Sid Schlebrowskis kurzer Sommer der Anarchie und seine Suche nach dem Glück

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Sid erzählte, dass Wanda nach dem K.o. angefangen hatte, sich merkwürdig zu verhalten. Sie beobachtete seither lieber Sternkonstellationen als zu kochen und war vom Einfluss des Mondes auf irgendwie alles überzeugt. Sogar auf den Haarwuchs und auf das Wachstum der Fingernägel.

»Ist ja irre«, sagte Nancy.

»Ja, sie sagte immer ›Fingernägel nur bei Vollmond schneiden. Merk dir das‹, und ich hab’s mir gemerkt. Konnte da gar nichts dagegen tun, aber ich hab mich nicht dran gehalten.«

»Ausprobiert auch nicht?«, fragte Nancy.

»Ja, schon mal, aber da war nichts besonderes zu sehen«, sagte Sid. Vor fünf Jahren habe sie dann Lametta auf ihre Schultern verteilt und sich mit Weihnachtskugeln behängt, sei in den Käfer gestiegen und davongefahren. Wanda sei sogar im Radio aufgetaucht. Im Verkehrsfunk als Warnung vor einem Geisterfahrer. Auch die Lokalpresse schrieb über den Vorfall und titelte »Christbaum hinterm Steuer«:

Eine 51-jährige Geisterfahrerin, mit Christbaumschmuck behängt, war am Heiligen Abend rund 30 Kilometer lang auf der A9 von Trockau bis zur DDR-Grenze unterwegs.

Polizisten stoppten die Fahrerin auf sehr unsanfte Art, nachdem die Frau zuvor mehrere Polizeisperren durchbrochen hatte. Ein Beamter warf einen sogenannten Nagelgurt vor ihr Auto. Die Metallstifte bohrten sich in die Reifen.

Doch bei der anschließenden Kontrol­le trauten die Polizisten ihren Augen kaum: Die Fahrerin war mit allerlei Christbaumschmuck behängt. Außerdem hatte sie ihr Auto »zum Schutz vor Strahlenbeeinflussung« mit einer Tüllgardine drapiert.

Wanda Schlebrowski tauchte in der Nachrichtenspalte noch als »Paradiesvogel« auf, der vehement »Polizeiwill­kür« krächzte, nur weil die Ordnungshüter sie mit dem Verdacht, sie könnte etwas getrunken haben, ins Röhrchen pusten ließen und sie zu einem Arzt brachten, um sie auf ihre Zurechnungsfähigkeit untersuchen zu lassen. Wanda musste am Ende der Prozedur ihre Fahrt mit einem Taxi fortsetzen.

In der Kleinstadt wusste damals jeder, wer sich hinter der »51-jährigen Geisterfahrerin« verbarg. Das war nicht schwer herauszufinden, denn in der Zeitung war von den »Abenteuern der Hausfrau Wanda S.« die Rede. Da blieb wenig Raum für Missverständnisse. Wanda war das peinlich. Sie tat so, als hätte der Vorfall nie stattgefunden. Und Willy legte seinen Arm um Sids Schultern, zog ihn zu sich heran und sagte: »Das bleibt unter uns. Verstanden? Schwör’s!«

Und Sid schwor.

»Ach, deine Mutter war das!«, sagte Nancy. »Ist ja verschärft.«

»Verschärft?« Sid drehte den Kopf zu ihr und sah ein geheimnisvolles Lächeln im Profil. Er versuchte, diese Momentaufnahme in seinem Gedächtnis wie ein Foto aufzubewahren, um es sich immer wieder ansehen zu können.

Sid glaubte, auch etwas mehr Heroisches von sich erzählen zu müssen. Von Herrn Schulz, seinem Deutschlehrer, der SS-Schulz genannt wurde. Der war zwar nie bei der SS, sondern in der Hitler-Jugend. Aber Sid machte da keinen großen Unterschied. Zur Begrüßung, bei der alle aufstehen mussten, deklamierte Schulz jedesmal dramatisch: »Die Weide biegt sich, die Eiche aber bricht.« Dabei sah er Sid an, und der dachte, na gut, dann bin ich eben eine Weide. Es wäre ihm albern vorgekommen, stramm zu stehen. Einmal hatte ihn SS-Schulz nach vorne kommandiert und gesagt: »Hier seht ihr ein degeneriertes Prachtexemplar der heutigen Jugend. So was hätte früher nicht lange überlebt. Na los, Michael Schlappikowski, Brust raus, Bauch rein.« SS-Schulz ließ ein unangenehm schepperndes Lachen vernehmen. Die meis­ten Schüler fragten sich gerade, was degeneriert hieß, als Sid sagte: »Welchen Bauch? Ihren?«

Einen Moment war es still. Dann hörte Sid ein paar unterdrückte Lacher und ein aufgeregtes Füßescharren.

