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Buch lesen: «Winnetou 4», Seite 3

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»Wie falsch von dir, wie falsch! Wüchsen meine Folgerungen nur aus diesem einen Punkt heraus, so wäre ich ein außerordentlich schlechter Fährtenleser, ein Greenhorn, ein Hans Tapps, und hätte mich meiner Logik wegen rot und blau zu schämen. Ich bitte dich aber, daran zu denken, daß er sich extra einen Vorleser engagierte, um sich sofort Notizen machen zu können. Wie lange ist es wohl her, daß er dies tat?«

»Eine ganz beträchtliche Reihe von Jahren. Das sagte er ja selbst.«

»Schön! Und wozu hat er sich diese Notizen gemacht?«

»Aus rein literarischen Gründen, zu Buchhändlerzwecken. Auch das sagte er selbst.«

»Ganz richtig! Und hier liegt die Lüge, bei welcher die Fährte beginnt, die zu seinem richtigen, wirklichen Namen führt. Er selbst hat zugegeben, daß er Großhändler in allerlei Schlachtvieh war, und du weißt sehr genau, wann er aufgehört hat, dies zu sein. Oder nicht?«

»Doch! Dieses Geschäft wurde erst im vorigen Jahr verkauft. Das hat er gestern beim Arzt gesagt.«

»Und dennoch schon vor so langen Jahren bereits rein ,buchändlerische‘ Notizen? Glaubst du das?«

»Nein! Jetzt nicht mehr! Du, jetzt fange auch ich an, klarzusehen. Vielleicht ist es gar nicht einmal wahr, daß er jetzt Buchhändler ist!«

»Fällt ihm gar nicht ein! Aber mit diesem Gedanken hast du dich neben mich auf die richtige Fährte gestellt! Ueberlege folgendes: Kaum hat er bei einem Bekannten von meinem ,Winnetou‘ gehört, so engagiert er sich einen besonderen Mann zum Uebersetzen und Vorlesen dieser Erzählung. Ist etwa anzunehmen, daß er bei diesem Bekannten dem Vorlesen aller drei Bände beigewohnt hat?«

»Gewiß nicht.«

»Das ist auch meine Meinung. Er hat nur Einiges oder gar nur Weniges gehört. Wenn er sich sofort hierauf einen besonderen Privatübersetzer engagierte, um das ganze Werk unter vier Augen kennenzulernen, so muß dieses Einige oder dieses Wenige von außerordentlicher Wichtigkeit für ihn gewesen sein, muß irgendeinen Punkt seines tiefsten Seelenlebens gepackt und ergriffen haben. Oder glaubst du daß diese Wichtigkeit vielleicht doch schon eine ,rein literarische, eine buchändlerische‘ gewesen ist?«

»Nein.«

»Oder eine geschäftliche?«

»Ebensowenig. Sie war, wie du ganz richtig vermutest, eine psychologische, eine seelische.«

»Das heißt mit andern Worten, daß sie sich auf sein Innenleben, auf sein Privatleben, auf sein Familienleben, also auch auf seine Familienverhältnisse bezog. Er machte während der Vorlesungen Notizen. Warum und wozu? Doch nicht etwa nur, um nichts zu vergessen. Was Einen so tief in der Seele packt, das merkt man sich gewiß, auch ohne Notizen zu machen. Er hat zugegeben, daß diese Notizen ihm als ,notwendig‘ erschienen seien und ihm auf seinen Nachforschungen im Westen jahrelang als Führer gedient haben – —«

»Etwa nach dem verschollenen Vater?« fiel da das Herzle ein.

Da nickte ich ihr zu und antwortete:

»Du, das war fein, sehr fein! Ja allerdings, nach dem verschollenen Vater! Ich wollte noch einige andere Folgerungen und Schlüsse herbeiziehen, um mich dir begreiflich zu machen; da du mir aber gleich mit diesem Hauptergebnisse kommst, so ist das, wenigstens für einstweilen, nicht mehr nötig. Ich habe nur noch auf die Dringlichkeit zu zeigen, mit welcher er die Lage der beiden Orte zu erfahren versuchte, die er, wie er sich ausdrückte, ,noch nicht aufzufinden vermochte‘. Ich meine selbstverständlich den Nugget-tsil und das Dunkle Wasser.«

