Buch lesen: «Der Erzählstein»

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Khalid Aouga

Der Erzählstein

Roman

Edition Lighthouse

Impressum

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Copyright © 2019 bei EDITION Lighthouse, ein Imprint von BC-Publications GmbH, Behringstr. 10, D-82152 Planegg

1. Auflage 2019

Lektorat: und Korrektorat: Sylivia Kling

Satz/Layout: Martina Stolzmann

Covergestaltung: Nele Schütz

E-Book: Mirjam Hecht

Druck: CPI – Clausen & Bosse, Leck

Made in Germany

ISBN 978-3-941717-52-7

www.bc-publications.online

Widmung

Meiner Mutter, die aus einer Welt zu stammen scheint,

in der Menschlichkeit und Aufopferung als selbstverständlich gelten.

Kapitel 1

Was das Leben lebenswert macht oder was es überhaupt ausmacht, vermag ich nicht zu sagen. Wer kann das schon. Doch erzählen kann ich von meinem Leben, das ich erst zu schätzen lernte, als alles verloren schien.

Es ist nur der Versuch einer Skizze, bei der man zaghaft den Stift hier und dort ansetzt, bevor man die Linien nachzieht. Und bei einem Leben ist es noch weniger als das. Es ist der Versuch, ein schönes Gedicht zu lesen, welches man mit dem Finger auf der Oberfläche des Meeres schrieb, und man kann sich nur schemenhaft an den eigenen Schatten erinnern, der sich über das Wasser beugte und den Finger zum Schreiben ansetzte. Ich schrieb viele Gedichte, vor denen das Meer und mein Schatten flüchteten, die ich aber suchen musste, um leben zu können.

Ich begab mich an einem schönen Sommer auf die Suche, besser gesagt, ich wurde von den Ereignissen auf die Suche geschickt.

Die Wege für meine Reise wurden an einem Sommerabend geebnet. Ich war mit Freunden in der Stadt, wir aßen beim Chinesen und gingen dann auf der Rheinpromenade spazieren. Es war ein schöner Abend, doch irgendetwas regte sich in mir und wühlte mich so sehr auf, dass ich beschloss, früher nach Hause zu fahren als ich eigentlich geplant hatte. Ich entschuldigte mich bei meinen Freunden und ging zur U-Bahnstation. Obwohl ich Autos in aller Welt exportierte oder gerade deswegen, fuhr ich am liebsten mit der Bahn.

Bevor ich die Treppe zur U-Bahnstation abstieg, rief ich meinen Cousin Ali in Beirut an, um mich zu erkundigen, ob es etwas Neues über meinen Vater gab. Er war seit vier Tagen spurlos verschwunden. Es gab leider keine neuen Erkenntnisse.

Die U78 kam, ich stieg ein und setzte mich. Die beiden Männer, die direkt auf der Bank hinter mir saßen, redeten leise, aber nicht leise genug. Sie sprachen in einer Mischung aus Deutsch und Arabisch. Ich denke, deshalb waren sie unvorsichtig.

»Es ist soweit, wir müssen nur noch eine Linie aussuchen und den Zeitpunkt bestimmen«, sagte einer der Beiden. »Müssen wir das nicht mit Salah besprechen?«, fragte der Andere. »Nein, wir müssen nur so viele wie möglich mitnehmen.« Das Gespräch setzte sich fort. Ich bin fast in Panik geraten. ›Was soll ich tun, was soll ich denn nur tun‹, dachte ich.

In diesem Moment glaubte ich, jeder könne meine Gedanken hören, da ich das Gefühl hatte, es würde in mir schreien. Ich schaute in die Gesichter der anderen Fahrgäste, doch niemand regte sich. Alle sahen so aus wie in den Minuten zuvor. Ich nahm das Handy aus meiner Jackentasche und wählte die »110«. Nichts passierte. Ich hatte keinen Empfang.

›Okay, ganz ruhig bleiben und nachdenken, es sind noch zwei Haltestellen bis zum Hauptbahnhof. Die U78 endet dort. Entweder steigen sie an der »Oststraße« oder am Bahnhof aus‹, dachte ich.