»Soso, da wird jemand auch noch frech«, sagte SS-Schulz und holte ein Heft hervor, in das er die Verweise eintrug.

Seitdem galt Sid als renitent. Und als jemand eines Tages auf das Straßenpflaster vor der Schule in großen Buchstaben gemalt hatte: »Haut dem Schulz ins Mondgesicht«, gehörte Sid zum Kreis der Verdächtigen. Die Schulleitung verhörte ihn, aber Sid sagte immer nur, er wisse von nichts. Von diesem Text wich er nicht ab, und das konnte er sehr gut. Nachweisen ließ sich ihm nichts. Danach sonnte er sich in der Bewunderung, weil nicht wenige in der Schule glaubten, er habe sich an SS-Schulz gerächt. Und warum eigentlich nicht?

»Und? Hast du?«, fragte Nancy.

Sid grinste chinesisch.

»Scheiße«, sagte Nancy, »ich hab keine Ahnung, wo wir hier eigentlich sind.«

Natürlich wusste sie, dass sie in München war. Sie war am Ende der Autobahn Richtung Innenstadt abgebogen und die Leopoldstraße entlanggefahren. Danach verließ sie die Orientierung. In der Nähe eines Taxistands fuhr sie an die Seite, stieg aus und ging zu einem der Wagen. Sid stellte fest, dass sie keine krummen Beine hatte, was ja theoretisch hätte möglich sein können.

Er beobachtete Nancy, wie sie sich lässig an ein Auto lehnte und eine Weile mit einem der Fahrer plauderte. Für Sid sah es so aus, als würden sich die beiden kennen. Sie lachten und gestikulierten. Dann kam sie zurück und sagte: »Süß. Der fährt uns voraus.«

»Wohin?«, fragte Sid.

»Na, zum Hotel«, sagte Nancy.

»Hotel?«

»Vier Jahreszeiten.«

»Vier Jahreszeiten?«

»Heißt so. Warum weiß ich aber nicht. Ich muss mich jetzt auf den Verkehr konzentrieren«, sagte Nancy und konzentrierte sich auf den Verkehr. »Ich hab nämlich bis jetzt immer nur auf Feldwegen geübt, weißt du. Großstadt ist irgendwie ganz anders. Ständig diese blöden Autos überall.«

Sid betrachtete den um sie herumbrausenden Verkehr nun mit anderen Augen und sagte nichts mehr. Zehn Minuten später hielt Nancy direkt unter einer Deutschlandfahne vor den Arkaden des Hoteleingangs. Sie winkte dem Taxifahrer hinterher, der aus dem offenen Fenster zurückwinkte und ihr eine Kusshand zuwarf. Sids Blick schweifte am Gebäude hoch und entdeckte einen kleinen einsamen Balkon aus Sandstein im dritten Stock, flankiert von zwei Statuen in langen Gewändern.

»Wie seh ich aus?«, fragte Nancy.

»Wie du aussiehst?«

»Seh ich gut aus?« Nancy besah sich im Rückspiegel.

»Ich denke schon. Aber was machen wir hier?«, fragte Sid.

»Was macht man wohl in einem Hotel?«, sagte Nancy.

»Aber wir haben doch gar kein Geld, oder?«, sagte Sid.

»Geld? O Gott! Stimmt, wir haben ja gar kein Geld«, sagte Nancy mit aufgerissenen Augen. »Hab ich ganz ver­gessen. Wir müssen ja erst mal eine Bank überfallen.« Sie lachte. Und als Sid sie befremdet anguckte, fügte sie hinzu: »Wer redet denn von Geld? Lass mich nur machen.«

Sie stieg aus, hielt die Autoschlüssel mit spitzen Fingern in die Höhe, ließ sie in die offene Hand eines Hotelbediensteten fallen und sagte: »Das Gepäck ist im Kofferraum.« Ohne eine Antwort abzuwarten, ging sie zur Rezeption. Sie zeigte auf einen Sessel in der Hotellobby, in dem Sid auf sie warten sollte. Als sie zurückkam zwinkerte sie Sid zu.

