Sid Schlebrowskis kurzer Sommer der Anarchie und seine Suche nach dem Glück

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Der Rezeptionist des Vier Jahreszeiten hob den rechten Arm wie ein Klassenstreber. Er reckte das Kinn nach oben und stellte sich auf die Zehenspitzen.

»Ihr Herr Vater hat gerade angerufen und ausrichten lassen, Sie sollen bitte sofort zurückrufen. Es sei äußerst dringend. Er klang sehr beunruhigt«, sagte der Rezeptionist sehr beunruhigt.

Nancy ließ sich das Telefon reichen und wählte eine Nummer. Es war nicht die Nummer ihres Vaters. Es entwickelte sich ein durch kleine Pausen unterbrochener Monolog.

»Hallo? Hallo Papa, du hast angerufen? Was ist denn passiert?« Pause. »Nein, alles in Ordnung.« Pause. »Wir sind gut hier angekommen.« Pause. »Ja, tut mir leid, ich hätte dich früher anrufen sollen. Ich hab’s vergessen.« Pause. »Ja, Benny ist auch hier. Willst du ihn sprechen?« Kurze Pause. »Nein?« Pause. »Wann kommt ihr?« Pause. »Ach, morgen schon? Schön, dann sehen wir uns ja bald. Tschüss. Und sag Mama, sie soll sich nicht aufregen.«

Sie reichte den Telefonhörer über den Tresen zurück und fasste das Gespräch für den Rezeptionisten noch einmal zusammen. Er gab sich beruhigt, aber Nancy sah ihm an, dass ein kleines Körnchen Misstrauen geblieben war, das jederzeit keimen konnte.

Nancy sagte, er solle ihren Vater durchstellen, würde er noch einmal anrufen, und lächelte ein liebenswürdiges Lächeln. Der Rezeptionist lächelte beflissen zurück.

»Scheiße«, sagte Nancy, als der Rezeptionist sie nicht mehr hören konnte.

Sie wusste, dass es riskant war, in dem Vier Jahreszeiten abzusteigen, aber Sid damit zu beeindrucken, war einfach zu verlockend für sie gewesen. Ihr Onkel Joseph von Westphalen war als Journalist in der Münchner High Society unterwegs und saß häufig mit Schauspielern im Hotel Vier Jahreszeiten zusammen. Er gehörte zum sogenannten »Etagenadel«, also denjenigen aus der weitverzweigten Familie, die weder ein Schloss noch das dazugehörige Grundstück besaßen, ja nicht mal ein Haus. Und weil Joseph von Westphalen im Hotel gut bekannt war, stieg auch sein Bruder Viktor von Westphalen gerne im Vier Jahreszeiten ab, wenn er in München zu tun hatte. Ihm war das angenehmer, als bei den von Ledebur-Hell­bachs zu logieren, der Familie seiner Frau, die zum Hochadel gehörte und ihn bei jeder Gelegenheit ihre Geringschätzung spüren ließ, weil er nur dem »Wald- und Wiesenadel« angehörte, wie Viktors Schwiegervater sich gerne mokierte. Er empfand deshalb gegenüber den Eltern seiner Frau eine gewisse Reserviertheit, wie er das ausgedrückt hätte, während Nancy sich diese Zurückhaltung nicht auferlegte. »Die sind doch alle behindert im Kopf«, hatte sie gesagt. Auch das wurde in der Familie unter dem Tourette-Syndrom verbucht und mit einem Verbot belegt. Aber Viktor von Westphalen räumte ein, dass seine Tochter nicht ganz unrecht hatte. Auch er fand, dass jahrhundertelange Inzucht deutliche Spuren in Form eines unerträglichen Standesdünkels bei den von Ledebur-Hellbachs hinterlassen hatte. Er konnte ihre Affektiertheit und Schnöseligkeit nur schwer ertragen, jedenfalls wenn er länger als eine Stunde mit ihnen verbringen musste. Auguste von Westphalen bestand ebenfalls nicht darauf, ihren Vater und ihre Mutter zu sehen. Sie hatten sogar versucht, die Hochzeit zu verhindern.

Auguste nahm jede Gelegenheit wahr, in München die Luft einer Großstadt einzuatmen und mit ihrer Tochter einkaufen zu gehen. Sie bevorzugte Burberry, da die Zeiten von Schiaparelli leider vorbei waren, abgesehen davon, dass sich Schiaparelli in Eibelsdorf schlecht tragen ließ. Auch Versace kaufte sie manchmal, weil alle von der neuen Modelinie schwärmten, aber mit den tiefen Ausschnitten, den opulenten Verzierungen und den grellen Farben hatte sie ihre Schwierigkeiten. Und aus den figurbetonten Kleidern war sie leider auch schon herausgewachsen.