Ich bereitete mich darauf vor, ihnen zu folgen.

Die Bahn hielt an der »Oststraße« an. Niemand stieg aus und nur ein japanisches Pärchen stieg ein. Als sich die Türen schlossen und die Bahn losfuhr, stand ich auf und stellte mich an der Tür so hin, dass ich die beiden Männer im Blickfeld hatte. Ich konnte ihre Gesichter nicht sehen, nur ihre Hinterköpfe. Ein älteres Paar, welches direkt an der Tür saß, stand auf. Der Mann sah mich an und zog seine Frau hinter sich zur nächsten Tür. Ich schaute ihnen nach, ohne zu wissen, warum.

Die beiden Männer standen endlich auf und gingen zur ersten Tür. ›Sie werden den hinteren Ausgang in Richtung Oberbilk nehmen, der liegt in Fahrtrichtung‹, dachte ich. Die Bahn hielt an, alle stiegen aus. Die zwei Männer nahmen wie die meisten Leute die Rolltreppe. Ich rannte die Treppe hoch. Oben angekommen suchte ich wie ein Verrückter nach einer Polizeistreife. Zu meiner Erleichterung standen drei Polizisten vor einem Geschäft, das gerade von zwei Verkäuferinnen abgeschlossen wurde. Ich wollte am liebsten schreien: »Da sind zwei Terroristen!« Aber es schien mir doch zu gewagt. Stattdessen bin ich fast zu ihnen gerannt. »Sehen Sie die zwei Männer, die gerade durch die Tür gehen?«, sprach ich den kleinsten der drei Polizisten an. Sie schauten alle drei gleichzeitig zur Tür. »Schwarze Lederjacke und beige Stoffjacke, beide mit Schultertaschen?«, fragte er mich. »Ja, ich glaube, sie planen einen Anschlag.« Ich war sehr erregt und irgendwie doch froh, es endlich aussprechen zu können. Ich spürte in mir einen ungeheuren Druck. »Wie kommen Sie darauf?«, fragte er mich mit aufgerissenen Augen. »Ich habe ihr Gespräch in der U-Bahn gehört.« »Okay, okay, beruhigen Sie sich«, sagte er zu mir und wandte sich seinem Kollegen zu. »Haltet die beiden auf. Ich bleibe mit dem Herren hier und rufe die von der Anti.« Seine Kollegen gingen los, er nahm ein Handy aus der Hosentasche, betätigte es und hielt es sich ans Ohr. »Frank, ich habe was für euch. Ja, … wir stehen Gleis 18, … ja, unten.« Nachdem er aufgelegt hatte, sagte er zu mir: »Die Kollegen sind in ein paar Sekunden hier.« Ich nickte und beobachtete das Geschehen draußen weiter. »Gehen Sie bitte etwas zurück, denn die Zwei dürfen Sie auf keinen Fall sehen«, sagte er und drückte mich mit der Hand leicht an der Schulter, um mich zum Gehen zu bewegen. Wie erstarrt stand ich da. In diesem Moment hatte ich das Gefühl, nicht in der Lage zu sein, mich selbständig zu bewegen.

Es kam mir alles so unwirklich vor. Es mischte sich mit meinen Träumen und meinen Erinnerungen aus den Straßen von Beirut. Bilder und Geräusche wurden in mir lebendig: der Lärm der Maschinengewehre, Granaten, Sirenen, die Schreie von Menschen und das Bild meines Vaters, der meinen Bruder Christopher trägt, mich hinter sich herziehend.