Sid folgte ihr. Er fand das alles grotesk und unwirklich, und ständig rechnete er damit, angehalten und gefragt zu werden, was er hier verloren habe. Unter dieser Voraussetzung war es schwer, selbstsicher und locker zu wirken. Mit seiner Lederjacke kam er sich so auffällig vor wie ein fetter Regenwurm, der sich durch eine Schwarzwälder Kirschtorte hindurchfraß. Wie ein Irokese unter lauter Bankangestellten mit Anzug und Krawatte. Sid war, als würde ihn jeder mustern, bevor man sich abwandte, um die Ehefrau zu fragen, ob man gerade richtig gesehen habe. Vielleicht kam ihm das auch nur so vor, aber diese Welt war ihm fremd und schien ihm voller gefährlicher Fallen, und wenn am Hoteleingang ein Schild angebracht gewesen wäre mit der Aufschrift: »Punks müssen draußen bleiben« und zwar ohne das »leider«, das für Hunde galt, dann hätte ihn das nicht gewundert. Aber niemand starrte ihn an oder niemand zog auch nur eine Augenbraue hoch. Er schien überhaupt nicht zu existieren.

Sid bestaunte den Prunk und die Großzügigkeit des Zimmers.

Nancy sagte: »Und? Ist das nichts?«

»Doch«, sagte Sid.

»Schön groß hier. Bei kleinen Zimmern kriege ich immer Klaustrophobie.« Nancy war auf diesen Befund so stolz wie Sid auf Insubordination. Eine rätselhafte, seltene Krankheit. Wer konnte von sich schon behaupten, von ihr überhaupt mal gehört zu haben? Auch Sid hatte noch nie etwas von Klaustrophobie gehört. Ein Klassenkamerad hieß Klaus, aber das war auch schon alles, was er damit assoziierte. Es sah außerdem nicht so aus, als ob Nancy sehr unter dieser Krankheit litt, jedenfalls konnte er nichts Auffälliges an ihr feststellen. In diesem Zimmer schon gar nicht.

Sid ließ sich in einen der breiten, dunkelbraunen Fauteuils fallen und sah sie fragend an.

»Hey, keine Panik. Geht alles auf Rechnung von Papa.«

»Kriegst du da keinen Ärger?«, fragte Sid.

»Den hab ich schon.«

Stimmt auch wieder, dachte Sid.

»Und außerdem: Was will er denn machen? Mich umbringen? Das würde mich wundern. Mich nach Sibirien schicken? Das könnte sein.«

»Sibirien?«

»Naja, in ein Internat. Das ist ungefähr so was wie Sibirien.«

»Oh, nicht gut.«

»Ist es auch nicht. Ich war da nämlich schon mal.«

Es klopfte an der Tür und der Page schleppte zwei große Koffer. Nancy sagte dem Jungen, der nicht älter als Sid war, er solle das Gepäck beim Kleiderschrank abstellen. Sid beobachtete, wie Nancy mit ihm scherzte und der Page unsicher grinste.

Nancy packte aus und sortierte ihre Kleider. Sid sah ihr dabei verträumt zu.

»Wozu brauchst du diese ganzen Klamotten?«, fragte Sid.

 

»Um sie anzuziehen. Was hast du gedacht?«

Sid bemerkte den leicht spöttischen Ton in ihrer Stimme und nahm sich vor, Nancy das lieber nicht mehr zu fragen.

Nancy hielt einige Kleidungsstücke hoch, sagte die Marke, den Laden und die Stadt, und welche gekauft und welche geklaut waren.

Sid saß tief eingesunken im Sessel und bewunderte die für ihn etwas befremdliche Begabung Nancys, sich all diese Labels zu merken. Er fühlte sich schwer wie ein Stein und ungefähr auch so beweglich. Dennoch war er aufgewühlt, als würde er nachts bei schwerem Seegang allein auf einem Schiff stehen, das in Seenot geraten war. Und er hatte keine Ahnung, wo sich die Leuchtmunition befand, damit jemand kam, um ihn zu retten.

