Hat China schon gewonnen?

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Hat China schon gewonnen?
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KISHORE MAHBUBANI

HAT CHINA SCHON GEWONNEN?

CHINAS AUFSTIEG ZUR NEUEN SUPERMACHT


Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

HAS CHINA WON?: The Chinese Challenge to American Primacy

bei PublicAffairs, Hachette Book Group

ISBN 978-1-5417-6813-0

Copyright der Originalausgabe 2020:

Copyright © 2020 by Kishore Mahbubani.

Cover copyright © 2020 Hachette Book Group, Inc.

This edition published by arrangement with PublicAffairs, an imprint of Perseus Books,

LLC, a subsidiary of Hachette Book Group, Inc., New York, New York, USA.

All rights reserved.

Copyright der deutschen Ausgabe 2021:

© Börsenmedien AG, Kulmbach

Übersetzung: Matthias Schulz

Coverdesign: Pete Garceau

Satz: Manuel Schäfer

Herstellung: Timo Boethelt

Lektorat: Sebastian Politz

Druck: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-86470-773-5

eISBN 978-3-86470-774-2

Alle Rechte der Verbreitung, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Verwertung durch Datenbanken oder ähnliche Einrichtungen vorbehalten.

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.


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Inhalt

Vorwort

Kapitel 1: Einführung

Kapitel 2: Chinas größter strategischer Fehler

Kapitel 3: Amerikas größter strategischer Fehler

Kapitel 4: Ist China expansionistisch?

Kapitel 5: Ist Amerika fähig zu einer Wende?

Kapitel 6: Sollte China eine Demokratie werden?

Kapitel 7: Die Annahme von Tugend

Kapitel 8: Wie werden sich andere Länder entscheiden?

Kapitel 9: Ein paradoxes Fazit

Danksagung

Anhang: Der Mythos von der amerikanischen Einzigartigkeit

Endnoten

Meiner Schwiegermutter Adele –

mit ihrer ganz eigenen Liebenswürdigkeit

ein Beispiel für amerikanische Großzügigkeit


VORWORT

Trump ist weg. Biden ist da. Und dennoch dauert Trumps unkluge China-Politik an und erfüllt leider eine Prognose, die dieses Buch auf der ersten Seite des Einführungskapitels aufstellt. Amerikas politische Landschaft ist zutiefst gespalten, aber es herrscht erstaunlicher Konsens darüber, dass es für Amerika an der Zeit ist, China entgegenzutreten. Doch es gibt keinerlei Einigkeit (oder wenigstens aufrichtig geführte Debatten) zu der Frage, welche Ziele Amerika durch eine derartige Konfrontation realistisch erreichen kann.

Das Hauptziel dieses Buchs besteht darin, Washington und Peking zu einem besseren Verständnis des geopolitischen Wettstreits zu verhelfen, in den die beiden Länder hineingestolpert sind.

Als Freund Amerikas habe ich versucht, deutlich zu machen, dass Amerika einen grundlegenden Fehler beging, als es einen Wettstreit mit China ausrief, ohne sich zuvor eine umfassende Strategie überlegt zu haben. Henry Kissinger, Architekt der amerikanischen China-Politik der 1970er-Jahre, erklärte mir persönlich, er könne derzeit keine derartige Strategie erkennen. Um eine geopolitische Strategie entwickeln zu können, bedarf es zunächst einmal klar formulierter Ziele. Amerika hat nie genau gesagt, was es mit seiner China-Politik zu erreichen beabsichtigt. Ausgehend von seinen Worten und Taten sehen die Ziele wohl wie folgt aus: China muss daran gehindert werden, die weltgrößte Volkswirtschaft zu werden. Die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) muss gestürzt werden. Chinas weltweiter Einfluss muss eingehegt oder eingeschränkt werden. Sollten dies tatsächlich die Ziele sein, ist eines klar: Keines dieser Ziele lässt sich erreichen. Warum das so ist, erklärt dieses Buch.