Nancy ging im Zimmer nervös auf und ab und kaute auf ihren Lippen. Sid konnte sich später noch genau an das unangenehme Gefühl erinnern, einfach nur herumzustehen und nicht zu wissen, was er tun sollte.

»Sieht scheiße aus, oder?«, sagte er, aber Nancy antwortete nicht. Stattdessen nahm sie den Telefonhörer und sprach mit Sascha, dem sie den Autoschlüssel gegeben hatte, und bat ihn, das Auto vorzufahren.

Sie raffte ein paar Kleider zusammen und warf sie zusammen mit dem ebenholzschwarzen Anzug aus dem Oberpollinger in die große Versace-Einkaufstüte.

»Geben Sie mir bitte das Telefon«, sagte Nancy zum Rezeptionisten in einem verzweifelt-angespannten Ton, der Sid überraschte.

»Papa? Harry liegt im Krankhaus. Unfall. Hab‘s gerade erfahren. Schrecklich. Ich fahre gleich hin. Ja. Ich rufe dich an, wenn ich was weiß. Nein. Ich muss los. Bis später.«

Sid fragte sich, ob diese Einlage nicht ein bisschen übertrieben war. Sie hätten auch gleich abhauen können, aber Nancy sagte später: »Du hast keine Ahnung.«

»Na dann«, hatte Sid gesagt.

»Soll ich Ihnen ein Taxi rufen?«, fragte der Rezeptionist, aber Nancy winkte ab und eilte auf die Straße. Sascha hielt ihr die Tür auf, sie drückte ihm dankbar den Arm, warf die Tasche auf die Rückbank und startete den Wagen.

Sid atmete tief durch. Im Rückspiegel sah er den Rezeptionisten, der aufgeregt mit den Armen wedelte. Aber nur ein paar Augenblicke später hatte der Verkehr den schwarzen Citroën verschluckt.

»Scheiße war das knapp«, sagte Nancy.

Sid sagte nichts. Nancy war ihm auf der Autobahntankstelle und bei Oberpollinger cool und glamourös vorgekommen. Wie eine Mischung aus Django und David Bowie. Jetzt sog sie hektisch an einer Zigarette und hätte, als sie die Spur wechselte, fast einen VW gerammt.

»Scheiße, Scheiße, Scheiße«, sagte Nancy. »Meine ganzen Klamotten! Alles weg. Dieses blöde Scheiß-Hotel. Ich könnte kotzen. Einen ganzen Eimer voll!« Wieder schlug sie auf das Lenkrad ein.

Sid dachte gerade daran, dass seine Lederjacke ebenfalls im Hotel lag. Er steckte in einem kobaltblauen Anzug, weil Nancy in der Boutique zu ihm gesagt hatte: »Jetzt zieh ihn doch mal an.«

Und er: »Ach, nicht jetzt.«

»Was geklaut ist, muss man auch anziehen.«

Das stimmte natürlich irgendwie, denn sonst hätte man es ja nicht klauen müssen. Aber jetzt war seine Lederja­cke weg und Sid nahm sich vor, nie wieder auf eine derart krumme Logik hereinzufallen.

Nancy klang niedergedrückt, als sie auf der Autobahn und nach langem Schweigen etwas sagte, das Sid wie ein Geständnis vorkam.

»Weißt du, ich konnte nicht mit meinem Vater sprechen. Ich hätte es nicht ausgehalten. Ich hätte nicht Nein sagen können, wenn er gesagt hätte, ich solle zurückkommen.« Sie zögerte, bevor sie fortfuhr. »Er hätte mich rumgekriegt. Er kriegt mich immer irgendwie rum. Ich hätte ihn nicht anflunkern können. Ich hätte ihm nicht sagen können, hol mich ab, ich warte hier auf dich, es tut mir leid, und mich dann ins Auto setzen und abhauen. Er hätte mir ins Gewissen geredet, so lange, bis ich weich geworden wäre wie so ein scheißfranzösischer Weichkäse in der Sonne. Aber dann hätte ich gar nicht erst wegfahren brauchen. Du kennst das nicht, aber das ist echt schlimm.«

Sid verstand, weil ihm die Worte groß und schwer und bedeutend vorkamen. Als er später wieder daran dachte, und er rief sich die Ereignisse in diesen Tagen immer wieder in Erinnerung, war er sich nicht mehr sicher, denn ihr Geständnis hörte sich ein wenig nach einem Luxus-Problem an. Er hatte jedenfalls keine Schwierigkeiten damit, seinen Vater zu enttäuschen. Für Willy Schlebrows­ki war er sowieso nur eine Enttäuschung und Sid hatte nicht die Absicht, ihn in dieser Hinsicht zu enttäuschen. Aber es wäre auch nicht der richtige Moment gewesen, Nancy ihr merkwürdiges Verhältnis zu ihrem Vater vorzuhalten.