Bislang hatte er Mädchen als vollkommen überflüssig erachtet, ihnen gegenüber sogar eine gewisse Feindseligkeit an den Tag gelegt. Schließlich hatte Nancy Spungen die Sex Pistols kaputt gemacht. Und natürlich Yoko Ono die Beatles, obwohl ihm das ziemlich egal war.

»Hast du keinen Hunger?«, fragte Nancy. »Wir könnten uns was aufs Zimmer bringen lassen.«

»Die bringen einem was?«

»Ja, das machen die glatt. Was willst du essen?«, fragte Nancy und nahm den Telefonhörer in die Hand.

»Weiß nicht«, sagte Sid.

»Gibt’s da glaub ich nicht«, sagte Nancy. »Trinken?«

»Champagner«, sagte Sid. Er war neugierig, wie Nancy auf diesen in seinen Augen absurden Vorschlag reagieren würde. Als Sechsjähriger durfte er mal Champagner trinken. Willy hatte gerade einen Kampf gewonnen und anschließend in seiner Stammkneipe »Zum Standesamt« »Schampus bis zum Abwinken« bestellt.

»Schmeckt wie Ahoi-Brause«, hatte sein Vater behauptet. Sid hatte genippt und das Gesicht verzogen. Zur Sicherheit. Und aus Gewohnheit. »Sei mal nicht so zimperlich«, hatte der bereits schwer betankte Willy gegrölt, sein Glas genommen und es über Sids Kopf ausgeschüttet. Es war also keine besonders schöne Erinnerung, die er mit dem Getränk verband.

»Gute Idee«, sagte Nancy.

Nancy bestellte ein Wiener Schnitzel mit Bratkartoffeln und Champagner. Sie ordnete weiter ihre Kleider und Sid rutschte immer tiefer in den Sessel. Das Bild, das sich bot – Mann sitzt im Sessel und sieht einer Frau dabei zu, wie sie Kleider in den Kleiderschrank räumt –, hätte ein Motiv für Edward Hopper abgeben können, aber plötzlich klopfte es und der Kellner brachte Unruhe in die beschauliche Szene. Als er das Zimmer verlassen hatte, jagte Sid den Korken des Dom Perignon an die Decke und trank in großen Schlucken das erste Glas aus. Er schenkte sich nach. Der Champagner schäumte über und Sid versuchte ihn vom Glasrand wegzuschlürfen. Auch das nächste und übernächste Glas trank er, als müsste er sich beeilen, weil der Traum gleich zu Ende sein würde. Die Flüssigkeit rann ihm über das Kinn.

»Lass mir was übrig«, sagte Nancy.

»Bestellen wir doch einfach eine neue Flasche«, sagte Sid. Nancy bestellte noch eine Flasche.

Sid fing an zu plappern und zu gestikulieren. Er fühlte sich großartig. Und der Champagner war es auch. Besser als Gras. Besser als schwarzer Afghane. Und besser als Bier sowieso.

Er stieß mit einer fahrigen Handbewegung Nancys Glas um. Ein heftiges Gefühl der Peinlichkeit überkam ihn. Betrunkene taten so etwas. Und das letzte, was er in diesem Leben wollte, war, vor Nancy als Alkoholiker dazustehen, der sich nicht mehr unter Kontrolle hatte.

Nancy fuhr erschrocken auf: »Scheiße!«

Sid beugte sich über Nancy und wollte etwas tun. Am besten das Ganze wegwischen. In solchen Dingen war er unbeholfen. Sogar seine Mutter hatte immer gesagt, dass er selbst zum Aufhängen von Wäsche zu doof sei. Aber im angetrunkenen Zustand verlor das Missgeschick das Moment des Peinlichen. Er fand wieder in die vom Dom Perignon beschwingte Stimmung zurück.

Sid suchte sprudelnd, ja schäumend, nach immer neuen Worten, um sich zu entschuldigen, und legte bedauernd seine Hand auf Nancys Schulter, als wolle er sie beruhigen, obwohl er sie gar nicht beruhigen musste, denn Nancy war nach dem ersten Schrecken schon wieder bester Laune.

3

Sid dehnte sich und versuchte, das zauberhafte Gefühl des Glücks festzuhalten, das sich in seinem ganzen Körper ausgebreitet hatte, als plötzlich die Tür aufgerissen wurde und Willy Schlebrowski herein stapfte und schrie: »So, mein Lieber, mit dir hab ich noch ein Hühnchen zu rupfen. Du denkst wohl, du kannst hier machen, was du willst?« Er hatte seine Boxhandschuhe an, deutete eine Links-rechts-Kombination an und tänzelte, auf groteske Weise Muhammad Ali imitierend, auf seinen Sohn zu. »Los, Hände vors Gesicht, du Waschlappen, oder willst du meine Handschuhe küssen?« Sid schreckte hoch.