»Muß sich diese Dringlichkeit nur auf Sander beziehen?«

»Ja.«

»Nicht auf irgendeine andere Person? Und auch nicht auf die Nuggets?«

»Nein. Von Personen käme nur ich allein in Betracht, denn alle Andern sind unwichtig oder gar tot, und anzunehmen, daß er grad meinetwegen so jahrelang den Westen durchforscht habe, wäre lächerlich. Er hat ja durch seinen heutigen Besuch bewiesen, daß er sehr wohl weiß, wie schnell und wie leicht ich zu finden bin. Und was die Nuggets betrifft, so hat er ja gelesen, daß sie für immer verloren sind und von keinem Menschen mehr gefunden werden können. Also: Von den Ereignissen am Nugget-tsil und am Dunklen Wasser kommen nur zwei Personen in Betracht, nämlich Sander und ich; alle Andern sind unendlich nebensächlich, sind verschwun den; ich aber habe auszuscheiden; folglich bleibt nur noch Sander. Und nun, paß auf, Herzle, kommt noch ein Hauptgrund, auf den ich mich stütze! Dieser sogenannte Mr. Enters will meinen ,Winnetou‘ kaufen. Wozu? Etwa um ihn übersetzen, drucken und verbreiten zu lassen?«

»Nein, sondern um zu verhindern, daß die Erzählung da drüben in englischer Sprache erscheint. Da hattest du Recht. Das hörte man den Worten dieses Mannes an, besonders auch dem Schreck, den er nicht verbergen konnte, als er gegen alle seine Erwartung hörte, daß er die Bücher nicht bekommt. Man soll da drüben die Vergangenheit und die Taten seines Vaters nicht kennenlernen.«

»Ja. Zwar wollte ich das erst folgern, und du kommst meinem logischen Schluß vor; aber es ist das für mich eine Tatsache, an der ich nicht im geringsten zweifle. Er hat geglaubt, mich mit einer Tasche voll Dollars übertölpeln zu können, obwohl er aus dem ,Winnetou‘ wissen mußte, daß ich auf solchen Köder nicht gehe. Dieser sein Besuch bei mir und sein Antrag waren eigentlich eine Beleidigung, die ich anders hätte beantworten sollen, als ich sie beantwortet habe.«

»So zürnst du mir nun wohl?«

»Zürnen? Wofür?«

»Dafür, daß ich dich veranlaßt habe, ihn nicht ganz endgültig abzuweisen und ihm noch eine Zusammenkunft zu gewähren.«

»O nein! Ich lasse mich selbst von dir nicht dazu bestimmen, irgendein höheres, vielleicht gar ethisches Gut für niedriges Geld zu verkaufen, und du, du würdest ganz gewiß die allerletzte sein, mir so etwas zuzumuten. Ich bin auf das Wiedersehen am Niagara eingegangen, weil es sehr triftige Gründe dafür gibt, die beiden Brüder Enters oder Sander von nun an nicht wieder aus dem Auge zu lassen. Du weißt ja, daß es eine Gewohnheit jedes erfahrenen Westmannes ist, gefährliche Leute sich niemals in den Rücken kommen zu lassen.«

»Gefährlich?« fragte sie. – »Allerdings.«

»Wieso? Ich halte diesen Enters, obwohl er ein Sander zu sein scheint, doch für einen guten Menschen.«

»Ich auch. Aber kann nicht selbst die personifizierte Güte einmal obstinat werden? Liegt in der Niedergeschlagenheit und, ich möchte fast sagen, in dem krankhaften Tiefsinn dieses Mannes nicht etwas Explodierbares, vor dem man sich zu hüten hat? Und kennen wir seinen Bruder? Du weißt, Geschwister brauchen nicht von gleichem Charakter und gleichem Temperament zu sein. Ich bin überzeugt, daß wir ihn in Niagara kennenlernen werden, und dann wird es sich ja finden, wie wir uns zu beiden zu stellen haben, um sie nicht zu zwingen, in die Fußstapfen ihres Vaters zu treten. Der Doktor sprach gestern von einem Dämon in ihnen. Dieser Dämon hat uns hier aufgefunden, hat uns entdeckt. Es ist der Sandersche Zwang zum Morde. Du siehst, unsere Reise beginnt, sehr interessant, ja hochinteressant zu werden, noch ehe wir die ersten Schritte tun.«

