Hat China schon gewonnen?

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Am negativsten wird der Bericht, wenn es darum geht, wie viele ausländische Unternehmen (eingeschlossen die amerikanischen) sich beim Geschäftemachen in China schikaniert fühlen. Es heißt dort:

„Die jüngsten Spannungen im amerikanisch-chinesischen Handel warfen ein Schlaglicht auf viele Schieflagen in der Handelsbeziehung, unter anderem den Mangel an Gegenseitigkeit bei grenzüberschreitenden Investitionen, Chinas Umgang mit staatlich finanzierter Industriepolitik und den Druck zum Technologietransfer als Preis für die Teilnahme am chinesischen Markt. Wenige Unternehmen werden öffentlich einräumen, unter diesem Druck zu stehen, aber in unserer Umfrage gaben 21 Prozent der Unternehmen an, derartigen Druck verspürt zu haben, insbesondere in Industriezweigen, die China als strategisch wichtig erachtet – Luftfahrt (44 Prozent) und Chemie (41 Prozent) sahen sich beträchtlichem Druck ausgesetzt, was die Besorgnis der aktuellen US-Regierung über diese ‚Pay to Play‘-Taktik in technologielastigen Branchen bestätigt.“16

Dass ein derart lauter Chor amerikanischer Stimmen Trumps Anschuldigungen gegen China unterstützt, kann als eindrucksvolle Bestätigung dafür gewertet werden, dass China einen schweren strategischen Fehler begangen hat. Was also ist da schiefgelaufen? Hat die chinesische Regierung auf oberster Ebene beschlossen, die amerikanische Geschäftswelt zu ignorieren? Oder haben eine Unzahl von Entscheidungen vor Ort dazu geführt? Mindestens drei Faktoren haben zentral zu dieser Entfremdung beigetragen: die vergleichsweise große politische Autonomie der Provinz- und Stadtverwaltungen, der Hochmut, den China nach der globalen Finanzkrise von 2008/9 verspürte und die vergleichsweise schwache zentrale Führung in den 2000er-Jahren.

Die Nullerjahre waren ein Jahrzehnt außerordentlich raschen Wirtschaftswachstums. Chinas Wirtschaft wuchs im Schnitt um 10,29 Prozent jährlich und viele ausländische Unternehmen verdienten sehr viel Geld.17 Die Unternehmen klagten zwar über unfaire Praktiken, waren aber bereit, dies zu ertragen, weil im Gegenzug außergewöhnliche Gewinne lockten. Die Parteiführung beging in den 2000er-Jahren einen großen Fehler, als sie nicht sorgfältig darauf achtete, wie die Provinzen und Städte mit ausländischen Investoren umgingen. Andererseits: Selbst wenn Peking das hätte tun wollen, stößt das Zentrum doch auch an Grenzen, wenn es darum geht, wie stark es den Alltag kontrollieren kann. Ein bekanntes chinesisches Sprichwort besagt: „Die Berge sind hoch und der Kaiser ist weit.“ (shān gāo, huáng di yuăn, ). Jahrtausendelang genossen Chinas Provinzen selbst unter starken Kaisern ein hohes Maß an Autonomie. Selbst wenn ein Problem auf Provinzebene in Peking thematisiert wurde, war es oft so, dass sich wenig unternehmen ließ.

Der CEO eines großen europäischen Unternehmens erzählte mir, seine Firma sei mit einem chinesischen Unternehmen eine feste Vereinbarung eingegangen, wonach man nach Ablauf von fünf Jahren das chinesische Unternehmen zu einem festgesetzten Preis würde kaufen können. Die Frist lief ab und das europäische Unternehmen wollte wie vereinbart das chinesische aufkaufen, aber die Chinesen weigerten sich. Das europäische Unternehmen erhob Klage vor Ort und wandte sich an die Provinzbehörden, aber alles vergebens. Da der europäische CEO in Peking gut vernetzt war, versuchte er, in der Hauptstadt Unterstützung zu finden. All seine Bemühungen blieben ohne Erfolg, stattdessen ermutigte man ihn, dem chinesischen Unternehmen, obwohl es doch einen vermeintlich bindenden Vertrag gab, zur „Schlichtung“ einen höheren Kaufpreis anzubieten.

