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Buch lesen: «Winnetou 4», Seite 5

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Sie standen zunächst unbeweglich, wie Bildsäulen aus Holz. Dann setzten sie sich wieder nieder, Einer nach dem Andern, als ob ihnen die Kraft fehle, stehen zu bleiben. Sie sahen vor sich nieder und sagten nichts.

»Nun?« fragte ich.

Da wendete sich Hariman an Sebulon:

»Ich sagte es dir voraus; du aber glaubtest es nicht. Ihm darf man nicht in dieser Weise kommen! Soll ich reden?«

Sebulon nickte. Da drehte Hariman sich wieder mir zu und fragte:

»Seid Ihr bereit, uns die Erzählungen zu verkaufen, um sie verschwinden zu lassen?«

»Nein.«

»Um keinen Preis?«

»Um keinen, sei er auch noch so hoch! Aber nicht etwa aus Rachsucht oder Halsstarrigkeit, sondern weil ein solcher Kauf Euch überhaupt nichts nützen würde. Was ich geschrieben habe, kann nicht wieder verschwinden. Es sind viele tausend deutsche Exemplare des ,Winnetou‘ hier in den Vereinigten Staaten verbreitet, und nach den hiesigen Gesetzen bin ich als Verfasser ungeschützt. Jedermann hat das Recht, zu übersetzen oder nachzudrucken, so viel ihm nur beliebt. Das weiß jeder Buchhändler, und Ihr habt mir durch Eure Offerte also schon drüben, als Ihr bei mir wart, bewiesen, daß Ihr keiner seid. Ich könnte Euer Geld einstecken und hinter Euch lachen. Wollt Ihr das?«

»Hörst du es?« fragte Hariman seinen Bruder. »Er ist ehrlich!«

Da stand Sebulon von seinem Platz wieder auf und stellte sich gerade vor mich hin. Seine Augen brannten, und seine Lippen bebten.

»Mr. Burton«, sagte er, »zeigt mir Eure Uhr!«

Ich erfüllte ihm diesen Wunsch.

»Nur noch zwei Minuten; dann ist die Viertelstunde zu Ende!« nickte er. »Ihr seht, ich gehe auf die Zeitportionen, die Ihr uns zuteilt, ein. Ich mache es genauso kurz, wie Ihr es wollt. Die Folgen aber kommen dann nicht über uns, sondern über Euch und Euer Gewissen! ja, wir heißen Sander, und unser Vater war der, den Ihr kennt. Verkauft Ihr uns den Winnetou?«

»Nein!«

»Fertig mit dem Schriftsteller! Die Zeit ist vorüber, genau bis auf die Sekunde. Nun fünfzehn weitere Minuten für den Westmann! Ich frage Euch: Was haben wir Euch dafür zu zahlen, daß Ihr uns Beide nach dem Nugget-tsil und nach dem ,Dunkeln Wasser‘ führt?«

»Ich tue das überhaupt nicht; ich bin kein Fremdenführer.«

»Aber wenn man es gut, sehr gut bezahlt?«

»Auch dann nicht. Ich brauche kein Geld. Ich tue niemals etwas für Geld.«

»Auch für die höchsten Summen nicht?«

»Nein!«

Da fragte Sebulon seinen Bruder.

»Soll ich? Darf ich?«

Nun nickte dieser, und Sebulon fuhr, zu mir gewendet, fort:

»Ihr werdet es dennoch tun, wenn auch nicht für Geld; darauf könnt ihr Euch verlassen! Kennt Ihr die Sioux?«

»Ja.«

»Und die Apatschen?«

»Welche Frage! Wenn Ihr meinen ,Winnetou‘ wirklich gelesen habt, so wißt Ihr ebensogut wie ich, wie überflüssig sie ist!«

»So hört, was ich Euch sage! Für die Wahrheit dieser meiner Worte legen wir beide unsere Hände in das Feuer. Nämlich die Häuptlinge der Sioux sind von den Häuptlingen der Apatschen eingeladen. Weshalb und wozu, das weiß ich nicht; ich habe nur so viel gehört, es soll Friede sein zwischen ihnen. Nur Häuptlinge sollen erscheinen, Niemand weiter. Die Sioux aber haben beschlossen, diese Gelegenheit zu benutzen, sich mit sämtlichen Gegnern der Apatschen zu vereinigen, um die letzteren zu vernichten. Glaubt Ihr das?«

»Man muß es prüfen«, antwortete ich kalt.