»Siehst du Gefahr voraus?«

»O nein! Ich sehe nur, daß wir hinüber müssen, um den Mount Winnetou und Tatellah-Satah, den ,Bewahrer der großen Medizin‘, kennenzulernen. Er schreibt mir, daß ich Winnetou ,retten‘ soll. Habe ich das zu tun, so gibt es für mich keine Gefahr. Etwa für dich?«

»Für mich ebensowenig. Ich gehe fröhlich mit!«

»Dann vorwärts also, und wohlauf zur glücklichen Fahrt!« – – —

Zweites Kapitel. Nach der Teufelskanzel

Und nun waren wir bei den Niagarafällen. Wir wohnten im Clifton-House, unweit der kanadischen Mündung der Hängebrücke. Man hat von diesem Hotel aus einen geradezu unvergleichlichen Blick auf das grandiose Schauspiel der stürzenden Wassermassen. Die besten Zimmer liegen in der ersten Etage und sind den Fällen zugewendet. Sie münden alle auf eine lange, vielleicht acht Schritte breite Plattform, die ein gemeinschaftliches Säulendach überragt. Wer vom Korridor aus seinen Raum betritt, ihn quer durchschreitet und sich durch die gegenüberliegende Tür hinaus auf die Plattform begibt, der hat beide Fälle, den geraden und den hufeisenförmigen, genau in eindrucksfähigster Perspektive vor seinen Augen.

Wenn dieses Hotel in Deutschland läge, so würde man die Gemeinschaftlichkeit dieses Altanes für alle Bewohner dieser Zimmerreihe als einen Uebelstand empfinden, der durch Zwischenwände schleunigst zu beseitigen sei. Da drüben aber hat jeder Gast eine zwar unsichtbare, aber so hohe und so starke Mauer um sich gezogen, daß gar keine hölzernen Scheidewände nötig sind, um jedermann gegen Zudringlichkeiten und Indiskretionen zu sichern. Dennoch freute ich mich darüber, daß, als wir kamen, grad die den Fällen nächstgelegene Ecke dieser Zimmerreihe freigeworden war, so daß wir also anstatt zwei nur einen einzigen Nachbar haben konnten. Und dieser Eine war ein Paar, und dieses Paar hieß – – Hariman F. Enters und Sebulon L. Enters.

Es hatte mir geahnt, daß die Brüder nicht warten, sondern sich hier einquartieren würden, um bei unserer Ankunft sofort anwesend zu sein. Aber daß unsere beiderseitigen Zimmer aneinander stießen, das war ein Umstand, den man mit einer Ahnung wohl kaum hätte erreichen können. Ich muß gestehen, daß es mir keineswegs unlieb war, grad diese Beiden neben mir zu haben.

Ein jeder neu eingetretene Gast des Clifton-Hotels hat sich sofort in der am Parlour liegenden Office einzutragen. Das ist die einzige Auskunft, die man von ihm verlangt. Ich schrieb uns als »Mr. Burton und Frau« in das Buch. Dieses Pseudonym war deshalb notwendig, weil man mich verpflichtet hatte, den eigentlichen Grund, der mich hinüberführte, geheimzuhalten. Ich war also gezwungen, auf meinen wirklichen Namen, den man da drüben sehr wohl kennt, für jetzt zu verzichten.

Unsere Wohnung bestand aus drei Räumen, die, wie bereits gesagt, eine Ecke ausfüllten. Das Zimmer meiner Frau lag nach dem Hufeisenfalle, war größer als das meinige, hatte aber keinen Balkon. Das meinige hatte die Aussicht nach dem Vereinigten-Staaten-Katarakt, war kleiner, öffnete sich dafür aber nach der großen Plattform, auf der ich mich so häuslich einrichten konnte, wie es mir nur immer beliebte. Zwischen diesen beiden Zimmern lag der Garderobe- und Toilettenraum, der sie in amerikanisch praktischer Weise vereinigte. Als uns dieses Logis angewiesen und gezeigt wurde, fragte ich den Kellner, der dies tat, wer neben uns wohne.