Verwirrt versuchte er sich zu orientieren, irgendetwas Bekanntes zu entdecken, das er einordnen konnte. Aber da war nichts. Er lag in einem riesigen Bett. Nebenan hörte er Wasser plätschern.

Die Erinnerung an den Abend mit dem vielen Cham­pag­­ner kroch zurück an die Oberfläche seines getrübten Bewusstseins. Dann wieder der absurde Auftritt seines Vaters. War er denn nicht die ganze Nacht wach gewesen? Er durfte einfach nicht mehr schlafen, dann hätte sein Vater auch keinen Zugriff auf ihn. Die Angst, die ihn einen Moment im Klammergriff hatte, löste sich auf wie eine Rauchschwade, in die der Wind hineinfuhr, und Erleichterung überkam ihm und hüllte ihn ein wie das warme Wasser in der Wanne, in dem er freitags immer badete. Wie wenig Willy Schlebrowski ihm doch anhaben konnte. Dabei war es nur einen Tag her, als das größte Problem Sids Willy Schlebrowski hieß.

Willy Schlebrowski war ein Boxer, der auch schon mal auf Volksfesten aufgetreten war. Inzwischen arbeitete er in einer Mehlfabrik. Als Sid ihn aus Spaß Jahrmarktsboxer nannte, wurde Willy sauer. Sehr sauer, denn er hatte einmal ein Turnier gewonnen. Durch K.o. Und darauf war er sehr stolz. Die Boxhandschuhe hingen, so lange Sid denken konnte, dekorativ an der Wand. Sid und Wanda zur Mahnung, Willy Schlebrowski Respekt zu zollen und den Bogen nicht zu überspannen.

Willy Schlebrowski hatte Anfang der sechziger Jahre seine große Zeit. Er glaubte, ihm stehe eine große Karriere bevor, weil er in einigen Kämpfen seine Gegner so demoralisiert hatte, dass sie aufgaben, weil ein K.o nur eine Frage der Zeit war. Nach einem wichtigen Kampf gegen Hermann Botsnansky, den Willy nur knapp für sich entscheiden konnte, stand im Sportteil der Süddeutschen Zeitung ein kleiner Artikel, in dem es hieß:

Boxstil hat Willi Schlebowski keinen, es sei denn, man erkennt bei einem Kneipenschläger den Willen, seinen Gegner zu verdreschen, bereits als Technik an. Die Kontrahenten beeindruckt er durch wildes Draufgängertum.

Nicht mal seinen Namen hatte der Journalist richtig geschrieben. Willy wollte den Mann verprügeln und fuhr nach München, wusste dann aber nicht, wie er ihn finden konnte und landete schließlich in einer Kneipe, wo er Wanda kennenlernte, die hinter dem Tresen Bier zapfte. Seine Reise in die Großstadt war also nicht umsonst gewesen.

Danach war das Leben schön. Kennedy hatte gesagt »Ich bin ein Berliner«. Die Zukunft brachte Twiggy und Uschi Obermaier, falsche Wimpern und Pullunder. Es gab jede Menge Gründe zu feiern und zu trinken, und wenn nicht, suchte Willy sich welche. Das bekam ihm auf Dauer nicht gut. Im Leben nicht und im Ring erst recht nicht. Einen Grund zu feiern gab es nur noch selten, die Gründe zu trinken waren nun andere, die Abstürze wurden immer heftiger. Auch als sein Sohn geboren wurde, trank Willy Schlebrowski. Der Wurm machte ihn stolz und glücklich. Immer wieder warf er ihn hoch in die Luft und im Sommer lag er mit ihm zusammen auf der Wiese und kitzelte ihn mit einem Grashalm. Später hielt er ihm seinen Bauch hin, den Sid als Punchingball benutzen durfte, während Willy lachte. An diese glücklichen Stunden konnte sich Sid später nicht erinnern. Schon mit zwei allerdings begann Sid, langsam zum Ärgernis zu werden. Das Lachen wurde seltener, das alkoholisierte Hoch stürzte immer schneller in sich zusammen und Willys Ekel vor der Welt nahm zu. Er wurde zwischen Jähzorn, Verzweiflung und Selbstmitleid hin- und hergeworfen und geriet immer wieder in einen Zustand, in dem ihn niemand mehr erreichte und selbst Schmerzen ihn nicht an die Oberfläche des Lebens zurückholen konnten.