Von europäischen Handelskammern, die in China aktiv sind, hört man ähnliche Beschwerden wie von ihren amerikanischen Kollegen. In seinem Buch „Red Flags“ aus dem Jahr 2018 beschreibt George Magnus, wissenschaftlicher Mitarbeiter am China Centre der Universität Oxford, wie China einen gewaltigen politischen Fehler beging, als es ignorierte, wie überzeugt führende Persönlichkeiten in Amerika davon waren, dass China in weiten Teilen seiner Wirtschaftspolitik unfair agiert – indem es beispielsweise Technologietransfer einfordert, geistiges Eigentum stiehlt und nichttarifliche Handelshemmnisse aufwirft.

„Die USA haben gegen China (in diesem Bereich) sehr starke Argumente“, schreibt Magnus.18 Er schildert, wie China 2006 einen Technologie-Entwicklungsplan aufstellte, der dafür sorgen sollte, dass „China bis 2020 zur Technologiemacht wird und bis 2050 eine globale Führungsrolle einnimmt“. Zu diesem Zweck sollte die „einheimische Innovation“ gefördert werden, „doch im Laufe der Zeit wurde, insbesondere für ausländische Unternehmen, einheimische Innovation gleichbedeutend mit unterschiedlichen Formen von Protektionismus und Günstlingswirtschaft für einheimische Unternehmen und mit unfairen Handelsbräuchen. Chinas technischer Fortschritt wurde bei dieser Betrachtung auf dem Rücken importierter Technologie erzielt, entweder durch Zukäufe im Ausland oder durch ausländische Firmen, die in China aktiv waren. In einem Bericht der amerikanischen Handelskammer heißt es, viele ausländische Technologiefirmen würden ‚einheimische Innovation‘ als ‚Blaupause für Technologie-Diebstahl in einem Ausmaß, wie es die Welt noch nie zuvor gesehen hat‘, ansehen.“19

Elizabeth Economy vom Council on Foreign Relations schreibt: „Viele amerikanische und europäische Unternehmen beklagen, dass chinesische Unternehmen geistiges Eigentum stehlen. Bei jedem Jahresbericht der Außenhandelskammer steht dieser Punkt ganz oben in der Liste, wenn es um die Schwierigkeiten beim Geschäftemachen in China geht.“20

Der zweite Faktor, der dazu beigetragen haben könnte, dass sich die amerikanische Geschäftswelt derart von China entfremdete, war die Überheblichkeit, die chinesische Vertreter unmittelbar im Anschluss an die globale Finanzkrise von 2008/2009 an den Tag legten. Mehrere ausländische Beobachter haben dies ausführlich beschrieben. In seinem Buch „The Party“ schildert Richard McGregor, was 2008 beim Boao Forum geschah, dem chinesischen Gegenstück zum jährlich in Davos stattfindenden Weltwirtschaftsforum. Bei früheren Gelegenheiten sagten die Chinesen höflich: „Sie tun dieses, wir tun jenes.“ Beim Treffen von 2008 habe jedoch ein anderer Ton geherrscht, so McGregor. Dieses Mal lautete die Botschaft: „Sie gehen Ihren eigenen Weg. Wir gehen unseren eigenen Weg. Und unser Weg ist der richtige!“ McGregor beschreibt sodann den Ton auf dem Treffen:

Auf dem Boao Forum zogen die chinesischen Spitzenfunktionäre nacheinander ihre Glacéhandschuhe aus, die sie bei vergangenen Konferenzen angelegt hatten, und machten den Besuchern klar, dass sich das Blatt gewendet hatte. Zuerst kritisierte ein Beamter der Aufsichtsbehörde ein Treffen weltweit agierender Wirtschafts- und Finanzgrößen als „Lippenbekenntnis“. Ein anderer ließ kein gutes Haar an der Rolle der internationalen Ratingagenturen in der Finanzkrise. Ein pensioniertes Politbüromitglied forderte mit drohendem Unterton, die USA müssten „die Interessen der asiatischen Länder schützen“, wenn sie wollten, dass China weiterhin ihre Anleihen kaufte.“21

Gideon Rachman von der Financial Times beschreibt in seinem Buch „Easternization sehr gut, welche Stimmung nach der globalen Finanzkrise in Peking herrschte:22