Die Amerikaner müssen ein Paradoxon begreifen, um die tatsächlich von China ausgehende Bedrohung zu verstehen: Chinas Aufstieg ist unaufhaltsam, aber Chinas Aufstieg bedroht Amerika nicht. Diese harten Wahrheiten können im politischen Diskurs Amerikas jedoch nicht angesprochen werden.

Chinas Aufstieg ist unaufhaltsam, weil diese 4.000 Jahre alte Zivilisation nach über 100 Jahren der schmerzhaften Erniedrigung nunmehr eine natürliche Phase der Verjüngung durchläuft. Das chinesische Volk ist darüber sehr glücklich und das unterscheidet die Herausforderung, die China darstellt, sehr stark von der Herausforderung, die die Sowjetunion darstellte. Als ich in den 1970er-Jahren die Sowjetunion besuchte, konnte ich aus erster Hand die trübsinnige und düstere Stimmung der Menschen dort erleben. In China dagegen erlebt man erstaunlichen Optimismus. Wie kommt das? Was die menschliche Entwicklung angeht, hat Chinas Bevölkerung gerade die besten 40 Jahre in ihrer 4.000 Jahre währenden Geschichte durchlaufen. Eine Studie der Harvard Kennedy School bestätigte kürzlich, dass zwischen 2003 und 2016 der Rückhalt der KPCh bei der chinesischen Bevölkerung von 86 auf 93 Prozent gestiegen ist. Das heutige China ist eine glückliche Gesellschaft. Das ist auch der Grund, warum die 130 Millionen chinesischen Touristen, die 2019 ins Ausland reisten, freiwillig und mit einem guten Gefühl in ihre Heimat zurückkehrten. Doch in Amerika wird der politische Kurs gegenüber China von einer düsteren Betrachtungsweise dominiert – von China als Unterdrücker, ein Bild, das durch eine sehr reale unterbewusste Furcht verstärkt wird, eine Furcht, die die amerikanische Öffentlichkeit früher als „gelbe Gefahr“ bezeichnete. Die Bezeichnung selbst hört man heute nicht mehr häufig, aber das Gefühl schwingt weiterhin stark mit.

Die Furcht der amerikanischen Politik vor China ist real. Praktisch jeder in Washington vertritt die Auffassung, dass China eine „Bedrohung“ darstellt. Aber stimmt das? Was zeigen die Fakten? Amerikas große Stärke ist die, dass es ein stolzes Produkt der westlichen Erleuchtung ist. Diese Schule hat uns gelehrt, dass es keine besseren Werkzeuge als Vernunft und wissenschaftliche Beweise gibt, will man ein vertracktes Problem begreifen. Wenden wir diese westlichen Analyse-Werkzeuge doch auf die „chinesische Bedrohung“ an.

„China stellt eine Bedrohung für unsere Sicherheit dar, für unseren Wohlstand und über eine breite Spanne von Themen hinweg für unsere Werte“, sagte Avril Haines, Präsident Bidens Direktorin der nationalen Nachrichtendienste. Viele Amerikaner dürften ihr dafür applaudiert haben, die Wahrheit so unverblümt ausgesprochen zu haben. Tatsächlich jedoch ist jeder einzelne Aspekt ihrer Aussage faktisch falsch.

Zunächst einmal bedroht China Amerikas Wohlstand nicht. Dafür sind die Chinesen zu klug. Amerikas Wohlstand ist für sie ein Mittel zum Zweck, ein Faktor, der Chinas Wirtschaft zu Wohlstand verhalf und es auch in Zukunft tun wird. Amerikas Wirtschaft war die Zugmaschine, die es möglich gemacht hat, dass Chinas Volkswirtschaft, die 1980 (kaufkraftbereinigt) noch ein Zehntel der amerikanischen Volkswirtschaft ausmachte, 2014 an den USA vorbeizog. Es ist also anders, als Avril Haines sagt: Sollte Präsident Biden China ein Wirtschaftsabkommen vorschlagen, das sowohl der amerikanischen Wirtschaft (und damit den amerikanischen Arbeitern) als auch China hilft, dann würde China ein derartiges Abkommen begeistert begrüßen. Amerikas Wohlstand ist für China ein Pluspunkt und kein negativer Aspekt.

