Buch lesen: «Frevlersbrut», Seite 4

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Schwelle

Myn liegt auf ihrem Rücken und starrt hinauf in das begrünte Geäst eines Baumes, der ihr riesig erscheint, obwohl ihr Richard Shelton versichert hat, dass seine Dimensionen für die Erde keineswegs außergewöhnlich sind. Da um sie herum noch eine ganze Reihe weiterer Exemplare derselben Sorte stehen, glaubt sie dem Terraner. Er hat eine Pause vorgeschlagen nach all dem, was sie ihm gerade erzählt hat, und sie hierhergebracht, zwischen die Bäume und ins Grüne. Myn verwundert das nicht. Sie liegt auf einer grauenvoll bunt karierten Picknickdecke, die ihrerseits auf unerhört dichtem, weichem Gras gebettet ist. Die Wiese ist mit winzigen Blumen durchsetzt, die sich stellenweise zu kleinen Grüppchen zusammenfinden, und wirft sanfte Hügelchen, die Myn an ihr heimatliches Meer erinnern. Richard Shelton sitzt neben ihr auf der Picknickdecke und kaut an einem Sandwich, das Myn ihm zuvorkommenderweise übrig gelassen hat. Wenn ihn die Mengen verwundern, die diese entortete Singisin zu verschlingen in der Lage ist, sagt er es nicht. Es wird langsam kühl um die beiden herum, aber keiner macht Anstalten, ihr improvisiertes Picknick abzubrechen. Mich stört die abendliche Kühle auch nicht weiter, und ich lasse mich recht unverblümt neben Richard Shelton auf seiner hässlichen Decke nieder. Unverblümtheit steht mir, und außerdem bin ich zu alt, um meine Gewohnheiten zu ändern. Tod tut, was Tod will. Das war schon immer so. Ich halte mich an die Regeln, das genügt, und so bemerken mich die beiden nicht. Die Blumen neigen sich mir zu, aber das ist auch alles.

Nachdenklich betrachte ich die kleine Myn. Das Leben hat viele Male an dem Feuertierchen hinterlassen. Natürlich sticht mir eines ins Auge, das sie damals schon trug, zu jener Zeit, von der sie ihrem terranischen Zuhörer erzählt. Es hat einen silbrigen Schimmer und ist an einer seltsamen Stelle: hinter ihrem rechten Ohr und schräg den Nacken hinauf. Mein Himmelsreiter hat sie dort viel zu oft berührt, um kein Zeichen zu hinterlassen, schon als sie noch Kinder waren, doch da war die Geste noch unbedeutet gewesen und frei. Ich lehne mich schräg an Richard Shelton vorbei, um sanft über das silbrige Mal zu streichen, und er macht eine scheuchende Geste mit den Händen, als würde ich ihm die Sicht versperren. Er beginnt selbst schon, Zeichen auf ihr zu hinterlassen wie Fingerabdrücke auf Bienenwachs, obwohl er sie noch kaum berührt hat. Ich kichere leise und schnalze mit meinen Knochenfingern gegen sein Ohrläppchen. Ich bin eine alte Frau, ich darf so etwas.

»Schluss damit«, sagt er.

»Hm?«, macht Myn und wendet blinzelnd den Blick von dem raschelnden Geäst zu seinen strahlend blauen, befremdlich menschlichen Augen.

»Du denkst schon wieder daran.«

»Ich denke an gar nichts.« Sie schiebt ein wenig die Unterlippe vor; Myn schmollt nie anders als im Scherz.

»Aber natürlich nicht«, lautet die ironische Antwort. »Du kannst nicht dauernd im Gestern leben, Myn.«

Das Feuertierchen lächelt schief. »Ich weiß, ich weiß. Ich muss meinen Hintern in die Vergangenheit bringen.«

Das Lachen überfällt ihn völlig unerwartet, und es dauert eine Weile, bis er sich wieder gefangen hat. Als es so weit ist, liegt er neben ihr und hält sich den Bauch, Tränen in den Augen.

»Es heißt ›Ich muss meine Vergangenheit hinter mich bringen‹, Myn.«

Sie grinst ihn breit an. »Ich weiß. Das war ein Zitat.«

Er starrt sie in weitäugiger Überraschung an und fängt wieder an zu lachen. »Du bist unglaublich, weißt du das? Du bist gerade mal ein paar Wochen hier auf der Erde, und schon zitierst du uralte Filme?«

Sie wird ein wenig ernst. »Ich bin schon drei Monate hier, Rahánn. Und ich hatte nicht viel anderes zu tun.«

Er schüttelt den Kopf. »Trotzdem: ›Der König der Löwen‹, Myn?«

»Es geht um große Katzen.«

Jetzt wird auch er wieder ernst. »Ja. Aber natürlich.«

Sie schweigen ein Weilchen, nebeneinanderliegend auf der Picknickdecke, die Hände im Nacken verschränkt.