In den Jahren nach dem Crash stellten westliche Diplomaten, insbesondere solche aus Europa, im Umgang mit den Chinesen einen neuen Ton fest. Ein britischer Diplomat, der kurz zuvor von einer Reise nach China zurückgekehrt war, erzählte mir 2011 mit einem Lachen, China sei das einzige Land gewesen, in dem man ihm erklärt habe: „Sie dürfen eines nicht vergessen: Sie kommen aus einer schwachen und im Zerfall begriffenen Nation.“ Ein weiterer sehr ranghoher britischer Diplomat sagte, der Umgang mit den Chinesen werde „zusehends unangenehm und schwierig“. Auf meinen Einwand, dass einige seiner Kollegen in Washington weiterhin sehr lobend über die chinesischen Spitzenfunktionäre sprachen, mit denen sie zu tun hatten, erwiderte der britische Offizielle: „Es gibt einen besonderen Tonfall, den die Chinesen inzwischen ausschließlich für die Amerikaner vorgesehen haben.“ Obwohl China weiterhin beteuerte, dass man weiterhin ein Entwicklungsland sei, trat die Regierung in Peking mehr und mehr wie eine werdende Supermacht auf – und das einzige Land, das man offenbar noch als tatsächlich ebenbürtig erachtete, waren die Vereinigten Staaten.

Möglicherweise erklärt der Hochmut, der Peking nach der globalen Finanzkrise befiel, auch die vergleichsweise kühnen Schritte, die China in den folgenden Jahren im Südchinesischen Meer unternahm. Wenn die Chinesen behaupten, nicht sie hätten damit begonnen, Felsen und Riffe im Südchinesischen Meer zurückzufordern, dann haben sie recht. Dieses Spiel haben die anderen vier Länder, die Ansprüche erheben, begonnen. China legte über einen sehr langen Zeitraum hinweg sehr große Zurückhaltung an den Tag. Leider beschloss man nach der globalen Finanzkrise jedoch, die eigenen Forderungen deutlich zu intensivieren. Mit ihrem neuen Auftreten im Südchinesischen Meer gaben die Chinesen jedoch den antichinesischen Stimmen in Amerika ein nützliches Propaganda-Werkzeug an die Hand.

Genauso ist klar, dass Pekings Zurschaustellung von Arroganz dem Geist dessen zuwiderlief, was Deng Xiaoping seinen Nachfolgern als Empfehlung mit auf den Weg gegeben hatte: „Beobachtet mit kühlem Kopf. Bleibt standhaft. Reagiert umsichtig. Verbergt unsere Fähigkeiten und wartet auf den rechten Augenblick. Beansprucht niemals die Führungsrolle. Seid fähig, etwas zu Ende zu führen.“ (Lěng jìng guān chá, wěn zhù zhèn jiáo, chén zhuó yìng fù, tāo guāng yăng huì, jué bù dāng tóu, yŏu suŏ zuò wéi, , , , , ).23 Deng riet China für seinen Aufstieg zu Bescheidenheit und Demut, doch weil Chinas politische Entscheider Amerika für einen gestürzten Riesen hielten, verhielten sie sich unmittelbar nach der globalen Finanzkrise im Umgang mit Amerika arrogant.

 

Möglicherweise hätte sich dieses Problem eindämmen lassen können, hätte China über starke Anführer wie Deng Xiaoping und Zhu Rongji verfügt. Sie hätten einen Teil dieser Arroganz zügeln können. Leider jedoch waren die Nullerjahre auch ein Jahrzehnt mit einer vergleichsweise schwachen Führung. Chinas politische Führung zählt – ähnlich wie der Kreml zu Sowjetzeiten – fraglos zu den geheimnisvollsten Institutionen der Welt, dennoch ist klar, dass die Herrschaft von Hu Jintao (2003–2013) ein Interregnum darstellte zwischen der starken und disziplinierten Führung von Jiang Zemin (1993–2003) und Zhu Rongji (1998–2003) auf der einen Seite und der von Xi Jinping (2013 bis heute) auf der anderen Seite. Diese Phase relativer Schwäche führte dazu, dass sich, angeführt von Bo Xilai und Zhou Yangkong, Lager bildeten und die Korruption stark zunahm. Zugleich ließ Chinas Disziplin in seinen externen Angelegenheiten nach.

Was hätte China in den Nullerjahren mit einer stärkeren Führung anders machen können? Als es 2001 als Entwicklungsland der Welthandelsorganisation WTO beitrat, kam China in den Genuss zahlreicher Zugeständnisse, insofern hätte es als Allererstes anfangen müssen, sich langsam und stetig dieser Konzessionen zu entwöhnen. Dazu hätte es verkünden sollen, dass es als WTO-Mitglied im Rang eines Entwicklungslands zwar theoretisch das Recht genieße, diese Privilegien in Anspruch zu nehmen, dies in der Praxis aber nicht tun werde.