Zweitens stellt China keine Bedrohung für Amerikas Sicherheit dar. China droht Amerika nicht mit einer militärischen Invasion (und seine Streitkräfte sind einen Ozean entfernt) oder mit einem Atomschlag (Amerikas Arsenal an Atomsprengköpfen ist 20-mal so groß). China bedroht auch nicht Amerikas militärische Überlegenheit in Gebieten wie dem Nahen Osten. Nicht einmal beim Rüstungshaushalt stellt China ansatzweise eine Bedrohung für Amerika dar. US-Verteidigungsminister Lloyd Austin erklärte, Amerika habe sich 20 Jahre lang auf den Nahen Osten konzentriert und China habe in dieser Zeit sein Militär modernisiert. „Wir werden den Vorsprung halten“, sagte er, „und wir werden den Vorsprung zukünftig noch ausweiten.“ Fareed Zakaria hat absolut recht mit seinem Kommentar: „Was Austin als Amerikas ‚Vorsprung‘ gegenüber China bezeichnet, ist mehr eine tiefe Kluft. Die Vereinigten Staaten besitzen etwa 20-mal so viele Atomsprengköpfe wie China. Ihre Kriegsmarine kommt auf etwa die doppelte Tonnage wie die chinesische und darunter sind elf atomar betriebene Flugzeugträger, während China zwei besitzt (noch dazu weitaus weniger moderne). ‚Washington verfügt über 2.000 Kampfflugzeuge, Peking über etwa 600‘, sagt Sebastien Roblin, Analyst für nationale Sicherheit. ‚Und die Vereinigten Staaten können diese Macht über ein gewaltiges Netzwerk aus rund 800 Auslandsstützpunkten verteilt zum Tragen bringen. China hat drei. Chinas Rüstungshaushalt beträgt um die 200 Milliarden Dollar, nicht einmal ein Drittel dessen, was die USA ausgeben.‘“

 

Hätte Avril Haines recht mit ihrer Aussage, dass China eine Bedrohung für Amerikas Sicherheit darstellt, würde es die Logik diktieren, dass China es nur zu gern sehen würde, dass Amerika seinen Rüstungshaushalt, die Flugzeugträgerflotte, die Kampfflugzeuge und die Zahl der Flottenstützpunkte reduziert. Tatsächlich jedoch wäre China unglücklich über eine derartige Entwicklung. Chinas strategische Planer finden es großartig, dass Amerika dermaßen viel Geld für unnötige Kriege verschwendet und währenddessen einen aufgeblähten Rüstungshaushalt unterhält, der in wichtigeren Bereichen – etwa dem Bildungswesen oder bei der Forschung und Entwicklung – Amerikas Wettbewerbsvorteil schmälert. Amerikas gewaltiger Rüstungshaushalt verleiht dem Land denselben Vorteil, den ein Dinosaurier von seinem gewaltigen Leib hat – keinen sehr großen.