Mit jedem Tag entsprach Sid den Erwartungen seines Vaters weniger. Worin die Erwartungen bestanden, das war Willy Schlebrowski selbst nicht klar. Manchmal stellte er sich vor, Sid würde ein erfolgreicher Boxer und er sein Trainer und Manager, der endlich im Erfolg baden konnte, der ihm, wie er glaubte, in seiner aktiven Laufbahn vorenthalten worden war. Aber schon bald erwies sich dieser Wunsch als Traum, denn sein eigener Sohn war ihm ein Rätsel. Er war introvertiert und lustlos, und dann wieder erschreckte ihn Sids blinde Wut, weil er sich selbst in ihm erkannte. Außerdem war Sid sogar fürs Fliegengewicht zu schmächtig, und wenngleich er manch­­mal eine Rücksichtslosigkeit an den Tag legte, die nötig ist, um jemanden die Nase zu brechen, so musste Willy Schlebrowski sich eingestehen, dass er nicht wusste, wie diese sich steuern ließ. Und für dieses Wesen, das ihm umso fremder wurde, je ähnlicher es ihm war, hatte er seinen Beruf an den Nagel gehängt. Behauptete er.

Die Arbeit in einer Mehlfabrik war seine letzte Chance, in sein Leben noch so etwas wie Struktur zu kriegen. Jedenfalls aus der Sicht des Arbeitsamtes. Willy Schlebrowski war, glaubte man dem zuständigen Sachbearbeiter, ein »Problemfall«. Und diesem Problemfall war es zunehmend egal, was aus seinem Sohn wurde. Aber wohin der steinige Weg in Sids Zukunft auch immer führen würde, es konnte nicht schaden, ihm ab und zu »eine zu scheuern«, wie Willy sagte. Das war genau genommen alles, was er zur Erziehung Sids beitrug. Aber das war genug, um Sid für immer zu verlieren.

Sid befand sich in einem merkwürdigen Zustand der Schwerelosigkeit. Er dachte an die lange Nacht, die nie zu Ende hätte gehen dürfen, und an den Champagner, der aus ihm einen vor Witz und Charme überschäumenden Menschen gemacht hatte.

Nancy kam aus dem Bad, mit einem großen weißen Handtuch umwickelt und einem weiteren als Turban auf dem Kopf und sagte: »Guten Morgen.« Sie strahlte. Dieses wundersame »Guten Morgen« war für Sid wie ein Versprechen auf die Zukunft. Es umschmeichelte ihn wie die sanfte Luft eines ersten Sommerabends, wenn er auf dem Begrenzungsstein zu einer Brache abseits vom Bahnhof saß und den Zügen hinterhersah. So musste es an einem einsamen Strand sein mit feinem weißen Sand, der durch die Zehen rieselte, stellte er sich vor.

Drei Stunden später standen Sid und Nancy in der Herrenabteilung des Oberpollinger in der Neuhauser Straße. Sie waren wie zufällig dort gelandet. Sid betrachtete miss­trauisch den riesigen, funkelnden Warenhaustempel.

»Was machen wir hier?«, fragte Sid.

»Überraschung.«

»Überraschung?«

»Neugierig?«

»Weiß nicht«, sagte Sid zögerlich, obwohl er natürlich neugierig war. Sehr sogar.

Nancy hatte eine große Einkaufstüte über ihrer Schulter hängen, auf der Versace stand, in der eine weitere Tüte von Versace steckte. Die stammten von ihrer Mutter, die Einkaufstüten wie Trophäen aufhob. Für Au­guste von Westphalen waren sie das, was der Hirschkopf für ihren Schwiegervater war, der immer noch über dem Kamin hing. Nancy mochte Versace nicht besonders. Und den Hirschkopf fand sie lächerlich.

Sid fragte sich und Nancy, wozu sie die Tüten brauchte, aber Nancy grinste nur und sagte:

»Gehört zum Auftrag.«

Sie streifte die Anzugreihen entlang, nahm hin und wieder einen heraus und warf einen prüfenden Blick darauf.