Chinas Wirtschaft erlebte ihre explosivste Wachstumsphase nach dem WTO-Beitritt 2001. Das BIP explodierte von 1.200 Milliarden Dollar im Jahr 2000 auf 11.100 Milliarden Dollar im Jahr 2015.24 China war so klug, seinen Beitritt in die WTO im Rang eines Entwicklungslands auszuhandeln, und das zu Recht. 2000 lag das jährliche kaufkraftbereinigte Pro-Kopf-Einkommen25 gerade einmal bei 2.900 Dollar (in etwa auf einem Niveau mit Pakistan, Bhutan, Jemen, den Kapverden, den Marshall-Inseln und Aserbaidschan). 2015 war das Pro-Kopf-Einkommen auf 14.400 Dollar gestiegen.26 Im selben Zeitraum entwickelte sich Chinas Volkswirtschaft von der Nummer 6 weltweit zur Nummer 2.

Natürlich hat es etwas offenkundig Unfaires an sich, wenn die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt (mit den größten Devisenrücklagen der Welt) für sich in Anspruch nimmt, genauso anfällig wie der Tschad oder Bangladesch zu sein und deshalb zu seinem Schutz besonderer WTO-Regelungen bedürfe. Das Paradoxe hier ist, dass China hart darum kämpfte, als Entwicklungsland eingestuft zu werden, dies in der Praxis aber nicht nutzte. Zwei Ökonomen, die sich die Bedingungen, zu denen China in die WTO aufgenommen wurde, gründlich angesehen haben, stellten folgende Beobachtung an: „Anders als gemeinhin angenommen hat China von den Vorteilen, die Entwicklungsländern beim Eintritt in die WTO zustehen, kaum welche in Anspruch genommen, abgesehen davon, dass es den Titel ‚Entwicklungsland‘ führen darf.“27 Und dennoch glaubten viele ausländische Beobachter, China nutze seinen Status als Entwicklungsland aus. Einer von Chinas besten Freunden in Amerika ist der ehemalige Finanzminister Hank Paulson. Er arbeitet persönlich stark an guten Beziehungen zu China und hat das Paulson-Institut begründet, eine Denkfabrik, die „sich der Aufgabe widmet, ein amerikanisch-chinesisches Verhältnis zu fördern, das in einer Welt, die rasche Veränderungen durchläuft, zur globalen Ordnung beiträgt“.28

Im November 2018 hielt Paulson auf einer Konferenz in Singapur eine wütende Rede, in der er gut darlegte, warum das Ausland so enttäuscht darüber ist, dass sich China hinter WTO-Regeln versteckt, die für arme Entwicklungsländer gedacht waren:

17 Jahre nach dem Beitritt zur WTO hat China seine Wirtschaft in so vielen Bereichen noch immer nicht für die ausländische Konkurrenz geöffnet. Es hält an Anforderungen für Gemeinschaftsunternehmen und Beschränkungen für ausländischen Besitz fest. Und es setzt technische Standards, Tochterunternehmen, Lizenzvergaben und Regulierung als nichttarifliche Hemmnisse bei Handel und Investitionen fest. Fast 20 Jahre nach dem Beitritt zur WTO ist das schlicht inakzeptabel. Aus diesem Grund hat die Regierung Trump erklärt, das WTO-System müsse modernisiert und verändert werden. Und ich stimme zu.29

Anschließend erklärte er, warum sich die amerikanische Geschäftswelt gegen China wandte:

Wie kann es sein, dass diejenigen, die China am besten kennen, dort arbeiten, dort Geschäfte machen, dort Geld verdienen und sich in der Vergangenheit für ein fruchtbares Verhältnis eingesetzt haben, jetzt zu denen gehören, die für mehr Konfrontation plädieren? Die Antwort findet sich in der Geschichte der abgewürgten Wettbewerbspolitik und dem langsamen Tempo der Öffnung, die sich seit fast zwei Jahrzehnten hinzieht. Das hat der amerikanischen Unternehmerschaft den Mut genommen und sie fragmentiert. Und es hat den negativen Stimmungsumschwung in der Politik und bei unseren Fachleuten verstärkt. Kurzum: Auch wenn weiterhin viele amerikanische Unternehmen in China prosperieren, hat eine wachsende Zahl von Unternehmen die Hoffnung aufgegeben, dass es jemals gleiche Wettbewerbsbedingungen für alle geben wird. Einige haben sich auf den faustischen Handel eingelassen, den Gewinn pro Aktie heute zu maximieren, während man gleichzeitig unter Einschränkungen agiert, die die künftige Wettbewerbsfähigkeit gefährden. Aber das heißt nicht, dass sie damit glücklich sind.