»Hey Nancy«, flüsterte Sid und war überrascht, wie heißer und stockend seine Stimme klang, »es wird schon wieder. Wir kriegen das hin.«

Was immer das sein sollte, Sid wusste es selbst nicht, aber irgendetwas musste er sagen, etwas, von dem er hoffte, es würde sie trösten. Es fiel ihm schwer, weil er in solchen Dingen keine Erfahrung hatte. Er sah ihre griechische Nase und ihren düster entschlossenen Blick, der Sid schon aufgefallen war, als sie ihn von der Straße aufgelesen und ein Auto zur Vollbremsung gezwungen hatte. Als Nancy bemerkte, dass Sid sie ansah, huschte ein gequältes Lächeln über ihr Gesicht, bevor sie wieder auf den grauen Asphalt starrte, der unter ihnen hinwegschnurrte.

Ihre Schultern bebten, als sie an einer Raststätte angehalten und ihren Kopf in Sids Schoß gelegt hatte. Er strich vorsichtig mit seinen Fingern durch ihre Haare.

Michelangelo Bellini saß auf einem olivgrünen Seesack und rauchte eine Selbstgedrehte. Er beobachtete ein junges Paar, das ihm aufgefallen war, weil es in einem schwarzen Citroën langsam an ihm vorbeifuhr und eine Parklücke ansteuerte. Nachdem die Frau den Motor abgewürgt hatte, blieben die beiden noch lange im Auto. Sie hatte sich zu dem jungen Mann hinabgebeugt und war nicht mehr aufgetaucht.

Michelangelo Bellini überlegte, was sie da wohl trieb. Vielleicht würde sie ihm ja einen blasen? Er hatte Zeit, solche Überlegungen anzustellen, weil er nichts zu tun hatte, außer auf eine Mitfahrgelegenheit zu warten. Als die beiden schließlich aus dem Auto stiegen, glaubte er einen Moment lang, verlaufene Wimperntusche zu sehen, aber gleich darauf verbarg die junge Frau ihre Augen hinter einer großen Sonnenbrille. Da er selbst wenig auf sein Äußeres achtete, fiel ihm der kobaltblaue Anzug des Jungen auf, in dem dieser sich nicht wohlzufühlen schien. Ständig zog und zupfte er am Revers und an den Ärmeln, während die schäbigen Turnschuhe einen eigenartigen Kontrast bildeten. Er hielt die beiden für Popper, die eine Spritztour mit dem Auto ihres Papas machten.

 

Michelangelo Bellini mochte solche Leute nicht, weil sie privilegiert waren und er nicht. Aber genau deshalb interessierten sie ihn, denn er war 24 und Kleinkrimineller. Da gab es eine gewisse Symbiose. Dass es solche Leute gab, darauf war er schließlich angewiesen.

Das mit der Symbiose hatte Sids Schutzengel nicht mitbekommen, denn da war er gerade damit beschäftigt, in Michelangelo Bellinis Akte zu blättern. Bellini war schon Leichenwäscher, Zeitungsausträger, Bauarbeiter, Kellner, Kleindealer, Autoknacker (einmal erwischt), Kohlenschlepper, Ticketverkäufer für eine Geisterbahn, und einmal hatte er gegen Bezahlung Flugblätter einer kommunistischen Organisation vor den BMW-Werken in München verteilt, in denen zum Generalstreik aufgerufen wurde. Bei diesen Unternehmungen reifte in ihm die Erkenntnis, dass er nicht die Zeit hatte, das Leben mit Arbeit zu vertun. Lieber trieb er sich mit Leuten herum, die, wie er, nicht müde wurden, den ganzen Tag darüber zu reden, wie man zu Geld kommen könnte, ohne sich groß anzustrengen.

Ein Hallodri, dachte der Schutzengel. Na gut. Etwas Besseres war auf die Schnelle nicht zu finden. Dass die Sache dann allerdings so aus dem Ruder laufen würde, hätte er nie gedacht. Er war abgelenkt von der Notiz, die mit einer Büroklammer an der Akte befes­tigt war. Da stand, dass Michelangelo auf dem Weg nach Hause war, um seinen todkranken Vater zu besuchen. Sids Schutzengel empfand sofort Mitleid mit dem jungen Mann.