»Geht es Ihnen gut, ist alles in Ordnung?«, fragte mich der Polizist, wobei er mich mit seiner rechten Hand leicht am Oberarm berührte. Er sagte mir, dass die Beamten der Antiterroreinheit jeden Augenblick bei uns sein werden, da sie sich im Bahnhof befanden. Kaum hatte er zu Ende gesprochen, standen schon zwei Männer vor mir. Einer trug Lederjacke und Jeans, der andere eine verwaschene Militärjacke. Es ging alles so schnell. ›Warum kommen direkt die Männer von der Antiterroreinheit? Warum prüft man nicht erst mal alles nach oder ist das die übliche Vorgehensweise? Nicht, dass die zwei Verdächtigen jetzt nach Syrien, in die USA oder wer weiß wohin verfrachtet werden‹, dachte ich. Alles war möglich, wenn Staaten in Panik gerieten. Die beiden Männer, die nun vor mir standen, sahen nicht gerade vertrauenerweckend aus, was mir noch mehr zusetzte. Der in Lederjacke gab mir die Hand, sah mich mit dem Blick eines Zerberus an, der die Reisepässe der Gestrandeten vor den Pforten seiner persönlichen Hölle überprüft und sagte »Herr Talal, kommen Sie bitte mit uns mit.« ›Was geht hier vor? Ich habe doch niemandem meinen Namen verraten.‹ Er merkte, dass mir das Ganze nicht gefiel und sagte beschwichtigend: »Es geht um Ihren Vater, nur soviel kann ich Ihnen verraten, der Rest wird Ihnen unser Chef erzählen.«

Kapitel 2

Mein Vater wurde 1941 im Südlibanon geboren. Mit dreizehn Jahren ist er alleine nach Beirut gezogen, da er große Schwierigkeiten mit seinem Vater hatte. Er wohnte bei einem Verwandten im Hinterhof und arbeitete in einem Lebensmittelgeschäft. Seine Aufgabe bestand anfangs darin, den Kunden die Einkäufe nach Hause zu tragen und den Laden zu putzen. Er verdiente nicht viel und nicht genug, um davon leben zu können. Doch die meisten Kunden hatten ihn ins Herz geschlossen und schenkten ihm Kleidung und Schuhe, die ihren Kindern nicht mehr passten. Die Mahlzeiten bekam er meistens von seinem Chef, von den Kundinnen und ihren Haushälterinnen. Ein Zubrot hatte er sich dadurch verdient, dass er nur ein Teil der ihm geschenkten Sachen behielt und den Rest verkaufte. Mit dem Geld, das er verdiente, ging er sehr sparsam um. Fast nichts davon gab er aus, außer für seine ersten Bücher. Als die Kunden seine Leselust bemerkten, erhielt er auch Bücher geschenkt oder geliehen. Es sprach sich im Viertel schnell um, dass er lesen und schreiben konnte.Von da an verwandelte sich der Laden in ein Schreibbüro. Er las den Leuten Briefe vor, die sie von ihren Verwandten bekamen und schrieb für sie, auch in sehr vertraulichen Angelegenheiten. Die Menschen rechneten es ihm hoch an, dass er trotz seines jungen Alters deren Geheimnisse für sich behielt. Seitdem trug er den Spitznamen »Alamin«. Er war sehr glücklich über diese Bezeichnung, denn auch den Propheten Mohammed nannte man schon in seiner Jugend »Alamin«, was soviel bedeutet wie »der Vertrauenswürdige« oder »der Bewahrer des Anvertrauten«. Es hieß: »Geh zu Hassan, Hassan Alamin, der kann für dich schreiben.« Oft wurde entgegnet: »Aber das ist sehr vertraulich.« Sie antworteten:

»Für unseren Alamin nicht.« Es wurde erzählt, dass die Polizei ihn eines Tages abholte. Als sie ihn nach zwei Tagen vor dem Laden absetzten, konnte er nicht laufen und auch nicht sprechen. Sein Chef, der ihn mittlerweile wie seinen eigenen Sohn behandelte, rannte aus dem Geschäft hinaus, als er ihn sah und trug ihn mithilfe von anderen Nachbarn in seine Wohnung über dem Geschäft. Er stotterte nur, dass er nichts verraten habe. Er war ein Held, mit Fünfzehn ein Held. In einer Zeit, in der erwachsene Männer für einen schönen Abend ihr Land verkauften.