Noch vernichtender fiel Paulsons Urteil aus, als er darüber sprach, dass Chinas Unternehmen im Ausland bessere Wettbewerbsbedingungen vorfänden als diejenigen, die China ausländischen Firmen anbiete:

Gleichzeitig dürfen chinesische Firmen in anderen Ländern auf eine Art und Weise agieren, die ausländischen Firmen in China selbst nicht möglich ist. Das verschlimmert die grundlegenden Spannungen. Und deshalb glaube ich, dass Chinas Handeln und seine fehlende Öffnung zu dieser stärker auf Konfrontation ausgelegten Haltung in den Vereinigten Staaten beigetragen haben. […] Nicht nur, dass ausländische Technologien transferiert und geistig verarbeitet werden. Sie werden so umgearbeitet, dass ausländische Technologien im Rahmen eines Indigenisierungsprozesses zu chinesischen Technologien werden, den viele der multinationalen CEOs, mit denen ich spreche, als ausgesprochen ungerecht gegenüber den Erfindern und Schwärmern im Herzen ihrer Unternehmen empfinden.

Sollte Chinas größter strategischer Fehler in seinem Verhältnis zu Amerika darin bestanden haben, auf unnötige und unkluge Weise die amerikanische Geschäftswelt (und bis zu einem gewissen Grad auch die globale Geschäftswelt) vor den Kopf gestoßen zu haben, hätte das Ganze zumindest auch einen positiven Aspekt: Es handelt sich um einen strategischen Fehler, der korrigiert werden kann. Es sollte China möglich sein, den guten Willen und das Vertrauen der globalen Geschäftswelt zurückzugewinnen.

Bevor China allerdings mit einer neuen Initiative die globale Geschäftswelt rekultiviert, sollte es zunächst analysieren, warum und wie es einen derart grundlegenden Fehler begehen konnte. Beim internen Aufarbeiten der begangenen Fehler muss die chinesische Regierung gnadenlos aufrichtig sein und darf auch vor heiklen Themen nicht zurückscheuen.

Hier ist so ein Thema: Viele chinesische Funktionäre sind mit marxistischer Literatur und deren Ablegern vertraut. Derartige Literatur enthält viele abfällige Ansichten über Geschäftsleute. Von Lenin stammt die berühmte Aussage, Geschäftsleute würden für einen Gewinn sogar den Strick verkaufen, mit dem sie später aufgeknüpft werden. Nebenbei bemerkt habe ich das übrigens im echten Leben erlebt: Als ich von 1973 bis 1974 in Kambodscha diente, war die dortige Regierung proamerikanisch eingestellt und wurde vom amerikanischen Militär unterstützt. Das amerikanische Militär ließ für hohe Kosten Artilleriegeschosse einfliegen, die für die Verteidigung der Hauptstadt Phnom Penh vorgesehen waren. Die korrupten Generäle der proamerikanischen Regierung veräußerten diese Geschosse allerdings sofort an Mittelsmänner, die diese weiter an die Roten Khmer verkauften, obwohl diese Artilleriegeschosse dann auf die Stadt abgefeuert wurden und das Leben der Angehörigen dieser proamerikanischen Generäle gefährdeten. Kurzum: Es stimmt, dass viele Geschäftsleute opportunistisch und korrupt sein können.30