»Why the fucking hell not?«, murmelte Michelangelo Bellini in seinen Fünftagebart. Sids Schutzengel hörte das nicht gern, aber dieser Ton schien bei Jugendlichen verbreitet zu sein. Er beobachtete Bellini skeptisch, als er den beiden in die Raststätte folgte, wo Nancy und Sid an einem Tisch saßen und sich eine Por­tion Pommes teilten.

»Fahrt ihr nach Italien?«, fragte er.

Der Junge sagte nichts. Die junge Frau sah ihn durchdringend an, obwohl er das wegen der Brille nicht wirklich beurteilen konnte.

»Vielleicht«, sagte sie und dieses Vielleicht schwebte wie ein vages Versprechen zwischen ihnen. Für Michelangelo Bellini aber war das ein so gut wie sicheres »Sicher!«

»Und?«, fragte er.

»Hört sich nicht schlecht an, oder? Was meinst du, Sid?«, sagte die junge Frau und stieß ihren Begleiter an.

Sid zuckte mit den Schultern. Warum kam ausgerechnet jetzt, wo sich gerade eine zarte Vertrautheit zwischen ihm und Nancy herstellte, dieser Typ an und machte alles kaputt, fragte sich Sid. Andererseits konnte er ja wohl schlecht einen Tramper einfach stehen lassen. Ein Tramper muss immer mitgenommen werden. So lautet das Gesetz. Schließlich war er gestern selbst einer gewesen.

»Warum nicht«, sagte sie, als von Sid nichts kam. »Wollten wir nicht sowieso in den Süden?«

»Da gibt’s eine Grenze. Vergessen?«, sagte Sid.

»Sogar zwei«, sagte Michelangelo Bellini. »Jedenfalls, wenn ihr nach Italien wollt.«

»Nicht gut. Wie soll das gehen?«

»Das geht ganz einfach«, sagte Bellini, der hellhörig wurde, weil sich normale Leute ein solche Frage eher nicht stellen. »Auf der Autobahn wird man nämlich einfach durchgewunken. Befreundete Nachbarstaaten. Es sei denn, die suchen nach was Bestimmtem. Habt ihr denn was ausgefressen? Steht ihr auf der Fahndungsliste? Oder habt ihr das Auto geklaut?«

Nancy gefiel sein Humor. Weniger gefiel ihr der etwas wilde Eindruck, den er machte, und sein wirres Haar, das von einem Stirnband gehalten wurde, so dass er sie an Charles Manson erinnerte.

Diesem Mann musste sie nichts vormachen. Also erklärte sie ihm, wie sich die Lage darstellte. Michelangelo Bellini stellte zufrieden fest, dass er mit seiner Vermutung, es handle sich um das Auto Papas, richtig gelegen hatte. Er habe einen Führerschein und könne sie chauffieren. Pässe könne er ihnen leider nicht besorgen, jedenfalls nicht auf die Schnelle. Er konnte es sich nicht verkneifen, damit ein wenig anzugeben. Das einfachste sei es, einfach freundlich an den Grenzbeamten vorbeizufahren. Die Erfolgsaussichten, durchgewunken zu werden, stünden bei 95%, bei einem vorzeigbaren Auto wie dem Citroën sogar bei 97%. Sie könnten es sich auch im Kofferraum bequem machen, was die Erfolgsaussichten jedoch nicht wesentlich erhöhe und was er, Michelangelo Bellini, auch nicht so gern hätte, denn dann würde er sich, wenn es dumm liefe, strafbar machen. So könne er ja immer noch behaupten, von allem nichts gewusst zu haben. Schließlich sei er nur ein ganz gewöhnlicher Tramper. Das mit dem Gelegenheitskriminellen erwähnte er an dieser Stelle nicht.

Nancy fragte ihn, ob es ihm etwas ausmachen würde, wenn er das Stirnband abmachen und seinem Haar etwas Struktur verleihen würde. Wäre vielleicht ganz gut, um die Grenzer nicht auf dumme Gedanken zu bringen.

Der Polizei, Michelangelo Bellinis natürlichem Feind, machte er ungern Konzessionen. Auch nicht, wenn es sein Äußeres betraf. In diesem Fall musste er jedoch zugeben, verhielt sich die Sache anders. Er frisierte auf der Raststättentoilette seine schwarzen Haare mit Wasser streng nach hinten, zurrte sie mit einem Gummi fest und rasierte seinen Fünftagebart. Mehr, fand er, konnte niemand von ihm verlangen.