»Weißt du, was damals mit dir passiert ist?«, fragt Richard Shelton. »Als deine Mutter starb, meine ich.«

Myn zieht ihre Unterlippe zwischen die Zähne. »Der trockene Kness im Scheiterhaufen war mit frischem vermischt. Und in diesem Zustand haben die Pilze eine extrem halluzinogene Wirkung. Ich bin mir nicht sicher, was Asnuor damals damit bezweckte. Vielleicht war es ja auch tatsächlich ein Versehen, so wie sie es hinterher behaupteten. Mein Großvater legte damals einen förmlichen Protest ein und erhielt sogar eine offizielle Entschuldigung. Doch die Bilder der Menge, die euphorisch den Tod der Baummörderin feierte, waren da längst durch das ganze Reich gegangen. Wahrscheinlich habt selbst ihr sie hier in den Vereinten Planeten gesehen, nicht wahr? Irgendwelche Erklärungen über frischen Kness im Scheiterhaufen interessierten da niemanden mehr.«

»Ich erinnere mich. Das ganze Net war in Aufruhr. Bilder der Barbarei aus dem Singisischen Reich … Sagen wir mal so, es hat der öffentlichen Meinung über die Singisen nicht gerade gut getan. Und heute frage ich mich, ob Asnuor das nicht auch einkalkuliert hatte.«

»Es kam ihm jedenfalls sicher gut zustatten.« Sie sagt es gelassen, fast ohne Regung. Richard Shelton wirft ihr einen Seitenblick zu, geht aber nicht weiter darauf ein, blickt wieder hinauf in den dämmernden Himmel.

»Eigentlich meinte ich deine Halluzination«, sagt er schließlich. »Das ›flammende Katzentier‹?«

Myn versucht, mit den Schultern zu zucken, was sich in ihrer derzeitigen Position als reichlich schwierig erweist.

»Woher soll ich das wissen?«, meint sie deshalb, aber jetzt lässt sie seine Frage nicht mehr los. Sie hat das Gefühl, er kennt die Antwort besser als sie selbst, und das gefällt ihr nicht. »Feuer war dort damals genug, und das Tier … vielleicht lag es daran, dass Vairrynn mir eine Nysda später eine Katze schenkte.«

Richard Shelton furcht die Stirn. »Diese Begründung ergibt überhaupt keinen Sinn.«

Sein Stirnrunzeln wiederholt sich in Myns Gesicht.

»Da hast du recht«, gibt sie zu. Nach einem Augenblick des Schweigens, in dem nur das Summen der Bienen zu hören ist, die eifrig von Blüte zu Blüte surren, um dem Abend zuvorzukommen, fragt Richard Shelton: »Vairrynn hat dir eine Katze geschenkt?«

Myn nickt. »Ein kleines, weiß-rot geschecktes Ding mit grünen Augen. Ich nannte sie Mi, weil sie so winzig war. Ich glaube, es war sein letzter, verzweifelter Versuch, mich in die Welt zurückzuholen – und es funktionierte. Bevor Mi da war, um die ich mich kümmern musste, hatte ich mich völlig in mich zurückgezogen.«

»Das ist wohl kaum verwunderlich«, meint Richard Shelton leise. Myn lacht ein wenig, aber es ist keine Belustigung in diesem Geräusch.

»Ja, ich hatte genug von der Welt. Es brauchte ein Katzentier, um mich in sie zurückzuholen. Ist das nicht seltsam?«

»Nicht wirklich«, antwortet Richard Shelton, der das Bild einer riesenhaften, flammenden Katze nicht aus dem Kopf bekommt, auch wenn das an seiner zu großen Affinität zu romantischer Lyrik liegen mag. Der erste Vers des Blake-Gedichts pulsiert wie ein fremder Herzschlag in seinem Kopf, Tyger, Tyger, burning bright, und er wünscht sich, er hätte es irgendwann schon einmal besser verstanden.