Es war das Jahr 1956. Israel, Frankreich und England griffen Abdel Nassers Ägypten an oder wie es die ach so freien Journalisten ausdrückten: »In einer Militäraktion hat Israel Ägypten angegriffen − mit der Hilfe von Frankreich und England − und konnte den größten Teil der Sinai-Halbinsel besetzen.« Die Welt funktionierte damals ganz anders, so anders, dass die Amerikaner und Russen die Israelis dazu brachten, sich aus Ägypten zurückzuziehen.

Kapitel 3

Der Chef der beiden Beamten saß hinter einem großen Schreibtisch. Als wir sein riesiges Büro betraten stand er auf, lief sieben Schritte auf uns zu und streckte mir die Hand entgegen. »Herr Talal, Rolf Bertram ist mein Name«, sagte er und führte mich zu einer Couch. »Danke meine Herren, Sie können gehen«, sagte er zu den Männern, die mich begleitet hatten, bevor er sich in einen Sessel zu meiner linken Seite setzte. Auf dem Couchtisch vor uns standen zwei Gläser, zwei weiße Tassen, eine Flasche Wasser und eine Kanne. Ich saß nur da und beobachtete den Mann, der sich anschickte, Kaffee von der Kanne in die Tasse zu schütten. »Trinken Sie einen Kaffee?«, fragte er, ohne mich anzusehen.

»Nein danke, ein Wasser wäre gut.« Als der Zerberus in der schwarzen Lederjacke mir sagte, es gehe um meinen Vater, hatte sich irgendwie ein Hebel in mir umgestellt. Ich war nicht mehr der Anton, der sich in einem Land befindet, in dem fast alles in geregelten Bahnen läuft, wo man sich in Sicherheit fühlt und wenn man sich bedroht fühlt oder verletzt ist, einfach einen Anruf tätigen muss und schon ist Hilfe unterwegs. Ich wurde zu dem Anton, der sich in Beirut befindet. In Beirut rechnet man mit allem, auch mit Dingen, die man sich nicht vorstellen kann.

Zu diesem Zeitpunkt lebte ich schon seit zwanzig Jahren in Deutschland und war nur zwei Mal in Beirut gewesen. Beide Male waren schön und schmerzhaft zugleich. Der Mann, welcher sich mir mit dem Namen Bertram vorstellte, stellte das Glas Wasser vor mir auf den Tisch. Ich hob es bis kurz vor meinem Kinn an, schaute einige Sekunden gedankenversunken in das Wasser, trank es dann in einem Zug leer und stellte es wieder ab. Er schenkte mir Wasser nach und sich selbst einen Kaffee ein. Dann erzählte er mir, dass sie selbst nicht wüssten, wo mein Vater steckte, was ihnen große Sorgen bereitete. Er könnte bei den Israelis, den Syrern oder bei irgend einer libanesischen Miliz sein. »Erzählen Sie mir bitte etwas Neues«, unterbrach ich ihn.

Als wir noch Kinder waren, wurde mein Vater aller paar Monate entführt. Das war nichts Ungewöhnliches in Beirut. Man musste nur zahlen, es war ein Geschäftszweig der Milizen.

Ich lehnte mich etwas vor und sprach weiter.

»Ich frage Sie, warum, zum Beispiel, die Deutschen sich für die Sicherheit eines Libanesen interessieren, warum Sie mich hierher bringen lassen und was die Aktion am Bahnhof zu bedeuten hat?« »Das mit dem Libanesen stimmt nicht. Ihr Vater besitzt den deutschen Pass«, sagte er nicht sehr überzeugend. »Da unten brodelt es zurzeit so sehr, dass wir sein Verschwinden sehr ernst nehmen müssen.« Er machte eine dieser gelernten Pausen, zumindest wirkten diese Pausen auf mich künstlich. Bestimmt zählte er jedesmal bis fünf, bevor er weiter sprach. »Es sieht so aus als ob wir kurz vor einem Krieg stehen«, führte er fort und zog die Stirn dabei kraus. Ich wollte ihm am liebsten sagen: ›Ihr verdammten Geheimdienste seid mit euren Lügen und Intrigen für die ganzen Kriege verantwortlich‹, doch ich sagte kein Wort, beobachtete ihn um so intensiver. In meinem Kopf schwirrten Worte und Bilder herum, die uns Menschen in letzter Zeit geprägt hatten und wie ich zu meiner Enttäuschung feststellen musste, mich eingeschlossen. Guantanamo, Abughoraib, Kampf der Kulturen, die falsche Moschee und die Geschichte des Deutsch-Libanesen, der vom CIA entführt und gefoltert wurde.