Michelangelo Bellini sah, nachdem er sich in das schwarze Jackett aus dem Oberpollinger hineingezwängt hatte, so aus wie der, der er auch war: Ein kleiner Ganove, der jedem Grenzbeamten auf der ganzen Welt verdächtig vorkäme.

Sids Schutzengel war erstaunt, wie selbstverständlich man sich anscheinend auf ihn verließ. Er gab sich Mühe. Die drei hielten dem ausdruckslosen, aber dadurch umso bedrohlicheren Blick des deutschen Grenzbeamten stand und durften weiterfahren. Jetzt kamen die Österreicher.

Der Grenzer Werner Bruckmayr hatte in fünf Minuten Schichtende und keine Lust mehr, irgendwen herauszuwinken und Überstunden zu machen. Außerdem hatte er gerade eine nervenaufreibende Kontrolle hinter sich, in der eine aufgebrachte Frau ständig ihr Menschenrecht auf menschliche Behandlung einklagte und ihren Mann als »Verräter« beschimpfte, weil der nicht dasselbe tat wie sie. Wäre dieses seltsame Trio etwas früher gekommen, hätte er die jungen Leute genauer unter die Lupe genommen. Aber so kurz vor Arbeitsende brachte Bruckmayr keine Energie mehr auf. Er fühlte eine leichte Grippe im Anflug und wollte keine Überraschung, sondern nach Hause, vor dem Fernseher die Beine hochlegen und Bier trinken.

Er gab grünes Licht mit einer lässigen, nur angedeuteten Handbewegung, die an heißen Tagen nicht mal eine lästige Fliege erschreckt hätte. Das hatte er in »Der Pate« Teil 1 gesehen und diese fast unmerkliche Geste gelang ihm, wie er fand, ziemlich gut. Sids Schutzengel küsste ihn dafür auf die Stirn. Werner Bruckmayr ging es danach wesentlich besser.

5

»Na, was hab ich gesagt?«, sagte Michelangelo Bellini. Er fand, dass die Verschönerung, die er an sich vorgenommen hatte, überflüssig war und sie auch so durchgewunken worden wären. Staatsbeamte trieben seinen Blutdruck jedesmal in die Höhe. Das ärgerte ihn. Er hätte lieber die stoische Traurigkeit Lino Venturas in »Der zweite Atem« ausgestrahlt, die noch jeden zermürbt hatte. Aber einmal in Handschellen abgeführt worden zu sein genügte, um gegen Menschen in Uniform auf immer eine Abneigung zu spüren.

»War doch ein Kinderspiel!«, sagte er.

Nancy war nicht dieser Meinung, aber ihre Skepsis wurde von der Hochstimmung schnell weggespült. Sie spottete über die Grenzer, die glaubten, jeder, der in einem Anzug stecke, auch wenn er drei Nummern zu klein ist, sei ein braver und unbescholtener Bürger.

Sid saß hinten und grinste in sich hinein. Er hielt eine Kassette in seinen Händen. Eine Kassette mit seiner Lieblingsmusik. Stranglers, Gang of Four, Clash, New York Dolls, Iggy Pop, Siouxsie And The Banshees, Pere Ubu. Und natürlich die Sex Pistols. Genau das richtige, um die Beklemmung zu vertreiben.

Wenn Viktor von Westphalen gewusst hätte, was in seinen Kassettenrecorder einmal eingelegt werden würde, hätte er ihn vermutlich gar nicht einbauen lassen. Seiner Meinung nach war er ausschließlich für Chopin da.

Als Sid die Kassette zwischen den Sitzen nach vorne zu Michelangelo reichte, der sie wiederum in die Anlage steckte, erklang »God save the Queen, the fascist regime.«

Sid hatte immer gedacht, es würde »God shave the Queen« heißen und war etwas enttäuscht, als er seinen Irrtum bemerkte. Aber das machte den Song für ihn nicht weniger genial und nahm ihm nichts von der Ironie und der Aggressivität, die ihm so grandios erschien, weil sie seinem Misstrauen gegen die Welt Ausdruck verlieh und ihm eine gewisse Genugtuung für alles Unrecht verschaffte, das ihm, wie er glaubte, schon immer und von Anbeginn an zugefügt wurde. »God save the Queen, she ain’t no human being«, sang Rotten weiter und das fand Sid unschlagbar, auch wenn er gar nichts gegen die Queen hatte. Aber das musste er auch nicht. Johnny Rotten hatte was gegen sie, und das reichte ihm vollkommen aus.