»Ich erinnere mich nicht besonders gut an die ersten Tage nach dem Tod meiner Mutter«, redet Myn inzwischen weiter. »Ich glaube, ich sagte die ganze Zeit über kein einziges Wort, bis Vairrynn Mi auf meinen Schoß setzte. Meine Muttersmutter meinte später, ich hätte stattdessen die ganze Zeit über vor mich hin gesungen.« Sie schüttelt reuevoll den Kopf. »Ich muss meine Familie beinah in den Wahnsinn getrieben haben. Nicht, dass es dazu noch viel gebraucht hätte in diesen Tagen. Mein Vater war ohnehin nur noch ein Schatten seiner selbst und setzte kaum mehr einen Fuß aus seinem Atelier. Ob er vor unserer Verachtung floh oder vor sich selbst, weiß ich nicht. Synnda Pánn wiederum war wie eine manische Kje-Fliege ohne Königin. Sie versuchte, sich um alles und jeden gleichzeitig zu kümmern, und dann brach sie immer wieder völlig unvermittelt in Tränen aus. Der Einzige, der sich normal verhielt, war Mudmal, aber das an sich war schon wieder nicht normal. Er tat einfach so, als wäre gar nichts passiert, und das machte es so gut wie unmöglich, ihm zu helfen. Ich glaube, da war es noch einfacher, mit mir umzugehen.«

»Und Vairrynn?«

»Ich kann mich nicht erinnern«, beantwortet sie seine beiläufige Frage nicht, und zum ersten Mal, seit sie angefangen hat zu erzählen, fragt sich Richard Shelton, ob sie ihm die Wahrheit sagt. »Aber seltsamerweise weiß ich noch, was gleich nach … nach der Verbrennungszeremonie passierte, nachdem Synnda Pánn meine kleine Familie nach Hause bugsiert hatte.« Myn lacht ein wenig. »Sie und Mud waren die Einzigen von uns, die kaum unter dem Einfluss des Kness standen, und ich kann mir vorstellen, dass es eine Tortur gewesen sein muss, Vater, Vairrynn und mich durch einen Raumriss nach Naharmbra und dann in das Küstenhaus zu bekommen. Wahrscheinlich hatten sie Hilfe von einigen anderen weniger empfänglichen Neolys, aber trotzdem: armer Mud, arme Synnda. Vairrynn büxte ihnen aus, bevor meine Muttersmutter ihm etwas gegen den Kness-Rausch geben konnte; ich glaube, die Droge wirkte bei ihm noch stärker als bei mir, und das will etwas heißen. Synnda war ziemlich panisch; das ist das Erste, woran ich mich erinnere, nachdem das Antitoxin seine Wirkung entfaltete. Sie rannte an den Strand hinunter, und ich stolperte ihr hinterher, immer noch völlig desorientiert.« Myn lacht wieder, aber diesmal ist es echt. »Wir fanden Vairrynn und Ftonim im Sand kauernd, beide total durchnässt. Sie sahen aus wie gebadete Kater, und sie blickten auch ungefähr genauso betreten drein. Ftonim hatte offenbar beschlossen, das beste Mittel gegen einen Kness-Rausch sei ein Bad im Meer.« Myn lacht noch immer. »Ich meine, wir hatten damals Anfang der Sturmzeit, und das Wasser war eisig! Synnda Pánn schlug die Hände über dem Kopf zusammen, packte die beiden am Nacken wie eine entnervte Katzenmama ihre Jungen und zwang dann oben in der Villa jeden, ein heißes Bad zu nehmen. Ich glaube, wenn Vairrynn nicht gerade erst die Auswirkung eines Rauschmittels losgeworden wäre, hätte sie die beiden auch noch mit Whiskey abgefüllt.«

Myn lacht immer weiter, und es erhält eine hysterische Note. Richard Shelton dreht sich zu ihr um, stützt sich auf den Ellbogen und beobachtet sie, bis ihr Lachkrampf sich zu legen beginnt.

»Alles in Ordnung?«, fragt er schließlich. Myn nickt, ernst und ein wenig schmerzlich.

»Das Schlimme ist, dass ich noch genug unter Kness-Einfluss stand, dass ich auch damals lachte. Arme Synnda. Es war ein absurder Tag. Ich weiß auch noch, wie ich zwischen Vairrynn und Ftonim auf dem Sofa im Boudoir meiner Mutter saß, in warme Decken gewickelt und eine dampfende Tasse Suppe in der Hand.« Ein kleines, hicksendes Lachen. »Synnda hatte mich nämlich gleich mit in ihre Radikalkur integriert. Aber weißt du was? In jenem Augenblick fühlte ich mich gut. Geborgen.« Sie schüttelt den Kopf. »Erst am nächsten Tag, als ich wieder einen klaren Kopf hatte, begriff ich wirklich, was passiert war, und zog mich voll und ganz in mich zurück – bis mir Vairrynn Mi schenkte eben. Deswegen kann ich dir nicht sagen, wie Vairrynn mit dem Tod unserer Mutter umging – und mit der Tatsache, dass er sie um ein Haar selbst getötet hätte. Aber wenn ich raten müsste, würde ich sagen, dass Ftonim ihm dabei half.«

Ihre Worte überraschen ihn nicht. Er fragt sich, ob es damals begann, dieses bedingungslose Einanderzugewandtsein der beiden, das ihm einst das Blut kochen machte vor lauter Neid, aber er spricht es nicht aus.