»So fahre ich fort: Es ist ein Ort bestimmt, an welchem sich die Feinde der Apatschen zusammenfinden, um den Kriegs- und Vernichtungsplan zu besprechen. Ich kenne diesen Ort.«

»Wirklich?«

»Ja.«

»Woher? Von wem?«

»Das ist Geschäftssache; Euch aber will ich es sagen, weil ich annehme, daß Ihr mir dann dankbar seid. Ich kenne die Sioux, und sie kennen mich. Unser Beruf als Pferde- und Rinderhändler hat uns häufig zu ihnen geführt. Jetzt haben sie uns ein Geschäft angeboten, welches so groß und so gewinnbringend ist, wie niemals eines zuvor. Wir sollen die Beute, die sie bei den Apatschen machen, übernehmen. Versteht Ihr, was ich meine?«

»Sehr wohl.«

»Und Ihr glaubt also, daß wir gut unterrichtet sind?«

»Auch das hat sich erst noch zu zeigen!«

»Es soll zum Kampf kommen, zu einem beispiellosen Blutvergießen. Ich weiß, daß Ihr ein Freund der Apatschen seid. Ich will sie retten. Ich will Euch Gelegenheit geben, die Pläne ihrer Feinde zunichte zu machen. Ich will Euch an den Ort bringen, an welchem diese Feinde sich beraten. Ich will auf allen Gewinn, der uns in Aussicht gestellt worden ist, verzichten. Und ich verlange dafür nur das eine, daß ihr uns zu den beiden Orten führt, die ich Euch bezeichnet habe. Nun sagt, ob Ihr das wollt! Aber sagt es schnell, bestimmt und deutlich heraus! Wir haben keine Zeit!«

Er hatte sehr rasch gesprochen, um möglichst wenig Zeit zu verbrauchen. Das klang doppelt »ängstlich und doppelt eindrucksvoll. Ich erkundigte mich trotzdem in langsamer, gemächlicher Weise:

»An den Ort, wo die Beratung stattfindet, wollt Ihr mich führen? Wohin geht dieser Weg?«

»Hinauf nach Trinidad.«

»Welches Trinidad meint Ihr? Es gibt ihrer mehrere.«

»Im Kolorado.«

In diesem Trinidad wohnte ein alter, guter Bekannter von mir, namens Max Pappermann, einst ein sehr brauchbarer Präriejäger, jetzt aber Besitzer eines sogenannten Hotels. Er war von deutscher Abstammung und hatte die Eigentümlichkeit, seinen Namen für die Quelle alles Unheils, welches ihn traf, zu halten. Er sprach seinen Vornamen nicht mit dem englischen e, sondern noch mit dem deutschen a aus, konnte aber infolge eines Sprachfehlers mit dem x nicht fertig werden; sein Max wurde stets zum Maksch. Obgleich er sich hierüber tief, tief unglücklich fühlte, kam es ihm doch gar nicht in den Sinn, das zu tun, was jeder Andere an seiner Stelle getan hätte, nämlich diesen Namen möglichst zu vermeiden; er gab ihn ganz im Gegenteile bei jeder Gelegenheit zu hören und wurde darum aus diesem und noch einem anderen Grund von jedermann »der blaue Maksch« genannt. Er hatte nämlich auf einem seiner Streifzüge durch den Westen das Unglück gehabt, sich die linke Seite des Gesichtes durch explodierendes Pulver zu verbrennen. Dabei war ihm zwar kein Auge verloren gegangen, aber die von dem Pulver getroffene Hälfte des Gesichtes hatte sich für immer blau gefärbt. Er war unverheiratet geblieben, aber ein lieber, prächtiger, treuer und aufopferungsvoller Kamerad, mit dem ich einige Male für nur kurze Zeit zusammengetroffen war. Ich hatte dabei im Verein mit Winnetou Gelegenheit gefunden, ihm bei einem Überfall durch die Sioux helfend beizustehen, und er vergrößerte diesen doch nur gelegentlichen Dienst in der Weise, daß er sich uns, wie er sich auszudrücken pflegte, zur »ewigen und eternellen Dankbarkeit« verpflichtet fühlte. Er war einer von den Westmännern, die ich wirklich und herzlich liebgewonnen hatte.

Zur Vervollständigung will ich hinzufügen, daß dieses Trinidad die Hauptstadt der Grafschaft Las Animas im nordamerikanischen Staate Kolorado ist, den Knotenpunkt mehrerer Bahnen bildet und noch heutigen Tages einen nicht unbedeutenden Viehhandel treibt. Dieser letztere Umstand war wohl die Ursache, daß auch die beiden Enters sowohl die Stadt als auch ihre Umgegend sehr gut kannten. Sebulon fuhr in seiner Auskunftserteilung fort, indem er mich fragte:

»Seid Ihr schon einmal da oben in Trinidad gewesen, Mr. Burton?«

Ich antwortete ausweichend:

»Muß mich erst besinnen. Bin an so vielen Orten gewesen, daß ich nicht wenige von ihnen aus dem Gedächtnis verloren habe. Also da oben liegt das Rendezvous aller Feinde der Apatschen?«

»Ja, aber nicht etwa in Trinidad selbst, sondern ein bedeutendes Stück von da in die Berge hinein.«

»So?! Ihr scheint mich für einen Abcschützen zu halten, weil Ihr mir zumutet, anzunehmen, daß die Roten, deren Absichten doch wohl geheim bleiben sollen, eine so belebte Stadt zum Stelldichein wählen. Diese Eure Ansicht über mich ist wohl nicht geeignet, mich zu einem Anschluß an Euch zu bewegen. Ich will nun nur noch fragen, wann man da oben einzutreffen hätte.«

»Wir reisen schon heut von hier ab, weil wir einen ganzen Tag in Chicago und zwei volle Tage in Leavenworth zu tun haben. Ihr könntet nachkommen. Die Beratung soll genau heut über zehn Tage sein. Wir würden Euch aber drei volle Tage vorher in Trinidad erwarten.«

»Gebt die Stelle näher an! Oder ist Trinidad so klein, daß ihr uns, wenn wir kommen, sofort sehen müßt?«

»Fragt nach dem Hotel des alten Pappermann, den man den ,blauen Maksch‘ zu nennen pflegt. Da bleiben wir über Nacht. Haben uns dort schon angemeldet. Aber, Sir, es sind schon elf Minuten vorüber. Wir haben also nur noch vier Minuten. Besinnt Euch schnell, und gebt uns Bescheid, sonst wird es zu spät!«

»Habt keine Sorge! Wir werden genau mit fünfzehn Minuten zu Ende sein.«

»Hoffentlich! Das liegt ja noch viel mehr in Eurem eigenen Interesse, als in dem unserigen!«

»Wieso?«

»Weil Ihr ohne uns die Apatschen nicht retten könntet!«

Jetzt mußte mein Schlager kommen, mit dem ich ihre Ansprüche und überhaupt ihre Selbstabschätzung herunterzustimmen hatte. Ich schaute ihm also wie belustigt in das Gesicht und sprach:

»Irrt ihr euch da nicht vielleicht? Glaubt ihr wirklich, daß es mir so schwerfallen würde, den Häuptling Kiktahan Schonka an der Devils pulpit zu finden?«

Das schlug ein! Und zwar sofort und äußerst wirkungsvoll! Hariman fuhr jetzt auch von seinem Sitz in die Höhe und rief erschrocken aus:

»Heavens! Er weiß es schon! Seid Ihr allwissend, Sir?«

»Ja, seid Ihr allwissend?« fragte auch Sebulon.

Sie standen nebeneinander vor mir wie zwei Knaben, die beim Apfelstehlen erwischt worden sind. Ich nahm meine Uhr heraus, sah auf das Zifferblatt und antwortete:

»Allwissend ist kein Mensch, kein einziger; aber da ich in diesem Augenblick nicht mehr Schriftsteller, sondern Westmann bin, versteht es sich ganz von selbst, daß ich meine Augen offen halte. Was ihr für ein Geheimnis hattet, das kannte ich, schon ehe ihr es mir jetzt sagtet. Ihr seid also auf einem vollständig falschen Weg, wenn ihr meint, daß ich euch eure Mitteilungen mit dem Nugget-tsil und mit dem Dunkeln Wasser zu bezahlen habe. Das Verhältnis liegt vielmehr grad umgekehrt: Ihr könnt nicht durch die Sioux, sondern nur durch die Apatschen etwas gewinnen, und nur ich würde es sein, der euch diesen Gewinn besorgt.«

Nun stand auch ich von meinem Platz auf und fuhr fort:

»Ich werde heut über sieben Tagen in Trinidad sein, in dem Hotel, welches ihr mir bezeichnet habt. Von diesem Tag an werde ich euch prüfen: Besteht ihr diese Prüfung, so bekommt ihr sowohl den Nugget-tsil als auch das Dunkle Wasser zu sehen, sonst aber nicht! Haltet zu den Sioux oder haltet zu den Apatschen, ganz wie es euch beliebt; die Folgen aber kommen nicht, wie ihr vorhin sagtet, über mich, sondern über euch! – – – So! Auch diese fünfzehn Minuten sind zu Ende, genau auf die Sekunde. Lebt wohl, Mesch‘schurs! Und auf Wiedersehen beim alten Pappermann in Trinidad!«

Ich steckte die Uhr wieder ein und entfernte mich, ohne mich einmal nach ihnen umzusehen. Sie machten keinen Versuch, mich zurückzuhalten. Sie sagten kein Wort; sie waren vollständig verblüfft. Ich ging direkt nach dem Clifton-House, wo Niemand ahnte, daß ich während der Nacht fortgewesen war. Wer mich jetzt überhaupt beachtete, mußte annehmen, daß ich von einem Morgenspaziergang zurückkehre.