Die Kassette leierte ein wenig, aber es lief ihm immer noch ein heiliger Schauer über den Rücken. Mit den bis zum Anschlag aufgedrehten Sex Pistols wurde das Fahren auf der Autobahn für Sid zu einem intergalaktischen Erleb­nis. Er ballte die Fäuste, schloss die Augen, schrie lautlos den Text mit und stellte sich vor, für einen Moment der echte Sid Vicious zu sein und auf der Bühne des Winterland zu stehen, beim letzten Auftritt der Sex Pistols, als sie mit Pappbechern, Münzen, Schuhen, Mützen beworfen wurden.

Michelangelo Bellini hatte die beiden für Popper gehalten. Damit lag er falsch. Nancys Tirade auf die unfähigen Grenzer, die zu beschränkt waren, jemanden zu erwischen, der sich mehr zuschulden kommen ließ als eine Geschwindigkeitsüberschreitung von zehn Stundenkilometern, war ganz nach seinem Geschmack. Einem Popper hätte er das nicht zugetraut. Und der schmale und schüchterne Junge hatte die Sex Pistols auf Kassette. Ein Punk also. Die beiden hatten zwar noch nie ein Auto geknackt, da war er sich sicher, aber sie würden ihn auch nicht freiwillig bei der Polizei verpfeifen. Das war für Michelangelo das wesentliche Kriterium, wenn er Leute einzuschätzen versuchte. Klar, wenn man sie unter Druck setzte, würden sie natürlich ganze Arien singen. Aber was will man schon von Amateuren erwarten?, dachte Michelangelo Bellini.

Von den Sex Pistols angeheizt, hetzte Michelangelo den Citroën über die österreichische Autobahn. Das war nicht klug, wenn man die Aufmerksamkeit der Ordnungshüter nicht auf sich ziehen wollte. Und in der Tat hatte Sids Schutzengel alle Hände voll zu tun, die Polizei im entscheidenden Moment abzulenken, damit die Sache nicht in eine wilde Verfolgungsjagd ausartete. Er verfluchte ..., nein, er bedauerte es in diesem Moment zutiefst, dass sich auf der Raststätte keine bessere Alternative angeboten hatte.

Die Nacht hatte ihre grauen, schweren Schleier über Österreich geworfen. Sie fuhren die nächste Raststätte an. Tanken. Mit Michelangelo Bellini hatte man jetzt eine Fachkraft dabei. Und die erklärte sich bereit, die Kosten für eine Tankfüllung zu übernehmen. Sid war erleichtert und Nancy war klar, dass es nicht so günstig wäre, ein Risiko einzugehen, wenn man anschließend die Grenze nach Italien überqueren wollte.

Nancy und Sid gingen in die Raststätte. Michelangelo wollte in zehn Minuten nachkommen. Sie sollten schon mal einen Kaffee für ihn bestellen. Sagte er. Im Sinn hatte er jedoch etwas anderes, denn die Gelegenheit war ihm plötzlich und ohne sein Zutun in den Schoß gefallen und würde sich so schnell nicht wieder bieten. Er würde in Italien den Wagen verkaufen. Die beiden taten ihm etwas leid, aber nicht sehr. Papa würde sich schon um die beiden kümmern. Er hingegen musste selbst sehen, wie er über die Runden kam, beruhigte er sein Gewissen, das leise bei ihm anklopfte. Richtig viel Geld verdienen, ohne jeden Morgen um sechs Uhr vom Wecker aus dem Schlaf gerissen zu werden, davon hatte er immer geträumt. Jetzt musste er nur noch zugreifen.

Sids Schutzengel hörte überrascht den Gedanken Michelangelos zu. Hatte er etwas übersehen? Waren die Akten unvollständig? Er verfiel in Hektik.

In einem Polizeiauto etwas abseits und verdeckt, saß ein Beamter und starrte gedankenverloren auf das Treiben an der Tankstelle. Sein Blick fiel auf den schwarzen Citroën. Er beobachtete die jungen Leute, die dem Wa­gen entstiegen, und dachte, wie ungerecht diese Welt war, denn er liebte dieses Auto, konnte es sich aber nicht leisten. Er seufzte, als über Funk die Meldung kam, dass auf der Autobahn zum Brenner ein schwarzer Citroën mit deutschem Kennzeichen geblitzt worden sei, und zwar mit 50 Stundenkilometer mehr als zulässig. Der Beamte wartete auf seinen Kollegen, der sich in der Raststätte einen kleinen Imbiss besorgte, und als Michelangelo Bellini den Tankdeckel zudrehte, ging er auf ihn zu und forderte ihn auf, die Papiere vorzuzeigen.