»Weißt du, was seltsam ist?«, redet Myn weiter, die immer noch den Blättern des Baumes beim Rascheln zusieht. »Das Leben ging weiter. Einfach so. Man glaubt immer, wenn etwas so Furchtbares passiert, dass das Leben unmöglich weiter seinen Gang gehen kann. Aber das tut es. Natürlich war nichts mehr so wie vorher, aber als ich meine Mutter sterben sah, hatte ich geglaubt, das Ende der Welt sei gekommen. Und das war nicht der Fall. Nicht einmal für mich.« Myn zieht wieder ihre Unterlippe durch die Zähne. »Ich meine, ich vermisste sie wie … wie ein fehlendes Glied vielleicht, und an manchen Tagen glaubte ich, vor Schmerz umzukommen, aber ich lebte weiter.«

Richard Shelton, der die Flammen des Scheiterhaufens in ihren Augen sehen kann, glaubt ihr kein Wort. Er legt sich zurück auf den Rücken und folgt ihrem Blick in den Baum hinauf. Das ist besser.

»Es half wahrscheinlich, Synnda Pánn da zu haben. Sie und Vairrynn kümmerten sich um Mudmal und mich, und das machte es … ich weiß nicht, einfacher ist wahrscheinlich nicht das richtige Wort, aber … erträglicher. Es ist schwer, Synnda Pánn zu beschreiben. Sie ist wie … wie Erde: stark und weich zugleich. Und sie strahlt eine ungeheure Ruhe aus. Ich weiß nicht, was wir ohne sie getan hätten; Vairrynn wäre ganz auf sich gestellt gewesen.«

»Was war mit deinem Vater?«

Myn stößt einen tiefen Seufzer aus, der sein Herz vor Mitleid flattern lässt.

»Wy, mein Vater … Wie ich schon sagte, wir sahen nicht wirklich viel von ihm in dieser Zeit, und wenn wir ihn sahen …« Sie schüttelt den Kopf. »Er war blass und abgemagert, und das Flackern, das ich von seinen Wutanfällen kannte, war jetzt immer in seinen Augen. Nur war er jetzt nicht mehr wütend, sondern … ich weiß auch nicht. Er zerfiel vor unseren Augen.« Sie schluckt. »Und es war uns egal. Mir zumindest. Ich war froh, wenn ich ihn überhaupt nicht zu Gesicht bekam, denn immer, wenn ich ihn sah, musste ich an diesen Schritt denken, den er vor dem Obersten Priester zurückgetan hatte. Und wenn Vairrynn und mein Vater aufeinandertrafen … Vater sah Vairrynn immer mit einem Ausdruck an, als hätte mein Bruder Mutter eigenhändig getötet, und damit meine ich nicht, ihr den Kschurr durch die Kehle gezogen, sondern sie höchstpersönlich auf den Scheiterhaufen geworfen. Und Vairrynn sah Vater ganz genauso an. In jenen Tagen dankte ich der Göttin dafür, dass unser Haus so irrwitzig groß war; es konnten Tage vergehen, ehe wir Vater begegneten.« Wieder schüttelt sie den Kopf. »Er muss so einsam gewesen sein. Meine Brüder und ich, wir suchten die Gegenwart der jeweils anderen, als würden wir sonst auseinanderfallen, und Synnda Pánn kümmerte sich um uns drei, ob wir wollten oder nicht. Aber mein Vater hatte so gut wie niemanden. Zernteyb kam sehr oft in unser Haus, und er war der Einzige, der sich noch ins Atelier wagte. Aber sonst war da nur noch Juffgam.«

»Ah …«, macht Richard Shelton und nichts weiter. Myn lächelt bitter, aber er sieht es nicht.