Es wäre ein schwerer Fehler der chinesischen Regierung, eine derart eindimensional leninistische Sicht auf die Geschäftswelt zu haben. Zwingt man Geschäftsleute zu einer Vereinbarung – und sei es auch eine Vereinbarung, die für sie von Vorteil ist –, werden sie im Herzen tiefen Groll gegen die chinesischen Beamten hegen, die sie zu derartigen Verträgen genötigt haben. Das gilt auch dann, wenn alles streng nach Gesetz abläuft. Der ehemalige Weltbank-Ökonom Yukon Huang, der mehrere Jahre in China gearbeitet hat, sagt, dass es gemäß der WTO-Bestimmungen absolut rechtens ist, wenn ein Entwicklungsland wie China als Vorbedingung für Investitionen im eigenen Land um einen Technologietransfer bittet: „Gemäß den WTO-Vereinbarungen zu geistigem Eigentum stehen Industrienationen ‚in der Pflicht‘, ihren Unternehmen Anreize dafür zu liefern, Technologie in weniger hoch entwickelte Nationen zu transferieren.“31

Aber selbst wenn es zutrifft, dass Chinas Forderungen rechtlich in Ordnung und legitim waren, kann es dennoch sein, dass sich ausländische Unternehmen unfair unter Druck gesetzt fühlten. Hätten sie sich geweigert, Vereinbarungen zum Technologietransfer zu unterzeichnen, wäre ihnen der Zugang zum großen chinesischen Markt versperrt geblieben. Weil sie sich diesen Zugang aber bewahren wollten, hatten die Geschäftsleute das Gefühl, keine andere Wahl zu haben – sie mussten einem Technologietransfer zustimmen. Für einige ranghohe chinesische Funktionäre mag es tatsächlich eine Überraschung sein, zu hören, dass in der westlichen Geschäftswelt Unzufriedenheit herrscht. Wann immer China ein hochkarätig besetztes Forum organisiert und die CEOs großer westlicher Geschäftswelten einlädt, kommen sie jedes Mal. Ich habe selbst an einigen dieser Treffen teilgenommen. Im März 2019 kam eine erstaunlich einflussreiche Gruppe westlicher CEOs sowie westlicher Ökonomen und Journalisten zum China Development Forum nach Peking. Zu den Teilnehmern zählten bekannte Namen wie Ray Dalio, der einen der größten Hedgefonds Amerikas leitet, Steve Schwarzman, CEO und Chairman der Blackstone Group, der Nobelpreisträger Joseph Stiglitz und der Financial Times-Kolumnist Martin Wolf.

Glücklicherweise waren mit Bob Rubin und Larry Summers auch zwei bekannte ehemalige amerikanische Finanzminister eingeladen. Sie beide sprachen offen über die Herausforderungen, denen sich amerikanische Geschäftsleute beim Umgang mit China stellen müssen.

Summers sagte, es gebe „beträchtliche Missverständnisse zwischen den Vereinigten Staaten und China“. Diese Missverständnisse seien „möglicherweise die Folge politischer Schritte und diese Missverständnisse bergen sehr substanzielle Risiken“. Er fügte hinzu: „Die Vereinigten Staaten haben berechtigte Bedenken, was Chinas Handelsgebaren in einer Reihe von Bereichen anbelangt – von geistigem Eigentum bis hin zu Joint-Venture-Bestimmungen und deren Folgen für das Teilen von Informationstechnologie.“ Er räumte allerdings auch ein: „Es gibt keine verlässliche Berechnung, wonach das BIP der USA selbst dann mehr als ein Prozent größer wäre, hätte China in wirtschaftlicher Hinsicht sämtlichen Wünschen Amerikas nachgegeben.“

Einige Äußerungen, die Summers in Peking traf, mögen für seine chinesischen Gastgeber sehr unbequem gewesen sein, aber er vermittelte Peking ein klares Signal: Nur weil die VIPs der Weltwirtschaft ungebrochen bereit sind, an hochkarätig besetzten Foren in China teilzunehmen, sollten die Chinesen das nicht dahingehend werten, dass zwischen China und den westlichen Geschäftswelten alles in bester Ordnung sei. Form und Inhalt sollten nicht verwechselt werden. Dieselben CEOs, die an hochkarätigen Treffen in China teilnehmen, haben es in ihren Unternehmen möglicherweise mit verstimmten Kollegen zu tun, die dauerhaft unglücklich über die Geschäftsbedingungen in China sind. Aus diesem Grund wäre es für China klug, auf hoher Ebene eine politische Entscheidung zu treffen und große Anstrengungen zu unternehmen, das Vertrauen und das Wohlwollen der westlichen Geschäftswelt zurückzugewinnen, natürlich auch der amerikanischen Geschäftswelt.