›Anton‹, dachte ich, ›du bist zwar in Deutschland, aber dieses ist wahrscheinlich ein recht freier Raum.‹ Ich schaute instinktiv zu den beiden großen Fenstern, ›Kann man sie mit den Griffen öffnen oder sind es nur Attrappen?‹ Wie nah Beirut doch sein konnte. Er merkte, dass ich ihm nicht zuhörte und schwieg eine Weile. Erst als ich ihn wieder ansah, sprach er weiter. »Offiziell wissen wir nichts von seinem Verschwinden, deshalb können wir eigentlich auch nichts unternehmen.« Er presste seine Lippen zusammen und zeigte auf mich. »Da kommen Sie ins Spiel.« »Wie stellen Sie sich das vor? Soll ich mich in Beirut mitten auf die Straße stellen und wie ein Kind nach meinem Vater rufen?« »Sie müssen nur so tun als ob, den Rest erledigen andere Leute.«

»Bertram, ist das ihr richtiger Name?« Ohne die Antwort abzuwarten, sagte ich: »Sie haben Zweifel, was meine Loyalität als ein Bürger dieses Landes angeht. Deshalb haben Sie das Theater in der U-Bahn veranstaltet.« »Es war nicht meine Idee«, sagte er.

»Denken Sie, dass das Misstrauen der Muslime dem deutschen Staat gegenüber gerechtfertigt ist?« fragte ich. »Nein, ist es nicht«, antwortete er . »Solange Menschen wie Sie das denken, ist es doch«, sagte ich und erklärte ihm, dass ich ohnehin vorhatte, nach Libanon zu fliegen.

Kapitel 4

Während meiner Abwesenheit musste sich mein Bruder Christopher um das Geschäft kümmern. Es waren Sommerferien, da lief nicht viel und wir hatten mehr als genug Autos auf dem Platz stehen. Christopher war zwei Jahre jünger als ich. Als er 1974 auf die Welt kam, bekam er den Namen Mohammed und ich hieß noch Omar. 1975 brach erneut der Bürgerkrieg aus. Unsere Namen änderte Vater aus Angst um uns und wir zogen nach Ost-Beirut, dem christlichen Teil Beiruts. Er hatte hoch gespielt und uns damit das Leben gerettet.

Christopher war ein wunderbarer Mensch. Wir waren auch als Erwachsene immer zusammen. Ich liebte ihn über alles. An dieser Liebe hat sich bis heute nichts geändert. Er war so ehrlich und geradlinig, dass die meisten ihn seltsam fanden. Er war sehr ernst, außer wenn wir alleine waren. Auf der Liste meiner liebsten Menschen stand er an erster Stelle. Was ihn anging, kannte ich keine Kompromisse.

Ich hatte einmal eine Freundin. Wir waren gerade eine Woche zusammen, als sie mich im Laden besuchte. Ich begleitete sie zum Büro, wo Christopher gerade ein Telefonat beendet hatte. »Gerade ist eine Ladung Autos gekommen, ich muss abladen, bevor die Geier vom Ordnungsamt kommen«, sagte ich.

»Das ist mein Bruder Christopher … Christopher, das ist die Tanja.« Und ich ließ sie alleine, um meine Arbeit zu erledigen.

Bevor ich mit dem Abladen fertig war, sah ich, wie Tanja aus dem Büro kam und sich hastig eine Zigarette anzündete. ›Sie ist bei ihm schon durchgefallen‹, dachte ich. Er wusste, dass eine Frau, die einen arabischen Mann haben wollte, auch seine ganze Familie bekam. Würde sie ihn alleine für sich haben wollen, so würde sie ihn, sich selbst und seine Familie unglücklich machen. Familie bedeutete Eltern, Geschwister, Nichten, Neffen, Tanten, Onkels, Cousinen und Cousins und zwar nicht nur ersten Grades. Christopher sagte, man musste den westeuropäischen Frauen gegenüber von Anfang an ehrlich sein, damit sie wussten, worauf sie sich einließen, bevor es zu spät war.