»Juffgam Nuggr war ein alter Freund meines Vaters. Seltsam wirklich, dass die beiden überhaupt Freundschaft geschlossen hatten, und dann auch noch eine so enge. Mein Vater war der geborene Ästhet, kultiviert bis zur Absurdität, und Juffgam war … von einfachem Gemüt. Was nicht unbedingt etwas Schlechtes ist, und vielleicht war es genau das, was mein Vater als so … angenehm empfand: Juffgams Unkompliziertheit. Er erregte sich über einfache Dinge und freute sich an einfachen Dingen: Wein, Weiber und Gesang, wenn du so willst. Und auch seine freundschaftliche Treue war unkompliziert. Er war einer der wenigen, die meinen Vater und seine Familie nach Mutters Tod nicht schnitten; im Gegenteil, er war mehr als je zuvor für meinen Vater da – und für seine Kinder auch, auf seine gutmütige, unbeholfene, onkelhafte Art und Weise. Er hatte Jahre zuvor seine Frau verloren, die am Biss eine Kachta gestorben war, und war allein mit seinem kleinen Sohn; vielleicht konnte er deshalb unseren Verlust so gut nachempfinden. Und dieses Mitleid war stärker als die Furcht vor Nembdr-Kontamination. Aber wahrscheinlich war es mehr als das. Juffgam war ein gutherziger Kerl. Dass er auch kleingeistig war, war vermutlich nicht einmal seine Schuld.«

»Das klingt für mich so, als wärt ihr alle isoliert gewesen, nicht nur dein Vater.«

Myn nickt ihre Zustimmung. »Meine kleine Familie hatte zum Ärger meines Großvaters nie wirklich intensiv am gesellschaftlichen Leben auf Singis teilgenommen – mit Ausnahme des Wahlkampfs natürlich –, aber das war eine bewusste Entscheidung gewesen. Die gesellschaftliche Isolierung nach dem Tod meiner Mutter, das war Zwang – und sie war umfassend. Große Einheit, das erste Jahr über wurden wir behandelt wie Aussätzige. Ich weiß nicht genau, wie es den Jungs in der Schule ging; wir redeten nie wirklich darüber. Ich für meinen Teil beschloss nach drei Lchnattau, überhaupt nicht mehr in die Mädchenschule zu gehen. Es könnte sein, dass es das erste Mal war, dass ich meinen Vater nach Mutters Tod direkt ansprach, als ich ihn um die Erlaubnis bat, die Schule zu verlassen, und er gab sie, ohne eine Miene zu verziehen. Dieses ›Bildungsinstitut‹ war ohnehin nichts anderes als eine Anstalt, um perfekte, kleine Ehefrauen heranzuziehen, und die drei Tage die Nysda, die ich dort war, konnte ich getrost mein Gehirn auf Standby schalten. Und nach dem Tod meiner Mutter …« Sie beißt sich auf die Unterlippe. »Nein, darüber will ich nicht reden. Du hast wahrscheinlich keine Vorstellung davon, zu welchem Grad an Boshaftigkeit heranwachsende Große Damen fähig sind, und die Lehrer dort beobachteten mich wie jagende Frnai, als erwarteten sie, ich könnte jeden Moment etwas ›Widernatürliches‹ tun. Was wussten die schon! Ich hatte schon vor Jahren gelernt, in der Mädchenschule meinen Mund zu halten, um nicht aus Versehen das Wissen erahnen zu lassen, das Vairrynn mir vermittelt hatte.«

»Unterrichtete er dich auch zu dieser Zeit noch?«

»Aber natürlich. Ich glaube, manchmal hielt uns nur dieses gemeinsame Lernen bei Verstand. Inzwischen taten wir es sogar ganz offen zu Hause; vermutlich war Vairrynn zu diesem Zeitpunkt ganz egal, was Vater sagen würde – oder er wollte ihn sogar provozieren. Trotzdem ritten wir noch oft zusammen zum Gonn-Memnáh; das versteckte Tal war der Ort, der allein uns gehörte, und ich war so süchtig danach wie eh und je. Die Mnegau dort wurden dann umso wertvoller, als Synnda Pánn nach einem halben Jahr nach Yallchá zurückkehrte. Von da an waren wir allein. Vairrynn und ich taten unser Bestes, uns um Mud zu kümmern. Es mag ein wenig absurd klingen, da ich nur ein Jahr älter bin als mein kleiner Bruder. Aber Mud war damals noch ein Kind. Und ich war das nicht.«

»Du warst dreizehn«, sagt Richard Shelton leise. »Natürlich warst du noch ein Kind.«

Sie wendet ihm den Kopf zu. »Du weißt genau, dass Singis-Jahre länger sind als terranische. Nach eurer Zeit war ich damals siebzehn.«

Auch er dreht sich ihr zu und erwidert ihren Blick. »Und du weißt genau, dass die Umrechnung nicht eins-zu-eins funktioniert, wenn es um Lebensalter geht. Du warst noch ein Kind.«

Sie blinzelt ihn an und protestiert nicht. Er blinzelt zurück und spürt ihren Widerspruch so deutlich, als hätte sie ihn ausgesprochen.