 

Sid war noch beschwingt von der Musik und der rauschenden Fahrt. Er nahm einen Schluck aus seiner Cola und trommelte mit seinen Fingern auf dem Tisch »Blank Generation« von den Voidoids, aber er kam schnell aus dem Takt. Ein unbeteiligter Beobachter hätte den Eindruck gewinnen können, Sid sei ein wenig autistisch. Er bemerkte nicht, wie draußen eine gewisse Unruhe aufkam und der schwache Widerschein eines Blaulichts in die Raststätte drang. Nancy hingegen bemerkte sie. Und sie fragte sich, wo Michelangelo blieb. Sie ging ein paar Schritte zum großen Fenster und kehrte kurz darauf wieder zurück.

»Scheiße«, sagte sie gedämpft. »Michelangelo steht da draußen mit zwei Polizisten. Wir müssen hier verschwinden. Mein Papa macht mir die Hölle heiß.« Und nach einem kurzen Moment fragte sie nach: »Verstehst du das, Sid?«

Sid verstand. Jetzt war nicht nur seine Lederjacke weg, sondern auch noch die Kassette mit seiner Lieblingsmusik. Eine echte Katastrophe. Nein, zwei.

Sid sah über die rechte Schulter von Nancy hinweg einen Uniformierten am Eingang, der sich in der Raststätte suchend umblickte.

»Achtung«, flüsterte er, »dreh dich nicht um.«

Er legte Nancy seinen Arm um ihre Schulter und zog sie zum Hinterausgang, der hauptsächlich von Lastwagenfahrern benutzt wurde. Auf dieser Seite der Raststätte befand sich die Dieseltankstelle. Er zwang sich, nicht nach den Polizisten zu sehen, und versuchte, Nancy unsichtbar im Windschatten der zahlreichen Raststättenbesucher zu navigieren.

Draußen gingen die beiden hinter einem Sattelschlepper in Deckung und überquerten schließlich die Fahrbahn bis zur Leitplanke, hinter der der Wald begann. Sie sprangen über die Begrenzung und rutschten und stolperten einen kurzen Abhang hinunter, zwischen moosbewachsenen Baumstümpfen und Gestrüpp hindurch bis zu einem vorstehenden Felsen. Nancy hatte ihre Schuhe abgestreift und umklammerte die schmalen Riemchen. Ihr linker großer Zeh blutete etwas nach der Rutschpartie, aufgerissen von den Steinen und Wurzeln. Ihr Yves-Saint-Laurent-Kleid hatte seitlich einen Riss und an ihrem Hintern klebte Laub und feuchte Walderde. Um sie herum lagen Kippen, zerknüllte Plastiktüten, Verpa­ckungspapier, Dosen – Abfall, der sich bei Lastwagenfahrern während einer längeren Fahrt ansammelt. Eine Laterne warf ihr Licht großzügig über die Leitplanke hinweg auf Sid und Nancy. Sid hatte das Gefühl, auf der Bühne eines Theaters zu stehen, er hatte den Text vergessen und alle starrten ihn gespannt an. Er hielt sich an einem dünnen Stamm fest, ging einen Schritt nach vorne und sah in den Abgrund. Er warf einen Stein hinunter. Kurz danach hörte er etwas, was sich so anhörte, als sei der Stein aufgeprallt. Schwer zu sagen, wie tief es da hinunterging. Es nützte ihm nichts, Pfadfinder gewesen zu sein. Er versuchte, die in der Tiefe sich ausbreitende Dunkelheit zu durchdringen und glaubte, auf der rechten Seite schemenhaft Felsvorsprünge und Bäume zu erkennen. Er kletterte voraus und sagte Nancy, wohin sie ihren Fuß setzen und wo sie sich festhalten sollte. Nach drei, vier Metern waren sie unten angekommen. Vorstehende Felsen boten ihnen Schutz. Nun konnte sie niemand mehr sehen. Sie setzten sich auf einen umgestürzten Baumstamm und lauschten, versuchten herauszufinden, was oben los war. Aber da war nur das Brummen der Laster und der eintönige, dunkle Sound der Autobahn, der die Stille des Waldes etwas weniger bedrohlich machte.

»Ich hasse diese Scheißnatur. Ich hasse diesen Scheißwald. Ich hasse diese Scheißbäume. Ich hasse diese Scheißfelsen. Ich hasse dieses Scheißmoos«, fluchte Nancy leise. »Guck dir das an.« Sie sah an ihrem Kleid hinab. »Völlig hinüber. Was machen wir hier eigentlich?«

»Uns verstecken«, sagte Sid leise.