Und schließlich: Wenn Haines sagt, China bedrohe amerikanische Werte „über eine breite Spanne von Themen“ hinweg, dann würde das nur dann zutreffen, wenn China damit drohte, seine Ideologie nach Amerika zu exportieren oder den dortigen Wahlprozess zu untergraben. Beides ist nicht der Fall. Und dennoch ist eine erstaunliche Zahl von Amerikanern – sogar besonnene, gut informierte Amerikaner – überzeugt, dass China beabsichtigt, amerikanische Werte zu untergraben. Dieser Glaube beruht möglicherweise auf zwei großen Fehleinschätzungen bezüglich China. Erstens: In China ist eine kommunistische Partei an der Macht, das Land muss also, genauso wie früher die Sowjetunion, darauf aus sein, zu beweisen, dass der Kommunismus der Demokratie überlegen ist. Empirische Beweise zeigen jedoch, dass China bereits vor Jahrzehnten aufgehört hat, andere kommunistische Parteien zu unterstützen. Chinas größter Traum besteht darin, die chinesische Zivilisation zu verjüngen. Zeit verschwenden, indem man kommunistische Ideologie exportiert, will man nicht. Zweitens: Wenn China Amerika überholt und zur weltgrößten Wirtschaftsmacht aufsteigt, wird es sich, so wie Amerika es mit dem „amerikanischen Modell“ getan hat, zur Aufgabe machen, das „chinesische Modell“ in alle Welt zu exportieren. Hier haben wir es mit einem perfekten Beispiel dafür zu tun, wie ignorant Amerika gegenüber seinem strategischen Rivalen ist. Amerikaner mögen glauben, dass jeder Mensch ein Amerikaner sein kann, aber die Chinesen glauben nicht, dass jeder Mensch ein Chinese sein kann. Die Chinesen glauben schlicht, dass nur Chinesen Chinesen sein können. Und sie wären verwirrt, sollte jemand anderes versuchen, chinesisch zu werden.

Könnten Amerikas strategische Denker akzeptieren, dass China nicht versucht, mit einem „chinesischen Modell“ das „amerikanische Modell“ abzulösen, könnten sie vielleicht auch einen Schritt zurücktreten und eine besser durchdachte und tragfähigere Reaktion auf die von China ausgehenden Herausforderungen entwickeln. Aktuell sind die meisten politischen Entscheider und Fachleute in Amerika insgeheim von der Angst erfüllt, dass Chinas Wirtschaft, die im Hinblick auf das reale BIP bereits größer als die amerikanische ist, sich innerhalb eines Jahrzehnts auch im Hinblick auf das nominale BIP an die Spitze setzen könnte.

Dennoch spricht überhaupt nichts dagegen, dass Amerika auch als zweitgrößte Volkswirtschaft das „am meisten bewunderte und einflussreichste“ Land der Welt bleibt (wie es das beispielsweise unter Präsident John F. Kennedy war). Das ist das Kriterium, dem Amerikas Politiker Aufmerksamkeit schenken sollten, nicht die Größe des amerikanischen BIP. Zum Glück gab George Kennan, einer von Amerikas klügsten strategischen Denkern, Amerika exakt diesen Rat, als er Empfehlungen für den Umgang mit der Herausforderung durch die Sowjets aussprach.

An Kennan erinnert man sich heutzutage vor allem wegen seiner „Containment“-Politik (die gegen eine global integrierte Macht wie China nicht funktionieren würde), aber er betonte auch, dass das Ansehen Amerikas im Vergleich zu dem der Sowjetunion davon abhänge, inwieweit es den USA gelinge, „unter den Völkern der Welt den Eindruck eines Landes zu erwecken, das weiß, was es will, das erfolgreich mit seinen internen Problemen und den Pflichten einer Weltmacht umzugehen imstande ist und das eine spirituelle Lebendigkeit an den Tag legt, die es mit den führenden ideologischen Strömungen seiner Zeit aufzunehmen vermag“.