»Hätte Synnda Pánn nicht noch länger bleiben können?«, fragt er, vielleicht deswegen oder auch nicht. Er empfindet fast irrationalen Ärger auf diese Fremde, der Myn nicht verborgen bleibt.

»Sie war ohnehin länger geblieben, als sie willkommen war«, meint sie sanft. »Die Neolys mögen es nicht, wenn sich jemand, der nicht zur Familie gehört, in ihre Angelegenheiten mischt.«

Er runzelt die Stirn. »Aber Synnda Pánn ist doch deine Großmutter.«

Myn seufzt. »Das verbindet sie mit mir, mit den Kindern ihrer Tochter. Aber nicht mit den Neolys.« Seine Stirn glättet sich nicht, und sie lächelt ein wenig, weil sie ihm Dinge erklären muss, die für sie selbstverständlich sind. »Singisische Familienbeziehungen sind sehr kompliziert. Sie bestehen aus Blutsbanden und Loyalitätsbanden, wobei sich die Letzteren dadurch von den Ersteren unterscheiden, dass sie gelöst werden können. Wenn eine Frau heiratet, zum Beispiel, können die Blutsbande zu ihrer Familie natürlich nicht gelöst werden, und sie knüpft auch keine zu ihrer neuen Familie, mit Ausnahme ihrer eigenen Kinder. Die Loyalitätsbande zu ihrer Ursprungsfamilie jedoch lösen sich völlig und bestehen nur noch zu der neuen.«

Seine Miene klärt sich ein wenig, aber nicht sonderlich viel. »Blutsbande sind also biologisch und Loyalitätsbande rechtlich?«

»Nein, nicht ganz. Mein Vater und der alte Neoly schworen zum Beispiel den Blutsschwur, als sie Vairrynn in die Familie aufnahmen. Sie hätten auch nur den Loyalitätsschwur leisten können, aber das haben sie nicht getan. Und als der alte Neoly meinem Onkel Quescnarm mit dem Familienausschluss drohte – du erinnerst dich? – sprach er nur von der Lösung der Loyalitätsbande; Blutsbande lassen sich heutzutage nur mit DNA-Test lösen, das heißt, wenn auch wirklich nachweislich keine Blutsverwandtschaft besteht. Und Blutsschwüre …« Sie zuckt mit den Schultern.

Richard Shelton schüttelt konsterniert den Kopf. »Singisen und ihre Familienbande! … Gilt das strenge Inzestverbot dann nur für die Blutsgebundenen?«

»Nein. Das gilt für alle. Man kann ja keine Frevelei riskieren!«

Trotz allem muss Richard Shelton lachen. Das lernt er von ihr: zu lachen, wo andere es absurd finden würden. Eine Weile liegen die beiden schweigend nebeneinander und blicken in das Blätterdach, das nicht mehr grün ist, sondern ein Baldachin bewegter Schatten.

»Es ist seltsam«, sagt Myn schließlich. »Das Leben fand einfach einen neuen Rhythmus. Einen anderen, wahrscheinlich keinen besseren, aber einen Rhythmus, der sehr schnell Gewohnheit wurde. Es ging einfach weiter.«

»Das hast du schon gesagt«, entgegnet er, und er glaubt ihr dieses zweite Mal nicht mehr als das erste, »dass die Welt nach dem Tod deiner Mutter nicht stehenblieb.«

»Das meine ich nicht. Ich meine das Andere: Das Leben im Reich verlief einfach mehr oder weniger in seinen gewohnten Bahnen – selbst nachdem Ktorram Asnuor zwei Nysdau nach der Verbrennung der Baummörderin zum Vorsteher des Reiches gewählt wurde. Er verstärkte die militärische Präsenz an der Grenze zu den U. P., führte durch, was er eine ›Reform der Verteidigungskräfte‹ nannte, und ließ eine neu eingerichtete Gruppe, die sogenannten ›Streiter des Wy‹, nach weiteren Mitgliedern der Organisation fahnden. Doch die Töchter der Lchnadra hatten sich nach Mutters Tod zurückgezogen, und die Streiter fanden nichts. Freundinnen meiner Mutter standen eine Zeitlang unter Beobachtung, aber wie gesagt: Sie verhielten sich still. Und das war’s – zumindest sah es so aus.«