Das Herzle hatte ihr Zimmer, seit ich fortgewesen war, nicht verlassen, also noch gar nicht gefrühstückt. Ich ging mit ihr hinab an unseren Tisch, damit sie das Versäumte nachhole. Die beiden Häuptlinge waren schon abgereist; auf ihren Plätzen saßen andere. Ich berichtete meine Zusammenkunft mit den beiden Enters Wort für Wort und erntete die mir als Eheherrn auf jeden Fall gebührende Anerkennung. Das Fenster, an welchem wir saßen, lag, wie bereits gesagt, nach dem Fluß zu. Man sah von ihm aus die Personen, die über die Brücke kamen. Eben hatte ich meinen Bericht beendet, so bemerkten wir das Brüderpaar, welches von drüben herüber nach dem Hotel kam. Der Kellner sah sie auch und sagte, nach ihnen deutend:

»Das sind die Nachbarn! Sie gingen heute sehr zeitig fort. Haben einen Brief bekommen. Sind nie am Tage zu sehen gewesen; heute aber kehren sie zurück. Werde nachschauen, was das für eine Bewandtnis hat!«

Nichts konnte uns lieber sein als diese seine Neugierde. Er ging hinaus. Schon nach einigen Minuten kam er wieder herein und meldete:

»Sie gehen! Sie reisen ab! Jetzt nach Buffalo und von da aus mit dem nächsten Zug nach Chicago. Ganz so, wie die beiden Gentlemen heute früh, die auch nach Chicago gingen. Schade, jammerschade um sie! Bezahlten nur mit Nuggets!«

Nach kurzem sahen wir die Gebrüder Enters das Hotel verlassen und über die Brücke wieder hinübergehen. Das Gepäck, welches sie trugen, bestand aus je nur einer Ledertasche. Mich etwa noch nachträglich zu erkundigen, wo und wie sie des Tags über ihre Zeit verbracht hatten, dazu gab es für mich keinen Grund; ich war, wenigstens für einstweilen, mit ihnen fertig.

»Nun reisen wohl auch wir bald ab?« fragte meine Frau.

»Ja, morgen früh«, antwortete ich.

»Bis wie weit?«

»Hm! Wäre ich allein, so würde ich in einer ununterbrochenen Tour sogleich bis Trinidad fahren.«

»Du glaubst, ich halte das nicht aus?«

»Es ist eine Anstrengung, liebes Kind!«

»Für mich nicht! Wenn ich will, so will ich! Warte, ich werde nachsehen.«

Sie ging nach der Office, um sich die betreffenden Fahrpläne zu holen. Wir schauten nach und rechneten. Es galt, uns weder in Chicago noch in Leavenworth sehen zu lasen. Das war nicht schwer, zumal wir gar nicht über Leavenworth, sondern über das ihm allerdings ziemlich naheliegende Kansas City kamen. Von da aus gab es allerdings noch eine gewaltige Strecke bis Trinidad, aber bei der Einrichtung der amerikanischen Eisenbahnwagen, die alles bieten, was an Bequemlichkeit überhaupt erreichbar ist, war dies gewiß nicht allzu schwer zu überwinden.

»Wir machen es!« sagte das Herzle. »Wir fahren ununterbrochen! Ich selbst werde die Tickets besorgen!«

Wenn sie in diesem bestimmten Ton spricht, dann weiß sie, was sie will, und so saßen wir denn schon am nächsten Morgen im telegraphisch vorausbestellten Abteil des Pullmancar und dampften dem »fernen Westen« und den uns dort erwartenden, hoffentlich nicht gefährlichen Ereignissen entgegen. Anstatt die ebenso lange wie interessante Fahrt zu beschreiben, will ich nur sagen, daß wir in der besten Verfassung in Trinidad ankamen und uns mit unseren zwei Koffern nach dem Hotel des »blauen Maksch« bringen ließen.