»Der ist nicht schlecht, oder?«, sagte Nancy schließlich.

Für Sid hatte der Anzug nichts Ungewöhnliches. Nur das Preisschild fand er ungewöhnlich.

»Très chic«, sagte Nancy, als Sid hinter den Vorhängen der Umkleidekabine wieder hervorkam. Im Spiegel sah er ein gequältes Gesicht. Er fühlte sich so fremd wie ein Außerirdischer, der sich auf dem Viktualienmarkt zum nächsten Telefon durchfragen muss, um seine Freunde anzurufen, damit sie ihn abholen.

»Du siehst jetzt ganz anders aus«, sagte Nancy, »wie David Bowie. Umwerfend.«

Umwerfend? Seine Mutter hätte es umgeworfen. Und die Jungs an seiner Schule auch. Sie hätten sich vermutlich gefragt, was mit ihm los sei, und diskutiert, ob die Krankheit sehr schlimm sei oder nicht ganz so schlimm. Oder sie hätten sich gebogen vor Lachen. Und es wäre kein nettes Lachen gewesen.

 

Schließlich entschied sich Nancy für drei Anzüge, einen in Kobaltblau, einen in Ebenholzschwarz und einen in Champagnerfarben. Drei weiße Button-down-Hem­den kamen noch dazu.

Die Verkäuferin Manuela Hillgruber registrierte den teuren Geschmack des jungen schwarzhaarigen Mädchens, und da Nancy ihr mit einem freundlichen und entschiedenen »Danke« zu verstehen gegeben hatte, dass sie bei der Anprobe alleine zurecht kämen, faltete Manuela Hillgruber wieder T-Shirts zusammen, die Kunden aus einem Stapel hervorgezerrt und achtlos hingeworfen hatten. Sie dachte daran, dass ihr Freund leider nicht so ein dankbares Opfer war wie der Freund des Mädchens, der offenbar alles über sich ergehen ließ. Werner lief in der Regel mit einem Trikot der Löwen und in Trainingshosen herum. Fragen der Mode hielt er für so abartig wie mit einem Schminktäschchen die Leopoldstraße entlangzuspazieren. Er interessierte sich einfach nicht für ihren Beruf. Manuela Hillgruber litt darunter. Sie nahm sich vor, ihr Leben zu ändern. Und das tat sie dann auch. Sie warf seinen blau-weißen Fanschal zum Fenster hinaus und verliebte sich in einen Koch. Als sie erfuhr, dass er Bayern-Fan war, war es bereits zu spät.

Nancy nahm aus der Versace-Tasche eine identische Versace-Tasche heraus, gab eine davon Sid und sagte ihm, er solle die Anzüge und Hemden einpacken.

»Bleib in der Umkleide. Warte auf mein Zeichen«, sagte Nancy.

»Was für ein Zeichen?«, fragte Sid.

»Das wirst du schon merken.«

Dann schlenderte sie unauffällig umher, blätterte die Anzüge an der Stange durch und stellte die Versace-Tasche hinter einer Säule ab. Nachdem sie sich davon überzeugt hatte, nicht beobachtet zu werden, nahm sie eine Schuhschachtel mit Löchern heraus, öffnete sie und ließ dreißig kleine weiße Mäuse frei. Die Mäuse tapsten unsicher herum, bevor sie sich in alle Richtungen zerstreuten. Schachtel und Tasche schob Nancy unter einen Tisch, ging wieder zurück zu Sids Kabine und wartete, während sie so tat, als würde sie interessiert die Auslagen betrachten.

Manuela Hillgruber hatte eine Mäuse-Phobie und ihr Aufschrei war wie eine Sirene, die auch andere Menschen auf das plötzliche Auftauchen von weißen Mäusen in der Herrenabteilung des Oberpollinger aufmerksam machte.