Darauf weiß Richard Shelton einen Moment lang nichts zu sagen. Natürlich kennt er das Datum, an dem Ktorram Asnuor zum Vorsteher des Singisischen Reiches wurde. Auf einmal hielt dieser fanatische Priester, den bis zu diesem Zeitpunkt keiner als Politiker ernstgenommen hatte, den höchsten Regierungsposten im Memnáh inne – ein Mann, der Tage zuvor erst eine Frau verbrannt hatte. Eine regelrechte Paranoia hatte die Vereinten Planeten ergriffen; die Mehrheit schien jeden Moment mit einem Angriff der Singisen auf das Territorium der U. P. zu rechnen. Umso größer war die Überraschung, als sich der Fanatiker als kluger, wenn auch harter Verhandlungspartner erwies, mit dem man, wenn alle ehrlich waren, vernünftiger reden konnte als mit dem jovialen, aber inkonsequenten Nessran Nygfén.

»Du glaubst, Asnuor hatte alles geplant«, sagt er.

»Nein. Ich glaube es nicht, ich weiß es.«

Darauf bleibt ihm nichts zu entgegnen. Was auch? Nygfén mochte damals bei der Wahl zum Reichsvorsteher eine Chance gehabt haben gegen den Obersten Priester des Wy – aber nicht gegen den Mann, der die Baummörderin aus der Welt gebrannt hatte. Das ist ihm klar. Plötzlich fühlt Richard Shelton die Kühle und die Dunkelheit.

»Lass uns aufbrechen«, meint er. »Der Park wird ohnehin bald schließen.«

Myn bezeigt ihre Zustimmung, indem sie aufspringt und versucht, Richard von der Picknickdecke zu schütteln. Hastig steht er auf und nimmt ihr die Decke aus den Händen. Gefaltet legt er sie im Picknickkorb neben die fest verschraubte Thermoskanne, in der nur noch ein winziger Schluck Kaffee zu finden wäre, würde einer der beiden nachsehen.

»Es ist sehr schön hier«, kommentiert Myn ihren Nachmittag und den Ort, an dem sie ihn verbracht haben. »Ein wirklich guter Platz, um sich zu verstecken.«

Es dauert einen langen, langen Moment, bis er begreift, wovon sie redet. Sein Lachen perlt frei in den Abend, und sie wünscht sich, sie könnte es mit nach Hause nehmen.

»Nein, Myn, der Name des Parks hat nichts mit sich verstecken zu tun. Außerdem sind wir technisch gesehen schon wieder in einem anderen Garten.«

Sie schüttelt den Kopf über das Übermaß an Parks, die diese Stadt durchziehen, aber es gefällt ihr. Stumm will sie ihm den Korb aus der Hand nehmen, aber er weigert sich, ihn herzugeben. Sie streiten ein wenig darüber, bis sie übereinkommen, dass ihre Beweggründe auf gleichermaßen unvertretbaren kulturellen Voreingenommenheiten basieren. Myn schnappt sich den Picknickkorb, als Richard gerade nicht hinsieht, und er wirft die Hände gen Himmel. Ich folge ihnen noch eine Zeitlang, dann aber gehe ich mich im Park und im Abend verstecken. Es wartet Arbeit auf mich.


Mudmal Neoly saß am Pier des Alten Hafens von Naharmbra und ließ die Beine über die Mauer baumeln. Es war Ebbe, und die Wellen schlugen träge an die Mole. Mudmal betrachtete das frühe Blütezeitlicht, wie es leichtherzige Spiele auf der glatten Meeresoberfläche trieb, und dachte an gar nichts, während er an seiner fettigen Nammsa kaute. Er hatte sie sich in einem der schäbigen, aber vielbesuchten Läden gekauft, welche den Alten Hafen säumten. Sie war billig gewesen, und so schmeckte sie auch; wahrscheinlich hätte das Gebäck dem Großteil seiner Familie den Magen verdorben. Doch angesichts der Tatsache, dass er sich ganz eindeutig auf der falschen Seite der Stadt befand, war Mudmal die fehlende Angemessenheit seines Nachmittagssnacks mehr als egal, und im Moment hätte er sich nichts Besseres vorstellen können als die fetttriefende, heiße Nammsa, die ihm den Mund zusammenklebte. Er musste unbedingt daran denken, seinen Freunden später eine Runde Gebäck auszugeben – es war nicht so, dass sich Mudmal ihre Gesellschaft erkaufen musste, aber es bereitete ihm eine diebische Freude, Neoly’sche Wertsteine für einen Haufen Tunichtgute auszugeben, die seine Vettern und Onkel auf der Straße nicht einmal wahrgenommen hätten.