Dieser wichtige Ratschlag enthält vier Facetten: Ein Land, das weiß, was es will (1), hat seine internen Probleme ebenso erfolgreich im Griff (2) wie seine globalen Verpflichtungen (3) und es besitzt spirituelle Vitalität (4). Gegenüber der Sowjetunion lag Amerika in sämtlichen vier Punkten vorn, gegenüber China ist Amerika heutzutage jedoch in allen vier Kategorien ins Hintertreffen geraten. Lassen Sie mich das anhand eines konkreten Beispiels verdeutlichen. Als Joe Biden erklärte: „Amerika ist wieder da“, hat sich die Welt gefreut, das zu hören. Aber man müsste in strategischen Belangen schon ein kompletter Idiot sein, um nicht die naheliegende Anschlussfrage zu stellen: „Für wie lange?“ Ein häufiger Fehler bei Amerikas strategischen Planern und Denkern besteht darin, die Intelligenz der restlichen Welt zu unterschätzen. Die meisten Beobachter Amerikas wissen, dass Trump persönlich oder der Trumpismus im Allgemeinen eine reelle Chance besitzt, 2024 wieder ins Weiße Haus einzuziehen. Im Juli 2021 schrieb Edward Luce: „Solange Donald Trump atmet, ist es wahrscheinlich, dass er 2024 erneut kandidieren wird … Die [Republikanische] Partei als Ganzes folgt inzwischen einer einzigen Wahrheit: Was immer Trump sagt, ist richtig. Auch wenn sich seine Meinung seit dem Frühstück schon wieder geändert hat.“ Wird Trump erneut Präsident, wird er das Land vermutlich wiederum aus multilateralen Abkommen und Organen (wie dem Pariser Abkommen und der WHO) herausführen, Verbündete (wie Frankreich und Deutschland) verächtlich machen, sie auffordern, mehr zu zahlen (wie Südkorea und Japan), oder die Zahl der Fachkräfte aus befreundeten Ländern wie Indien drastisch zusammenstreichen. Kann Amerika sich hinstellen und mit Gewissheit erklären, dass etwas Derartiges nie wieder geschehen wird? Wenn die Antwort darauf „Nein“ lautet, ist es dann für die meisten Länder nicht vernünftig, ihre Möglichkeiten, was die Auseinandersetzung zwischen Amerika und China anbelangt, sorgfältig abzuwägen?

Der wahre Wettstreit zwischen Amerika und China wird nicht auf irgendwelchen ausländischen Schlachtfeldern ausgetragen werden, er findet vielmehr mitten im Herzen Amerikas statt. Bidens Hauptpriorität sollte darin bestehen, die drei Jahrzehnte wirtschaftlicher Stagnation vergessen zu machen, die die weiße Arbeiterklasse in ein „Meer der Verzweiflung“ gestürzt hat. Nur auf diese Weise kann er die Rückkehr eines Trump oder einer Trump-ähnlichen Figur verhindern. Und nur auf diese Weise kann langfristiges Vertrauen in Bidens Behauptung, Amerika sei wieder da, heranwachsen. All das bringt uns zu einem finalen Paradoxon: Amerikas Wirtschaft haucht man am besten neues Leben ein, indem man eng mit den anderen starken und dynamischen Volkswirtschaften des Planeten zusammenarbeitet, allen voran mit dem Land, das über die größte Mittelklasse der Welt verfügt – China. China kann Teil der Lösung für Amerikas innere Spaltungen sein.

Doch auch wenn es logisch sein und dem gesunden Menschenverstand entsprechen mag, in Zusammenarbeit mit China die amerikanische Wirtschaft zu stärken und die Lebensumstände der Amerikaner zu verbessern, ist im heute in Amerika herrschenden politischen Klima ein derartiges Vorgehen absolut undenkbar. Allein schon der Vorschlag käme für die Regierung Biden politischem Selbstmord gleich. Und wenig überraschend tut sich die Regierung Biden schwer damit, auch nur die Schritte Trumps gegen China zurückzunehmen, die den amerikanischen Interessen schaden.