»Verstecken? Ich fühle mich hier wie lebendig begraben. Als ob mich jemand in der schlimmsten Wildnis ausgesetzt hätte«, sagte Nancy.

Sid verließ das schützende Felsdach und versuchte zu sehen, ob sich oben irgendetwas tat, konnte aber nichts entdecken. Nach einer halben Stunde, die ihnen wie fünf Stunden vorkam und in der Nancy einen langen, schmal fundierten und redundanten Vortrag »über die Natur als überflüssige Scheiße« hielt, hörten sie ein vorsichtiges, zögerliches »Hallo?«, das kaum wahrnehmbar zu ihnen heruntertropfte.

Sid sah nach oben, konnte aber niemanden erkennen. Es kam ihm nicht wie das entschlossene »Hallo« eines Polizisten vor, aber er sagte trotzdem nichts.

»Ihr könnt hochkommen. Die Polizei ist weg«, meldete sich die selbe Stimme noch einmal. Sid schickte sich an hochzusteigen.

»Du willst mich doch nicht etwa hier allein lassen, mit diesem ganzen Ungeziefer«, sagte Nancy.

»Bin gleich wieder zurück. Ich guck mal, wie die Sache da oben aussieht. Oder willst du hier übernachten?«

Sid kletterte nach oben und spähte vorsichtig über die Leitplanke hinweg. Kein Uniformierter. Kein Blaulicht, das auf dem Asphalt schimmerte. Nur ein Lastwagenfahrer, der eine Plane festzurrte, die sich durch den Fahrtwind gelockert hatte. Und ein Mann, der etwas abseits an einem dunklen Mercedes lehnte. Sid sah einen Moment die aufglimmende Glut einer Zigarette, die ein zartes, vom Rauch zerstäubtes Licht auf das Gesicht des Mannes warf, der unverwandt in Sids Richtung starrte. Als er Sid bemerkte, hob er den Arm, als wolle er einen alten Bekannten grüßen. Er trat aus dem Schatten und ging ohne Eile auf Sid zu, der sich Mühe gab, so lässig zu wirken wie der Mann, der etwas von ihm zu wollen schien. Seine rechte Hand vertraulich auf Sids Schulter legend, redete er auf ihn ein.

Der Mann trug eine bläulich getönte Sonnebrille, die ein wenig merkwürdig an diesem Ort des Zwielichts und der Schweinwerfer wirkte, die die Dunkelheit aus den Winkeln verscheuchte, in denen Unkraut wucherte. Sein blondes, sorgfältig nach hinten gelegtes Haar ließ ihn ein wenig wie einen Playboy aussehen, sein dunkelblauer Anzug hingegen war gewöhnlich, als ob er nicht unnötig auffallen wollte. Er sah selbstsicher aus, kalt und entschlossen, und Sid erinnerte der Mann ein wenig an Edward Fox in »Der Schakal«, was er nicht wirklich beruhigend fand, aber Sid wusste, dass er nicht in der Situation war, in der er wählerisch sein konnte.

Als Nancy die Raststätte betreten hatte, hatte sie sofort die Aufmerksamkeit des Fremden geweckt. Er beobachtete sie interessiert und als die beiden unauffällig durch die Hintertür verschwanden, kaum dass ein Polizist den Raum betreten hatte, ließ er seinen Kaffee stehen und folgte ihnen. Er sah noch, wie sie über die Leitplanke sprangen.

Der Mann hieß Rodolfo Cardoso, jedenfalls stand der Name in seinem Ausweis, und mehr wusste niemand über seine Biographie. Selbst Sids Schutzengel war überrascht von seinem unerwarteten Auftauchen. Und er fragte sich, welcher Kollege im Hintergrund die Fäden zog und sich womöglich einen Scherz erlaubte. Wie immer, wenn eine Figur auf dem Schachbrett des Seins auftauchte, die er nicht kannte, machte ihn das misstrauisch. Er blätterte im Register, musste aber feststellen, dass es unglaublich viele Leute mit diesem Namen gab. Es würde dauern, bis er alle überprüft hatte. Cardoso war kein italienischer Name. Vielleicht ein Pseudonym? Ein falscher Name, gewählt von jemandem, der etwas zu verbergen, der Grund hatte, einen anderen Namen anzunehmen? Vielleicht war er einfach nur ein durchreisender Geschäftsmann? Aber unterwegs in welchen Geschäften? Sids Schutzengel wurde nervös. Es war ihm unheimlich, nicht Herr der Situation zu sein, nicht zu wissen, woran er war und wer sich da womöglich mit seinem Schutzbefohlenen einen Scherz erlaubte.

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