Sid kam aus der Umkleidekabine hervor und Nancy gab ihm zu verstehen, ihr zu folgen. Sie ging mit der Versace-Tüte, die sie sich umgehängt hatte, zur Verkäuferin und sagte mit leicht erregter Stimme: »Da hinten sind auch welche. Was ist denn hier los?«

Manuela Hillgruber keuchte: »Ich versteh das nicht. O nein, da ist schon wieder eine.«

In der Ansammlung von zur Hilfe eilenden Kollegen und neugierigen Kaufhausbesuchern fiel es nicht auf, dass Nancy und Sid sich entfernten. Erst am Ausgang zur Neuhauser Straße glaubte Sid jemanden zu bemerken, der sie verfolgte. Als er seine Schritte beschleunigte, schien auch der Mann hinter ihnen schneller zu gehen. Sid, der mit Nancy noch kein Wort gewechselt hatte, sah, dass sich Nancy verstohlen umblickte. Er beschleunigte seine Schritte noch mehr und als Nancy zu rennen anfing, rannte er hinter ihr her. Zunächst in Richtung Karlsplatz durch das Karlstor bis zur nächsten Ecke. Sie liefen weiter zum S-Bahn-Eingang. Bevor sie die Treppen hinuntersprangen, drehte sich Sid noch einmal um. Der Mann stand verloren auf dem Platz und sah sich suchend um. Sid war sich nicht sicher, ob es derselbe war, der sie durch die Neuhauser Straße verfolgt hatte, falls sie überhaupt verfolgt worden waren. Auf dem Bahnsteig beobachtete er nervös die heranströmenden Menschen. Niemand schien sie zu beachten, aber würde er den Mann wiedererkennen? Als sich die Türen der erstbesten S-Bahn öffneten, verschwanden sie im Waggon im Trubel der Menschen, die nachdrängten.

Nach einer Station, am Marienplatz, stiegen sie aus und setzten sich in ein Straßencafé. Als die Bedienung kam, standen sie auf und gingen am Ratskeller vorbei die Dienerstraße entlang. Am Marienhof fanden sie eine freie Bank, auf der für gewöhnlich Rentner saßen und Tauben fütterten. Langsam fiel die Anspannung von ihnen ab und Euphorie durchflutete sie wie ein Aufputschmittel.

Nancy alberte herum und kalauerte: »Dreißig weiße Mäuse, fliehen aus ihrem Gehäuse. Sie laufen ganz friedlich im Kaufhaus herum, die Katze macht den Buckel krumm, alle schreien ›da ist eine Maus‹, da wurde es Zeit und wir sind schnell raus.«

»Da beißt die Maus keinen Faden ab, heißt es immer. In dem Laden haben die Mäuse jetzt genug zu tun«, fügte Sid hinzu.

Danach ließen sie sich durch die Straßen Münchens treiben. Als sie an einer Boutique vorbeikamen, entdeckte Nancy eine Bluse im Schaufenster. Und als sie im Laden nach ihr suchte, entdeckte sie auch noch ein exzentrisches Kleid. Hätte Sid sich in Mode ausgekannt, wäre ihm aufgefallen, dass Nancy nicht einfach nur ein Kleid mit komischem Muster anprobierte, sondern eins von Jean-Charles de Castelbajac mit Mondrian-Motiven. Und wenn er dann noch gewusst hätte, dass Castelbajac mit dem Manager der Sex Pistols Malcolm McLaren befreundet und Mondrian ein Maler war, dann wäre er vermutlich noch beeindruckter gewesen, als er es sowieso schon war, auch wenn das mehr mit Nancy zu tun hatte und weniger mit Castelbajac oder Mondrian.

»Toll«, hörte sich Sid sagen und es kam ihm nicht fremd vor, während Nancy als Mondrian vor ihm auf und ab paradierte.

Noch vor einem Tag hätte Sid niemals geglaubt, in einer Boutique zu sitzen und »toll« oder »whow« oder »Klasse« zu sagen. Menschen, die das taten, hatte er für armselige Trottel gehalten. Und jetzt drehte sich Nancy vor dem Spiegel, besah sich von hinten und vorne, zupfte am Mondrian und ihren Haaren und fragte: »Findest du?« Allerdings war er auch noch nie mit Hilfe von weißen Mäusen einkaufen gewesen.

Nancy trug Kleid und Bluse zur Kasse, und Sid fragte sich, ob sie noch mehr Mäuse hatte. Er schlenderte unauffällig in die Nähe der Tür und wartete mit klopfendem Herzen auf den Trick, den sich Nancy diesmal ausgedacht haben würde. Aber er sah sie einfach nur mit der Verkäuferin plaudern. Schließlich hörte Sid die Frau an der Kasse sagen: »Aber selbstverständlich. Wir lassen Ihnen die Sachen in das Vier Jahreszeiten bringen.«