Ich hatte die Autos abgeladen. Bevor ich sie gemeinsam mit unserem Mitarbeiter Khalil vernünftig parkte, ging ich ins Büro, um uns Wasser zu holen.

»Hi Tanja, ich wusste gar nicht, dass du rauchst,« sagte ich beim Vorbeigehen und öffnete die Tür zum Büro. Das Büro befand sich in einem Baucontainer. Diese Tatsache vergaß man, sobald man darin war. Es war mindestens genauso modern eingerichtet wie die Büros in den Hochhäusern. Der Boden war mit dunklem Parkett ausgelegt, die Wände waren in der Farbe beige gehalten, verziert mit einigen wenigen Ornamenten in verschiedenen braunen Schattierungen. Die Möbel, vom Schreibtisch über die Kommode bis hin zu den Stühlen, rundeten in den Farben weiß und braun das geschmackvolle Bild im Raum ab. Es war Christophers Werk. Er hatte ein Händchen dafür.

Ich stand vor dem Kühlschrank, drehte mich zur offenen Tür und fragte Tanja, ob sie etwas trinken möchte. Sie lehnte ab. Christopher kontrollierte die Einfuhrpapiere. Er ging gerade die Listen durch, bevor er die Papiere in die jeweiligen Ordner heftete. Als er merkte, dass ich ihn ansah, hob er seine Schultern und zog seine Augenbrauen hoch. Ich nahm zwei Flaschen Wasser, eine für mich und eine für Khalil, ging wieder nach draußen und schloss die Tür hinter mir. Ich schaute zu Tanja, um ihr zu sagen, dass ich noch ca. eine Stunde bräuchte. »Kann ich dich kurz sprechen?«, kam sie mir zuvor. Eigentlich hatte ich keine Lust zu reden. Sie hatte mich auf der Arbeit überfallen, was ich gar nicht mag und außerdem gab es noch eine Menge zu tun.

»Worum geht es«, fragte ich noch freundlich. »Weißt du, dein Bruder …«, setzte sie an. »Schau mal Tanja«, unterbrach ich sie. »Damit wir uns verstehen: Wenn man tausend Tanjas auf die eine Waagschale und das Lächeln meines Bruders auf die andere lege, dann würde sein Lächeln schwerer wiegen.« Kaum hatte ich zu Ende gesprochen, bedauerte ich meine Worte schon. Woher sollte sie wissen, wieviel mir Christopher bedeutete. Sie war nicht dabei, als eine Autobombe unsere Mutter zu Boden riss. Wie wir neben ihr saßen, die Blutlache unter ihrem Kopf immer größer wurde, bis wir in ihr saßen und sie mit geschlossenen Augen sprach: »Lass deinen Bruder nie im Stich.«

Ich war davon überzeugt: Ihre Worte galten mir. Nur ein paar Tage später musste ich auf eine schreckliche Weise erfahren, dass Christopher der gleichen Überzeugung war.

Es hatte heftige Kämpfe gegeben. Christopher und ich mussten uns unter einem LKW verstecken.

Während einer Feuerpause wollten wir so schnell wie möglich nach Hause. Dort angekommen standen neben unserem Hauseingang vier Männer um einen Handkarren, der mit einem dunklen Stoff bedeckt war. Wir gingen an den Männern vorbei. Da packte mich einer von ihnen an der Schulter und drehte mich mit einem heftigen Ruck um. »Wie heißt du, mein Junge?«, fragte er mich. »Anton«, sagte ich.