Ich hatte das Herzle darauf aufmerksam gemacht, daß wir von dem Augenblick an, in welchem wir in Trinidad den Eisenbahnwagen verlassen würden, für längere Zeit auf einen nicht unbeträchtlichen Teil der »Zivilisation« verzichten mußten. Es stellte sich heraus, daß ich da sehr, sehr Recht gehabt hatte. Trinidad sah zwar keineswegs mehr so aus wie damals, als ich es zum ersten Male so grad zwischen Prärie und Gebirge liegen sah, aber zu wünschen gab es doch gar Vieles noch. Als ich mich auf dem Bahnhof nach Mr. Pappermann und seinem Hotel erkundigte, antwortete der betreffende Beamte kurz:

»Gibt es nicht mehr!«

»Was?« fragte ich. »Ist es mit dem Hotel aus?«

»Nein. Es existiert noch.«

»Aber Mr. Pappermann ist tot?«

»Nein. Er lebt noch.«

»Aber Ihr sagtet doch soeben, daß es beide nicht mehr gebe!«

»Beide zusammen, ja! Aber beide einzeln sind noch da! Sie sind nur auseinander!«

Der Mann freute sich unendlich über seinen billigen Witz, belachte ihn eine ganze Weile und fuhr dann fort:

»Mr. Pappermann hat verkauft, hat verkaufen müssen! Sein unglückseliger Name ist schuld!«

Damit ging der Mann, noch immer lachend, von dannen. Das Hotel verdiente nicht, so genannt zu werden. Ein deutscher Dorfgasthof pflegt einladender und besser auszusehen; aber wir waren nun einmal hierhergewiesen, und außerdem wäre ich schon um meines alten Kameraden willen in kein anderes Haus gegangen. Wir bekamen zwei nebeneinander liegende Stuben, die zwar klein und fast ärmlich ausgestattet, aber sauber waren. Diese sogenannten »Zimmer« hatten, wie man ganz besonders hervorhob, den großen Vorzug, daß ihre beiden Fenster hinaus nach dem »Garten« gingen. Als wir nach diesem Garten schauten, sahen wir ein von vier halb verfallenen Mauern eingefaßtes Quadrat, auf dem sich folgende Gegenstände befanden: zwei alte Tische mit je drei noch älteren Stühlen; ein fast ganz blätterloser Baum, der sich die allergrößte Mühe gab, entweder eine Linde oder eine Pappel zu sein; vier Sträucher, die mir völlig unbekannt waren, zumal sie ihre eigenen Namen wahrscheinlich selbst nicht wußten; zuletzt und endlich einige Dutzend Grashalme, denen man wohl schon seit Jahren vergeblich zugemutet hatte, irgendeine Art von Rasen zu werden. An dem einen Tisch saß ein Mann, und an dem andern Tisch saß auch ein Mann, beide so, daß wir ihre Gesichter von der Seite sahen. Der Eine hatte ein Bierglas in der Hand; aber er trank nicht, denn es war leer. Der Andere hatte eine Zigarre in der Hand; aber er rauchte nicht, denn sie war ausgegangen. Beide sahen einander nicht an, sondern sie kehrten einander die Rücken zu. Beide waren Wirte. Der mit dem leeren Glas war, wie wir später erfuhren, der neue Wirt. Und der mit der ausgelöschten Zigarre war, wie wir sogleich dachten, der alte Wirt. Beide sahen nicht sehr glücklich aus, sondern sie machten den Eindruck, als ob beide bereuten, der Eine, das Hotel ver-, der Andere, das Hotel gekauft zu haben und nun sehr eifrig darüber nachdachten, in welcher Weise aus diesem Handel noch etwas herauszuschlagen sei.

»Du«, sagte das Herzle, »der, welcher rechts sitzt, scheint dein Freund Pappermann zu sein. Soeben drehte er sich einmal halb um, und da sah ich die linke Seite seines Gesichtes; sie ist blau.«

»Ja, er ist es«, antwortete ich. »Alt geworden, alt und grau! Sieht aber noch ziemlich kräftig aus. Paß einmal auf! Ich bringe ihn in Trab, aber wie! Nur laß dich nicht sehen!«

Ich näherte mich dem Fenster noch mehr, doch so, daß ich im Schutz der Wand verblieb, steckte den Zeigefinger in den Mund und ahmte das gellende Kriegsgeschrei der Sioux nach. Die Wirkung war eine sofortige. Beide Wirte schnellten augenblicklich aus ihren Stühlen auf, und der »blaue Maksch« rief aus:

»Halloo, halloo, die Sioux kommen, die Sioux!«

Beide schauten sich nach allen Seiten um, und weil sie keinen einzigen Menschen oder gar Feind entdeckten, sahen sie einander selber an.

»Die Sioux?« fragte der neue Wirt. »Möchte doch wissen, wo die hier herkommen sollten, mitten in der Stadt! Und so viele Tagereisen von der Gegend entfernt, in der es noch welche gibt!«

»Es war einer!« behauptete Pappermann.

»Unsinn!«

»Oho! Ich mache keinen Unsinn! Ich kenne es! Ich weiß sogar, von welcher besonderen Nationalität! Es war ein Siou Ogallallah!«

»Laß dich nicht auslachen! Wenn so ein – – —«

Er sprach nicht weiter, denn ich ließ das Geheul zum zweitenmal hören.