Im April 2021 nahm ich an einer Podiumsdiskussion der Harvard Asia Conference zu den kommerziellen Beziehungen zwischen den USA und China teil. Mit mir auf dem Podium saßen Steve Orlins, Präsident des National Committee on United States-China Relations, sowie die beiden Harvard-Professoren Graham Allison und William Kirby. Erstaunlicherweise stimmten wir alle darin überein, dass Trumps Handelskrieg gegen China Amerikas Arbeitnehmern wie auch Amerikas Verbrauchern nicht geholfen habe. Das Handelsdefizit hatte er auch nicht reduziert. Oder der US-Wirtschaft geholfen. Kurzum: Der Handelskrieg war ein völliger Fehlschlag.

Aber wenn es ein Fehlschlag war, warum hat die Regierung Biden die Maßnahmen dann nicht umgehend zurückgenommen? Ein ranghoher Regierungsvertreter sagte dazu, die USA würden die Handelssanktionen und die Strafzölle in Kraft lassen, um über Verhandlungsmasse zu verfügen. Einer der Diskussionsteilnehmer erklärte, das sei so, als erkläre man China: „Entweder geht ihr auf meine Forderungen ein oder ich schieße mir noch einmal in den Fuß.“

Ganz offensichtlich sollte es in Amerikas Interesse liegen, sich nicht länger in den Fuß zu schießen. Aber will die Regierung Biden versuchen, Trumps China-Politik rückgängig zu machen, muss sie sehr klug und gewieft vorgehen. Die Republikanische Partei und andere China-Falken warten nur darauf, sich auf Biden zu stürzen und ihm eine schwache China-Politik vorzuwerfen. Die Regierung Biden benötigt politische Rückendeckung, um den Kurs gegenüber China zu ändern. Diese Rückendeckung ließe sich an drei Stellen finden:

Zunächst einmal könnte die Regierung den Empfehlungen strategischer Denker wie Kissinger folgen. Kissinger zeichnet sich unter anderem dadurch aus, dass er sehr vorsichtig agiert und zögert, einen amtierenden Präsidenten zu kritisieren, selbst wenn dessen politischer Kurs so offenkundig falsch ist, wie es 2003 beim Einmarsch im Irak der Fall war. Insofern ist es schon bedeutsam, wenn Kissinger sich leicht aus dem Fenster lehnt und warnt, man dürfe nicht zulassen, dass sich die Beziehungen zwischen den USA und China weiter verschlechtern. Im April 2021 sagte er: „Wenn wir nicht zu einer Verständigung mit China gelangen … werden wir in eine Situation geraten, wie sie in Europa vor dem Ersten Weltkrieg herrschte, in der dann also mehrjährige Konflikte auf unmittelbarer Basis gelöst werden, bis einer von ihnen ab einem gewissen Punkt außer Kontrolle gerät … Ein Konflikt zwischen Ländern, die über Hochtechnologie verfügen und über Waffen, die sich ihre Ziele selbst suchen und die den Konflikt von allein beginnen können, ohne dass eine Vereinbarung über Einschränkungen in irgendeiner Form existiert, kann nicht gut gehen.“

Der amerikanische Journalist Peter Beinart schrieb in der New York Times über die Gefahr, wegen der Taiwan-Frage einen Konflikt anzuzetteln, und sagte, die Falken sollten sich fragen: „Wie viele amerikanische Leben sind Sie bereit aufs Spiel zu setzen, damit die USA offizielle diplomatische Beziehungen zu Taiwan aufnehmen können?“ Kurzum: Als allerersten Schritt könnte die Regierung Biden Schärfe aus dem Wettstreit zwischen USA und China nehmen. Dabei helfen können ihr die Argumente im letzten Kapitel dieses Buchs.