»Wenn das kein Zufall ist«, sagte er, den anderen Männern zugewandt. Er beugte sich zu mir, blickte mir mit seinen wahnsinnig wirkenden, blutunterlaufenen Augen tief in die meinen und sagte: »Ich heiße auch Anton. Ich habe eine ehrenvolle Aufgabe für dich.«

Ich sollte die Karre die Straße hinunter schieben und genau an der zweiten Kreuzung, nach dem Friseurladen, umkippen. »Und danach rennst du so schnell du kannst nach links«, sagte er, zeigte mit seiner Hand nach links und fragte mich: »Wo lang läufst du dann?« »Nach links«, antwortete ich.

»Gehe ins Haus«, sagte ich zu Christopher. Er schüttelte nur den Kopf. »Gehe nach Hause, habe ich dir gesagt«, schrie ich. Der Mann schlug Christopher so fest mit der offenen Hand ins Gesicht, dass er auf den Boden fiel. »Warum hörst du nicht auf deinen Bruder?!« Ich wollte auf den Mann losgehen, sah ihn aber eindringlich an, um mir sein Gesicht fest einzuprägen.

Aus der Karre roch es stark nach Blut und mir wurde langsam übel. Christopher stand auf. Er blutete aus der Nase. Sein Blut vermischte sich mit dem Blut in der Karre. Er klammerte sich an meinen Arm und sagte schluchzend: »Ich darf dich nie im Stich lassen.«

Die Wut vertrieb meine Angst und die Übelkeit. Ich packte die beiden Griffe der Karre und drückte sie nach unten um das vordere Untergestell vom Boden abzuheben. Christopher ließ mich nicht los.

Ich schob, aber ich durfte nicht weinen. Ich musste tapfer sein und dachte angegestrengt nach. Nachdenken war wichtig, um zu überleben. Mühsam schob ich die Karre bergan. Das Blut, welches anfangs aus der Karre tropfte, floss mir nun auf die Schienbeine und kroch mir in die Schuhe. Ich durfte mich nicht ablenken lassen.

Kurz vor der zweiten Kreuzung hörte ich Männerstimmen und Geräusche aus einem Funkgerät, die von der rechten Seite zu kommen schienen. Als ich die Karre an der Kreuzung auf den Asphalt kippte, rollten Köpfe von der Ladefläche unter dem Tuch hervor. Sie rollten einige Meter, bevor sie zum Stillstand kamen.

Christopher stand mit aufgerissenen Augen da und starrte sie an. »Masken, Masken«, sagte ich und zerrte ihn hinter mich. Aber statt nach links zu gehen, begannen wir nach rechts zu rennen. Von den Geräuschen der Karre und den Köpfen wurden die Männer, die nicht weit von der Kreuzung standen, alarmiert. Ich konnte ungefähr zehn Männer ausmachen. »Es waren die Falanjisten!«, rief ich noch im Laufen den Männern zu. »Die stehen da oben!« »Wo genau?«, rief der Mann mit dem Funkgerät. »Hausnummer 37!« Nur zwei liefen in die Richtung, aus der wir kamen. Die restlichen nahmen einen anderen Weg. Sie ließen uns einfach stehen. Auch sie mussten tapfer sein.

Wir gingen nach einer Weile bis zur Ecke zurück und warteten. Ich stellte mich so hin, dass Christopher die auf der Straße zerstreut liegenden Köpfe nicht sehen konnte. Nicht sehen sollte.

Dann Schüsse, Stimmen, laute Stimmen und – Stille.

Wir gingen die Straße hoch. Die zehn Männer kamen uns wieder entgegen. Acht von ihnen zogen paarweise einen der vier Falanjisten an den Hosenbeinen hinter sich her. Als sie an uns vorüber gingen, blieben wir stehen. Unsere Blicke richteten sich auf die Männer, die auf dem Boden geschleift wurden. Das Gesicht eines Mannes hatte sich schon längst, und das für immer, in mein Gedächtnis eingebrannt.

Als das makabere Defilee vorüber war und wir noch an Ort und Stelle standen, kam der Mann mit dem Funkgerät zu uns zurück. Wir sahen ihn stumm an. Er blieb einige Sekunden ebenso stumm wie wir stehen, beugte sich dann zu uns hinunter und sagte: »Geht nach Hause.«

Der kostenlose Auszug ist beendet.

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