»Na, horch! Wenn das kein wirklicher Ogallallah ist, so soll man mir am Marterpfahl die Haut zu Riemen schneiden!«

»So sag mir doch, wo er steckt!«

»Weiß ich es! Es kam, wie es scheint, von oben, hoch über uns!«

»Ja, von unten, tief unter uns, kann es nicht gut kommen, das ist sehr richtig! Es ist ein Schabernak, weiter nichts!«

»Nein, es ist Ernst! Zwar kein Kriegsruf, sondern ein Zeichen, ein wirkliches Zeichen!«

Ich wiederholte den Schrei noch einmal.

»Horst du!« rief Pappermann. »Das ist kein alberner Scherz! Der Mann ist entweder wirklich ein Siou Ogallallah oder ein alter Westläufer meines Schlages, der es versteht, das Schlachtgeheul der Roten nachzuahmen, um sie selbst zu täuschen. Das ist ein alter Kamerad, der mich hier sitzen sah und mir sagen will, daß – – —«

Er wurde unterbrochen, denn von der Hintertür des Hauses her ertönte eine Frauenstimme:

»Schnell herein, herein! Ich weiß nicht, was ich kochen soll!«

»Kochen? Man will nicht bloß trinken?«

»Nein! Auch essen! Und sogar logieren!«

»So ist ein Fremder da?«

»Sogar zwei!«

»Gott sei Dank! Endlich, endlich wieder einmal! Wo sind sie denn?«

»In Nummer drei und vier! Ein Ehepaar!«

Da fiel Pappermann schnell ein:

»Nummer drei und vier? Die liegen nach hinten! Nach hier heraus! Die Fenster stehen offen! Jetzt weiß ich, wo geheult worden ist!«

»Abermals Unsinn!« widersprach der neue Wirt. »Seit wann hört man denn Ehepaare heulen?!«

»Sehr oft! Aber hier hat natürlich nicht die Frau geheult, sondern der Mann! Er ist ein Kamerad von mir! Dabei muß es bleiben, oder man soll mich teeren, federn, lynchen und – – —«

»So kommt doch nur endlich herein!« wurde er von der weiblichen Stimme unterbrochen. »Die Fremden wollen essen, und ich habe doch kein Fleisch und auch kein Geld!«

Sie verschwanden unten im Haus. Das Herzle aber sagte mit lachendem Mund:

»Du, da sind wir in eine äußerst glänzende Wirtschaft geraten! Dein alter Pappermann aber ist kein dummer und auch kein übler Kerl! Er beginnt schon jetzt, mir zu gefallen, und ich – – —«

Da klopfte es laut und kräftig an die Tür.

»Herein!« rief sie, indem sie sich selbst unterbrach.

Wer trat herein? Natürlich Pappermann!

»Pardon!« entschuldigte er sich. »Ich hörte da unten den Kriegsschrei der Sioux Ogallallah und wollte – – – und da dachte – – – und da schien es mir – – – und – – – und – – – Mr. Shatterhand, Mr. Shatterhand – – – halloo, welcome, welcome!«

Er hatte seine Rede in fließender Weise begonnen, dann aber, als er mich erblickte, gestockt und wieder gestockt, bis er mich erkannte und jubelnd auf mich losstürzte. Er breitete die Arme aus, als ob er mich umfassen und küssen wolle, besann sich aber, daß dies wohl nicht angängig sei, und faßte nur meine Hände. Die aber drückte er in Einem fort, zog sie an sein Herz, an seine Lippen, erging sich in allen möglichen Ausrufungen der wahrsten, herzlichsten Freude, betrachtete mich dazwischen mit tränenden Augen wieder und immer wieder; kurz, es war, als ob er sich vor Entzücken nicht lassen könne. Man sagt, daß man einen Menschen nicht mit einem Tier vergleichen solle; hier aber war es wirklich wie die Liebe und unsägliche Freude eines treuen Hundes, der seinen Herrn wiedersieht, ihn jauchzend umspringt und gar nicht weiß, was er vor lauter Wonne tun und angeben soll. Dem Herzle traten vor Rührung die Tränen in die Augen, und auch ich mußte mich zusammennehmen, um scheinbar ruhig zu bleiben.

»Nicht wahr, Ihr habt geheult, Ihr, Ihr, Mr. Shatterhand?« fragte er, als der erste, innere Sturm vorüber war.

»Ja, ich war es«, gab ich zu.