Der hochfahrende Standesdünkel der Neolys, den Mudmal mehr hasste als irgendetwas sonst an seiner Familie, hatte sich nur noch verstärkt, seit Lys Pánn Neoly den Tod auf dem Scheiterhaufen gefunden hatte. Niemand muss ehrbarer sein als der Bastard eines ehrbaren Mannes, hatte Mudmal irgendwo einmal gelesen, und anscheinend traf dasselbe auf die Große Familie einer Nembdr und Baummörderin zu. Er bezweifelte, dass es momentan eine Adelsfamilie im Reich gab, die sich strenger an den ungeschriebenen Benimmcode der Großen Alten hielt als die seine. Diese verbissene Konformität erfüllte ihn mit einem vagen Gefühl der Verachtung, mit mehr aber auch nicht. Es verstörte ihn manchmal ein wenig, dass er es nicht fertigbrachte, das gleiche Ausmaß an Ingrimm den Neolys gegenüber zu empfinden wie seine Geschwister; ab und zu kam ihm das sogar wie Verrat vor. Ja, zu Anfang war Mudmal genauso entsetzt und wütend gewesen über die kollektive Weigerung der Neolys, seiner Mutter den Gnadentod zu geben, wie Vairrynn und Myn; in einem Anfall klassischen Neoly’schen Jähzorns hatte er eine Handvoll seiner Vettern zur Rede gestellt und die verschämte Antwort erhalten, sie hätten angenommen, dass die Oberhäupter der Familie diese Verantwortung schultern würden. Mit verächtlich gekräuselten Lippen hatte er verkündet, dass ihnen allesamt die grundlegende Anständigkeit fehlte, jenen, die der Verurteilten am nächsten standen, diese Bürde zu ersparen. Doch damit war es getan. Begraben und, wenn schon nicht vergessen, so doch erledigt. Mudmal war nicht gut darin, jemandem über lange Zeit zu grollen – eine Eigenschaft, die ihn offenbar von allen anderen Bewohnern des Küstenhauses unterschied. Dazu kam, dass er die positive Kehrseite des dynastischen Neoly-Stolzes am eigenen Leib erfahren hatte.

Es waren kaum zwei Nysdau nach dem Tod seiner Mutter vergangen – zwei Nysdau, in denen er sich fühlte wie ein kleines Beutetier unter einem Rudel jagender Frnai – als der alte Neoly seine beiden Enkel aus der Schule am nördlichen Stadtrand nahm, die Vairrynn und Mudmal bis dahin besucht hatten, und sie in das Bildungsinstitut im Zentrum Naharmbras einschrieb, auf das auch alle jungen Neolys aus der Trutzburg gingen. Zum ersten Mal in seinem Leben machte Mudmal dort Bekanntschaft mit dem Bollwerk, das eine Große Alte Familie sein konnte. Auch in seiner neuen Schule entging er, der Nembdr-Sohn, der Ächtung nicht völlig; doch einen Neoly anzugreifen, bedeutete, sie alle anzugreifen. Schulter an Schulter traten die Neolys jedem entgegen, der es wagen wollte, die stille Verachtung in Worte zu fassen oder gar in physische Aktion umzusetzen. Ihm wurde nie auch nur auf die Ohrenspitze geblasen. Es war eine neue Erfahrung für ihn.

Vairrynn dagegen schaffte es, sich abseits von diesem Neoly-Kollektiv zu halten, ohne sich ganz von der Familie abzuschotten. Aus irgendeinem Grund wurde er in der neuen Schule nicht als ›Neoly‹ tituliert und auch nicht als ›Nembdr-Sohn‹ – obwohl natürlich selbst dem Begriffsstutzigsten klar sein musste, wer er war – sondern schlicht und einfach als ›der Nordler‹. Und so stand Vairrynn zwischen allen Fronten und schien’s zufrieden. Manchmal, wenn er darüber nachdachte, fragte sich Mudmal, ob das nicht das erste Anzeichen dafür war, dass Vairrynn begann, von der Familie wegzudriften. Doch er konnte es nie über sich bringen, den Schutz des Neoly’schen Bollwerks aufzugeben und sich zu seinem Bruder zu gesellen, und er bezweifelte auch, dass Vairrynn das von ihm erwartete. Dennoch war Mudmal fast erleichtert, als sein großer Bruder eineinhalb Jahre später die Schule abschloss und er seinerseits endlich das Gefühl los war, dass er sich eigentlich zwischen Vairrynn und dem Rest der Familie entscheiden hätte müssen.

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382 S. 5 Illustrationen
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9783753198965
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Zweite Buch in der Serie "Die Erste Tochter"
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