bis wir wieder mal an den Schlüssel bei Frida kamen. Sie saß aber auch in ihrem Lehnstuhl wie angeklebt“, schimpfte Lothar. „Meckere nicht so, Lutt, wir haben’s ja noch geschafft. Lass uns noch den Rest anschauen, ist vielleicht ganz interessant.“

„Krankheiten der Haut, Hautpflege, das Jucken, Nesselsucht, Krätze.“

„Lies mal bei Krätze, Lutt, die Mutti und die Oma sagen doch immer: Wenn ihr euch nicht richtig wascht, bekommt ihr die Krätze. Was ist denn das nun aber eigentlich?“

„Krätze ist eine Hautkrankheit, welche durch das Eindringen der Krätzmilbe in die Haut hervorgerufen wird. Die Milbe ist mit bloßem Auge sichtbar, hat die Form einer Schildkröte und besitzt auf der Rückenfläche Dornen und Stacheln, an den Rändern Borsten.“

„Mann Gottes, das ist ja grausig!“, riefen wir beide in großer Aufregung. „Hier, sieh dir mal das Bild der Krätzmilbe an – da kann einem ja richtig angst werden. Stell dir mal vor, wenn die unter unserer Haut ist, was da losgeht. Wie das krabbelt, kratzt und scharrt – einfach fürchterlich.“ Wir schauten beide aufgewühlt und gestanden uns (fast so feierlich wie beim Pionierehrenwort), dass wir die Händewaschaktion in Zukunft mit Seife und vor allem Bürste richtig ausgiebig vornehmen werden. Lothar sagte fast andächtig: „Unsere Mütter, die Oma, der Opa, Onkel Heinel und auch die Tante Marie werden sich noch wundern und uns ein Lob verpassen, ein Lob nach dem andern.“ Später lasen wir noch zu Impotenz und Frigidität, ohne dass wir begriffen, was das war. Danach kamen wir zu Ruhr, Cholera, Malaria, Sumpffieber, Masern, Scharlach und Windpocken. Als wir dann die Bilder dazu sahen, grölten wir beide abwechselnd: „Iiiiiiii, Äääääää – das ist vielleicht widerlich!“

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