»Wußte es! Wußte es! Das konnte nur so einer sein wie Ihr!«

»Ja, nur ich«, lachte ich. »Nicht aber hier meine Frau, wie Ihr ganz richtig zu Euerm Kollegen sagtet.«

»Eure Frau? Eure Frau? ‚sdeath – Tod und Teufel, da habe ich ganz vergessen, mein Kompliment zu machen! Es ist doch in jeder Prärie und in jeder Savanne gute Sitte, daß man zunächst die Frau und erst dann den Mann begrüßt! Pardon! Ich hole das hiermit nach!«

Er versuchte, eine sehr devote und sehr elegante Verbeugung zu machen; da bemerkte ich in seiner und meiner Muttersprache:

»Sie können deutsch mit ihr reden, lieber Pappermann; sie ist eine Deutsche.«

»Deutsch? Auch das noch! Da küsse ich ihr gar die Hand! Oder lieber gleich alle beide!«

Er tat es, aber freilich mit der Grazie eines Bären, doch war es gut gemeint. Dann wollte er sofort meine Schicksale erfahren, um mir hierauf die seinigen zu erzählen. Darauf ging ich ganz selbstverständlich nicht ein, denn erstens galt es, Distanzen zu halten, und zweitens muß man zu solchen Dingen die nötige freie Zeit und die richtige Stimmung besitzen. Ich lud ihn ein, mit uns zu speisen, und bat ihn, unten zu sagen, daß wir wünschten, im Garten zu essen, und zwar erst nach Verlauf einer Stunde. Bis dahin werde ich mit meiner Frau einen Spaziergang unternehmen, damit sie die Stadt kennenlerne, in welcher einer meiner alten Kameraden dieses schöne Hotel besitzt.

»Nicht besitzt, sondern besessen hat«, verbesserte er mich. »Ich werde Ihnen das erzählen.«

»Aber nicht jetzt, sondern später einmal! Hieran schließe ich die Bitte, auch in Beziehung auf mich so wenig wie möglich zu sprechen. Es soll hier Niemand wissen, wie ich heiße und daß ich ein Deutscher bin – – —«

»Schade! Jammerschade!« unterbrach er mich. »Ich wollte soeben hier von Ihnen erzählen – – —«

»Ja nicht, ja nicht!« fiel ich ihm in die Rede. »Ich würde sofort gehen und Sie nie wieder ansehen! Sie mögen meinetwegen sagen, daß auch ich ein alter Westmann bin – – —«

»Und zwar ein berühmter, ein sehr berühmter!«

»Nein, keinesfalls! Ich habe meine guten Gründe, über mich nur Schweigsamkeit zu üben. Ich heiße jetzt Burton, und Sie sind viel, viel berühmter gewesen als ich. Verstanden?«

»Ja.«

»Wir reden also auch kein Deutsch mehr miteinander. Machen Sie mir ja nicht etwa Fehler!«

»Keine Sorge! Ich heiße Maksch Pappermann, und wenn es darauf ankommt, bin ich stumm und taub. Ich vermute, es handelt sich um irgendeines Ihrer alten oder vielmehr nun wieder neuen Abenteuer?«

»Möglich! Vielleicht vertraue ich mich Ihnen an, aber nur dann, wenn ich mich überzeuge, daß Sie wirklich schweigsam sind. Jetzt gehen Sie!«

Er machte eine zweite Verbeugung und entfernte sich, den ihm gewordenen Auftrag auszufahren. Wir aber unternahmen den beabsichtigten Rundgang durch die Stadt, von dem wir pünktlich zur angegebenen Zeit heimkehrten. Wir gingen da zunächst nach unseren Zimmern. Von dort aus sahen wir, daß neue Gäste gekommen waren, nämlich ein halbes Dutzend junger Menschen, die auch im »Garten« essen wollten. Für uns war bereits gedeckt, für sie aber nicht. Man hatte ihnen eine Art von Tafel mit Stühlen herausgestellt. Da saßen sie nun vor einer Flasche Brandy und vollführten einen Heidenlärm, weil das einzige weiße Tuch, welches der Wirt besaß, über unsern Tisch gebreitet war, nicht über den ihren. Auch verlangten sie das für uns soeben fertig gewordene Essen. Sie hatten Pappermann gezwungen, sich zu ihnen zu setzen und mit ihnen zu trinken, und er war so klug gewesen, sich ihnen zu fügen. Nun schrien sie alle auf ihn ein. Sie wollten ihn nicht nur ärgern, sondern auch foppen; er aber zeigte sich dabei so ruhig und unberührt, wie es ihm als alten Wald- und Savannenläufer geziemte. Der von ihnen, welcher das größte Wort führte, hieß, wie wir später erfuhren, Howe. Eben als wir in unsere Räume, deren Fenster noch offen standen, getreten waren, hörten wir ihn sagen:

»Wer ist denn eigentlich dieser Mr. Burton, der das Alles vor uns voraushaben soll?«

Pappermann warf einen Blick nach unseren Fenstern. Er sah mich stehen. Da nickte er leise vor sich hin und antwortete.