Zweitens: Die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika propagiert, Amerika solle „Anstand und Achtung für die Ansichten der Menschheit“ zeigen. Insofern sollte die Regierung Biden die Ansichten der sechs Milliarden Menschen bedenken, die weder in Amerika noch in China leben. Kapitel 8 dieses Buchs geht auf die durchdachten und nuancierten Ansichten ein, die diese sechs Milliarden Menschen zu diesem Wettstreit haben. Während des Kalten Kriegs unterstützten – insbesondere in Westeuropa – die Nachbarn der Sowjetunion begeistert die Bemühungen Amerikas, den Einfluss der Sowjetunion zurückzudrängen. Bei China wären das heutige Äquivalent die 650 Millionen Einwohner der zehn ASEAN-Staaten in Südostasien. In dieser Region genießt Amerika weiterhin einen gewaltigen Vertrauensvorschuss, denn ASEAN, die nach der Europäischen Union zweiterfolgreichste Organisation der Welt, ist eine proamerikanische Kreation.

 

Doch Amerika ignorierte diesen Vertrauensvorschuss und Chinas Einfluss nahm zu. Noch im Jahr 2000 war der Einfluss der USA deutlich größer. Woran lag das? Die amerikanische Volkswirtschaft war in absoluten Zahlen achtmal größer als Chinas. Die USA betrieben im Jahr 2000 mehr Handel mit den ASEAN-Staaten als China (134 Milliarden Dollar gegenüber 41 Milliarden Dollar). 2020 war Chinas Einfluss in den ASEAN-Ländern gewachsen. Woran lag das? Zum einen war die US-Wirtschaft nur noch 1,6-mal so groß wie Chinas, zum anderen war Chinas Handel mit ASEAN gewachsen (508 Milliarden Dollar gegenüber den 295 Milliarden Dollar der USA). All das geschah, weil die USA 6.000 Milliarden Dollar dafür ausgaben, unnötige Kriege im Nahen Osten zu führen, und China in der Zwischenzeit 2001 ein Freihandelsabkommen mit ASEAN vereinbarte. Kurzum: Der zentrale strategische Fehler, den die USA begangen haben, bestand darin, sich auf die militärische Dimension zu konzentrieren, während China unbeirrbar die wirtschaftliche Dimension im Blick behielt.

Mit ASEAN als Fallstudie im Hinterkopf könnte die Regierung Biden argumentieren, dass es in Ostasien in Wirklichkeit um die Wirtschaft geht. Das würde bedeuten, dass Amerika nicht seine militärischen Anstrengungen, sondern seine wirtschaftlichen Bemühungen dort intensivieren sollte.

Das alles führt uns zu dem dritten Argument, das die Regierung Biden anführen sollte: Der wahre Wettstreit zwischen Amerika und China wird in Ostasien auf dem Feld der Wirtschaft ausgetragen. Insofern muss Amerikas Wirtschaft mit Ostasien verbunden bleiben. Doch um dies zu erreichen, muss Amerika seine wirtschaftlichen Verbindungen zu China verstärken.

Warum? Sollten sich die USA und China wirtschaftlich voneinander abkoppeln, würde dies dazu führen, dass sich die USA auch von Ostasien abkoppeln (da Chinas Wirtschaft extrem eng in die ostasiatische integriert ist). Umgekehrt könnte eine engere wirtschaftliche Verzahnung von USA und China zu einer stärkeren Verzahnung von USA und Ostasien führen. Eine derartige wirtschaftliche Verzahnung wäre die beste langfristige Garantie für eine starke und dauerhafte US-Präsenz in Ostasien, was der Sicherheit von Japan und Australien zugutekäme. Es ist paradox, aber der beste Weg, eine langfristige Präsenz der USA in Ostasien zu zementieren, besteht darin, den Handel mit allen großen Volkswirtschaften der Region auszubauen, und zwar inklusive des Handels mit China.

Dieses Paradoxon unterstreicht den wichtigen Punkt, dass viele Elemente von Amerikas jüngerer China-Politik (wie etwa Trumps Handelskrieg) in sämtlichen Schlüsselbereichen ein Fehlschlag waren: Sie haben China nicht geschwächt, sie haben Amerika nicht gestärkt und sie haben Amerikas Freunde und Verbündete nicht mit an Bord geholt. Und sie sind gescheitert, weil Amerika nicht im ersten Schritt eine umfassende und durchdachte langfristige Strategie für den Umgang mit der größten geopolitischen Herausforderung in der gesamten Geschichte des Landes entwickelte.