 

China ist ein gewaltiges Land. Chinas Kommunistische Partei ist stark und herrscht effektiv, dennoch wird es China nicht leichtfallen, über Nacht Gewohnheiten und Gepflogenheiten von über 100 Millionen Beamten zu verändern, die auf die eine oder andere Weise mit ausländischen Unternehmen zu tun hatten. Viele Systeme und Prozesse, Gewohnheiten und kulturellen Aspekte sind seit Jahrzehnten fester Bestandteil des gewaltigen Regierungssystems des Landes. Es wäre völlig unrealistisch zu glauben, man könne all diese etablierten Abläufe und Sitten auf einen Schlag ändern.

Damit das gewaltige chinesische System eine Kehrtwende einlegen kann, müssen die Chinesen zunächst eine weitreichende philosophische Entscheidung treffen, gefolgt von einigen innovativen praktischen Schritten. China muss sich einigen harten Fragen stellen: Was führte dazu, dass ein großes Land wie China durch kleinere westliche Mächte ein Jahrhundert der Erniedrigung erlitt? Vom Jahr 1 bis zum Jahr 1820 lag die chinesische Wirtschaft auf Augenhöhe mit dem Rest der Welt. Wie konnte sie dann derart zurückfallen? Warum haben die klugen Köpfe am Hofe des chinesischen Kaisers nicht erkannt, dass sich die Welt dramatisch gewandelt hatte?

Hauptursache für die gewaltige Blindheit der chinesischen Staatsdiener im 19. Jahrhundert war die enorme philosophische These, China als großes, sich selbst genügendes Reich der Mitte müsse sich nicht auf die Welt einlassen. China habe alles, was es benötige, beschied Chinas Kaiser Qianlong dem britischen Gesandten Lord Macartney. Den Rest der Welt benötige es nicht.

Das schmerzhafte Jahrhundert der Erniedrigung brachte China schließlich dazu, sich zu öffnen. Deng traf diese Entscheidung aus pragmatischen Gründen heraus und die Öffnung funktionierte: Chinas Wirtschaft boomte. Dennoch stellt sich die Frage: Erachten die Chinesen diese Öffnung als vorübergehende Maßnahme für den Zeitraum, bis China wieder stark ist? Hegen sie den Wunsch, eines Tages zu ihrer „Reich der Mitte“-Mentalität zurückzukehren und Handel mit der Welt zu betreiben, sich kulturell dabei aber abzukapseln?

Als China Mauern errichtete und nicht mehr mit dem Rest der Welt kommunizierte, fiel es zurück. Als China sich der Welt öffnete, blühte es auf. Um seinen Erfolg auch langfristig zu garantieren, sollte China seine 2.000 Jahre alte „Wir sind das Reich der Mitte“-Mentalität komplett abstreifen und beschließen, beim wirtschaftlichen Austausch mit dem Rest der Welt zur offensten aller Gesellschaften zu werden. Nur ein derartiges großes Umdenken würde es den chinesischen Staatsdienern ermöglichen, ausländischen Unternehmen, auch jenen aus Amerika, den roten Teppich auszurollen.

Mehrere führende amerikanische Politiker, darunter der ehemalige Präsidentschaftskandidat Marco Rubio, haben einen Gesetzentwurf angeschoben, der chinesische Investitionen in Amerika und den Transfer amerikanischer Technologie nach China beschneiden soll. Rubio hat sich zudem wiederholt hetzerisch über China geäußert:

China hat die Welt in den vergangenen zwei Jahrzehnten zu dem Glauben verleitet, es werde die auf Regeln basierende internationale Ordnung annehmen und ein verantwortungsbewusster Akteur werden. […] Jetzt versucht China erneut, die Welt hinters Licht zu führen, indem es ausländische Regierungen dazu verlockt, sich der „Belt & Road“-Initiative anzuschließen. Dazu werden ihnen üppige Versprechungen im Hinblick auf chinesische Investitionen in ihre Infrastrukturprojekte gemacht.32

Es wäre absolut natürlich, wenn chinesische Entscheider auf derart provokante Äußerungen genauso emotional reagierten. Es wäre allerdings auch unklug und würde vielen chinesischen Strategiegeboten zuwiderlaufen, die predigen, gelassen auf Provokationen zu reagieren. Sun Tzu beispielsweise empfiehlt: „Erwarte diszipliniert und ruhig, dass sich Unruhe und Wirrwarr beim Feinde breitmachen – dies ist die Kunst, die Selbstbeherrschung zu bewahren.“ Auch diese Fabel von Äsop enthält einen Ratschlag, der China von Nutzen sein kann:

Einst stritten sich Sonne und Wind darüber, wer von ihnen beiden der Stärkere sei. Und man ward sich einig: Derjenige solle dafür gelten, der einen Wanderer, den sie eben vor sich sahen, am ehesten nötigen würde, seinen Mantel abzulegen.