»Er ist Musikant.«

»Musikant? Was soll das heißen?«

»Er bläst die Ziehharmonika, und seine Frau spielt die Gitarre dazu.«

»Bläst – – – bläst die Ziehharmonika! Warum bläst da seine Frau die Gitarre nicht auch?«

Ein johlendes Gelächter belohnte diesen billigen Witz.

»Warum redet er so dumm?« zürnte das Herzle.

»Laß ihn!« bat ich. »Er hat seine Absicht. Und die ist gut. Ich vermute, es entspinnt sich da unten eine jener Szenen, an denen der Westmann immer eine große Freude hat, nämlich die Zurechtweisung von Menschen, die ihn für albern oder sonstwie minderwertig halten.«

»Sind diese Menschen etwa Rowdies?«

»Ich glaube nicht, aber sie gebärden sich wie solche. Darum verdienen sie eine gute Lehre noch viel mehr, als wenn sie wirklich welche wären. Ich vermute – – – ah, diese Pferde! Die scheinen ihnen zu gehören!«

»Sind sie gut?«

»Gut? Dieses Wort sagt viel zu wenig!«

»Also wertvoll?«

Ich zögerte, zu antworten, weil meine Aufmerksamkeit jetzt ganz ausschließlich auf die Tiere gerichtet war, denen diese Frage galt. Nämlich durch die hintere Gartenmauer öffnete sich eine Tür auf ein von Gebäuden freies Oedland, welches vorhin bei unserer Ankunft vollständig leer gewesen war; jetzt aber gab es da einige Peone, welche beschäftigt waren, ein Zelt zu errichten. In ihrer Nähe bewegten sich zwei Gruppen von Pferden, die mein ganzes Interesse in Anspruch nahmen. Die eine Gruppe bestand aus neun Pferden und vier Maultieren. Die ersteren waren das, was man »gute« Pferde nennt, nicht mehr und auch nicht weniger; die letzteren stammten jedenfalls aus Mexiko und gehörten jener ganz vorzüglichen Züchtung an, die man dort mit dem Wort »Nobillario« bezeichnet. Ihr Preis betrug selbst unter Brüdern wenigstens tausend Mark pro Stück. Die andere Gruppe zählte nur drei Pferde, aber was für welche! Sie waren Fliegenschimmel, doch nicht etwa schwarz und weiß, sondern schwarz und rotbraun gefleckt, eine ganz einzige, höchst vornehme Farbe, die nur durch lange, mühevolle Zucht zu erreichen gewesen war. Körperbau, Haltung und Gebaren erinnerten mich an die berühmten Rapphengste meines Winnetou, zugleich aber auch an jene ausdauernden Dakotatraber, die es jetzt nicht mehr gibt. Sie wurden von einigen nördlichen Indianerstämmen gezüchtet und erreichten durch ihre ununterbrochene Stetigkeit mehr, als man selbst mit dem besten Renner erreicht.

So dachte ich jetzt, einstweilen, denn um Gewisses sagen und behaupten zu können, mußte man hingehen, um sie in der Nähe zu betrachten und zu untersuchen. Aber daß diese drei Fliegenschimmel besten Blutes waren, ergab sich auch schon daraus, daß sie sich abgesondert hielten und zärtlich miteinander waren. Sie leckten und liebkosten einander; sie jagten einander hin und her und schmiegten sich dann wieder so eng zusammen, daß man sie unbedingt für Geschwister oder doch wenigstens für nahegeborene Gespielen halten mußte, die noch nie voneinander getrennt worden waren.

In der Nähe des Zeltes lag ein Haufen von Decken und anderen Reise- und Lagerutensilien. Auch viele Sättel gab es, wohl mehr als zwanzig Stück. Es waren auch einige Damensättel darunter. Wozu? Gehörten zu den sechs überlauten, jungen Männern vielleicht auch einige Frauen, die man jetzt noch nicht sah? Und bestand die Gesellschaft aus soviel Personen, wie Sättel vorhanden waren, also aus über zwanzig? Bis jetzt sah man nur die Sechs und die drei Peone. Jedenfalls hatte ich mich vorhin nicht geirrt, als ich annahm, daß diese Leute keine Rowdies seien, aber so ziemlich aus dem Häuschen waren sie jedenfalls, und wahre Bildung, also Herzensbildung, besaßen sie nicht; das bewiesen sie durch die Art und Weise, wie sie den früheren Wirt behandelten und hierauf auch uns selbst zu behandeln wagten. Sie konnten auch etwas noch Schlimmeres als nur Rowdies sein! Ich nahm meine beiden Revolver aus dem Koffer, lud sie und steckte sie zu mir.