Es ist wichtig anzuerkennen, dass die China-Politik der Regierung Biden von einer Gruppe ehrenhafter Staatsdiener gelenkt wird, die sich bemühen, Amerikas nationale Interessen nach besten Kräften zu vertreten, und dabei nicht vergessen, welchen innenpolitischen Zwängen ein Kurswechsel in der China-Politik unterliegen würde. Die China-Politik der Regierung Biden mag sich nicht groß von der Politik der Regierung Trump unterscheiden, aber Amerikas Freunde und Verbündete erkennen, dass, während sich die zentralen Persönlichkeiten in der Amtszeit Trumps (Pence, Pompeo, Navarro) China gegenüber geradezu aggressiv verhielten (regelmäßig wurden schwere und gelegentlich auch grobe Beleidigungen vom Stapel gelassen), die zentralen Mitglieder der Regierung Biden (Blinken, Yellen, Sullivan und Campbell) konstruktiver und durchdachter begannen. Yellen legte beträchtlichen Mut an den Tag, als sie erklärte, die Zölle, die Trump gegen China erließ, würden „den amerikanischen Verbrauchern schaden“. Biden wiederum zeigte Mut, als er „pensionierte“ amerikanische Staatsdiener nach Taiwan schickte, um zu demonstrieren, dass Amerika wieder eine zentrale Übereinkunft zwischen Peking und Washington ehrt – dass Amerika nämlich mit Peking offizielle Verbindungen pflegt und inoffizielle mit Taipeh. Kurzum: Der stark antichinesische Konsens, der die amerikanische Politik erfasst hat, engt den Spielraum der Regierung Biden enorm ein, aber dennoch bemüht sie sich, einen stärker von der Vernunft getriebenen Kurs in der China-Politik einzuschlagen.

Die sechs Milliarden Menschen außerhalb von Amerika und China würden einen derartigen Kurs freudig begrüßen. Der Großteil der Menschheit plagt sich mit großen gemeinsamen Herausforderungen herum, von der Corona-Pandemie bis hin zum Klimawandel. Keine zentrale globale Herausforderung lässt sich lösen, ohne dass China und Amerika mit an Bord sind. Und wenn die beiden Supermächte kooperieren, können Wunder wahr werden. Lassen Sie mich ein Beispiel anführen: Würden Amerika und China gemeinsam verkünden, jeweils 50 Milliarden Dollar in die Hand zu nehmen und für dieses Geld alle 7,8 Milliarden Menschen auf dem Planeten Erde impfen zu lassen, würde die Weltwirtschaft um 9.000 Milliarden Dollar wachsen – das entspricht 180 Dollar Ertrag für jeden Dollar, den Amerika und China ausgeben.

Viele Leser mögen sich gegen einen derartigen Vorschlag sträuben, 50 Milliarden Dollar klingt schließlich nach einer Menge Geld. Aber als im April 2009 die Staats- und Regierungschefs der G20-Länder in London zusammenkamen, um die Weltwirtschaft nach der globalen Finanzkrise (ausgelöst durch den Kollaps der New Yorker Bank Lehman Brothers) wieder anzuschieben, stellte China 50 Milliarden Dollar für die Rettung des globalen Bankensystems bereit. Insgesamt sagten die G20-Staaten über 1.000 Milliarden Dollar zu. 50 Milliarden Dollar, um die ganze Welt 2022 impfen zu lassen, sind eine bescheidene Investition. Könnten wir Amerika und China überzeugen, zumindest minimal wieder zu kooperieren, wäre die ganze Welt – und damit auch Amerikaner und Chinesen – besser dran.

Kishore Mahbubani, Singapur, August 2021