Sogleich begann der Wind zu stürmen; Regen und Hagelschauer unterstützten ihn. Der arme Wanderer jammerte und zagte; aber auch immer fester und fester wickelte er sich in seinen Mantel ein und setzte seinen Weg fort, so gut er konnte.

Jetzt kam die Reihe an die Sonne. Senkrecht und kraftvoll ließ sie ihre Strahlen herabfallen. Himmel und Erde wurden heiter; die Lüfte erwärmten sich. Der Wanderer vermochte nicht länger den Mantel auf seinen Schultern zu erdulden. Er warf ihn ab und erquickte sich im Schatten eines Baumes, indes die Sonne sich ihres Sieges erfreute.

Zehnmal sicherer wirken Milde und Freundlichkeit als Ungestüm und Strenge.33

Selbstverständlich wird die chinesische Regierung dem Volk ausführlich erläutern müssen, warum China seine Grenzen für mehr ausländische Unternehmen (inklusive jener aus Amerika) öffnet, wo doch chinesische Unternehmen in ausländischen Märkten verstärkt über Schwierigkeiten berichten, und das insbesondere aus Amerika. Der zentrale Punkt hier: Dem chinesischen Volk muss klar werden, dass es für Chinas strategische Langzeitinteressen vorteilhaft wäre, wenn das Land seine Wirtschaft weiter öffnete, ungeachtet dessen, dass die Regierung Trump höhere Hürden für ausländische Unternehmen aufgeworfen hat, die in Amerika investieren oder dort ihre Produkte verkaufen wollen. Mit der Zeit werden mehr Länder mehr Handel mit China betreiben als mit Amerika und dort mehr investieren als in Amerika. In vielerlei Hinsicht ist das bereits heute der Fall. Die Zahl der Nationen, die stärker Handel mit China als mit Amerika betreiben, liegt bei über 100. Und der Trend wird sich fortsetzen. Chinas Anbindung an die Weltwirtschaft ist zwar im Sinken begriffen, aber ein Bericht von McKinsey vom Juli 2019 wirft ein Schlaglicht darauf, wie die Anbindung der Welt an China spürbar zunimmt, was „Chinas wachsende Bedeutung als Markt, Lieferant und Kapitalgeber widerspiegelt“.34

Betreiben mehr Länder mehr Handel mit China, wird dieser Prozess China unter dem Strich einen großen strategischen Vorteil verschaffen. Viele Vertreter der Regierung Trump glauben offen oder insgeheim, Chinas Wirtschaftswachstum lasse sich am besten verlangsamen, indem man die Volkswirtschaften von China und Amerika Schritt für Schritt voneinander abkoppelt. Doch Bemühungen Amerikas, sich von China abzukoppeln, könnten durchaus dazu führen, dass sich Amerika von der Welt abkoppelt. MIT-Präsident L. Rafael Reif sagte: „Wenn wir als Reaktion auf Chinas Ambitionen nichts weiter unternehmen, als die Tür doppelt zu versperren, werden wir uns nach meinem Dafürhalten in der Mittelmäßigkeit einschließen.“35 Was er damit sagen möchte, sollte China gut nachvollziehen können. Als China sich vor der Welt zurückzog, schloss es sich in der Mittelmäßigkeit ein. Aus diesem Grund sollte China seine „Wir sind das Reich der Mitte“-Philosophie aufgeben und sich stattdessen stärker auf die Welt einlassen.

Ein Umdenken in der Philosophie muss mit praktischen Schritten einhergehen, die ein günstigeres Klima für ausländische Unternehmen in China erschaffen. Die chinesische Regierung könnte entsprechende Direktiven erlassen, aber obwohl China ein gut regiertes Land ist, wäre es ein Fehler, sich einzig auf Erlasse von oberster Stelle zu verlassen. Wichtiger ist, was vor Ort geschieht oder, um einen amerikanischen Ausdruck zu zitieren, dort, „wo der Reifen die Straße berührt“. Der Schlüssel liegt in der Umsetzung.