»Zwei Brüder«, antwortete er. »Sie sind Yankees und heißen Enters. Aber sie wohnen eigentlich nur halb in unserem Haus. Sie schlafen nur hier; sie speisen anderswo. Sie gehen früh fort und kommen erst abends wieder, wenn es keine Tafel mehr gibt.«

Er machte dabei ein so eigenartiges Gesicht, daß ich mich erkundigte:

»Warum tun sie das?«

Er zuckte die Achsel und antwortete:

»Unser Clifton-House ist ein Hotel ersten Ranges. Wer diesem Rang nicht angehört, der wird wohl hier schlafen, nicht aber auch hier speisen und mit den anderen Gästen verkehren können. Er versucht es vielleicht einmal, fühlt sich dabei aber derart schnell erkannt und abgestoßen, daß er den Versuch gewiß nicht wiederholt.«

Das war sehr aufrichtig gesprochen! Wenigstens sechzig Prozent der dortigen Kellner sind Deutsche oder Oesterreicher. Dieser aber war ein kanadischer Engländer; daher dieser ebenso selbständige wie selbstbewußte Ton. Als er mich dabei schon mehr taxierend als forschend betrachtete, so sagte ich ihm, daß ich zu der Klasse gehöre, in der man den Betrag der Trinkgelder teilt. Die eine Hälfte gibt man sofort bei der Ankunft, um zu zeigen, daß man gern zufriedengestellt sein will, und die andere Hälfte entrichtet man dann bei der Abreise, oder man zahlt sie auch nicht, um zu zeigen, ob man zufriedengestellt worden ist oder nicht. Bei diesen Worten drückte ich ihm die erste Hälfte in die Hand. Er betrachtete die Note sehr ungeniert, um zu sehen, wieviel sie betrug; dann aber machte er eine Verbeugung, wie kein Deutscher und kein Oesterreicher sie hochachtungstiefer hätte machen können, und sprach:

»Zu jedem Befehl bereit! Werde das auch der Chambermaid anempfehlen! Sind diese beiden Enters vielleicht unbequem, Mr. Burton? Wir quartieren sie sofort aus!«

»Bitte, sie zu lassen; sie genieren uns nicht.«

Er verneigte sich ebenso tief wie vorher und ging dann, vor lauter Respekt und Wohlwollen strahlend, ab. Als sich uns hierauf, damit wir sie kennenlernen sollten, die »Chambermaid« vorstellte, sahen wir ihr an, daß sie von der Teilung des Trinkgeldes bereits unterrichtet war, und ermöglichten ihr einen ebenso wirkungsvollen Abgang wie dem Kellner. Das taten wir natürlich nicht, um mit unserem Geld zu prahlen, und noch viel weniger erzähle ich es hier aus diesem oder einem ähnlichen Grund. Ich habe ja bereits gesagt, daß ich keineswegs reich bin, sondern nur so grad mein Auskommen habe. Aber die Wirkungen dieser Art und Weise, den Bediensteten nicht erst dann, wenn es zu spät ist, zu zeigen, daß man Einsicht und Dankbarkeit besitzt, stellten sich sehr bald ein, und aus ihnen mag man erkennen, warum ich so tat.

Wir waren am Nachmittag angekommen und machten gleich noch an diesem Tag die zwei bekannten Fahrten, welche jeder Besucher der Niagarafälle unbedingt gemacht haben muß. Es ist das eine Bahn und eine Dampfbootfahrt. Das Gleis der Bahn geht hart am kanadischen Ufer des Niagara hinab und dann drüben am Vereinigten-Staaten-Ufer wieder herauf. Tief, tief unten kocht und brodelt der Strom; die Felsen steigen vollständig senkrecht in die Höhe, und die Schienen der Bahn liegen oft höchstens zwei Meter von der Kante des Abgrundes entfernt. An diesem letzteren rast man mit der Schnelligkeit des Fluges dahin, und man hat, da man nur den geöffneten Schlund und das jenseitige Ufer sieht, vom Anfang bis zum Ende dieser Fahrt das Gefühl, als ob man direkt in die Luft hinausfahre um dann in die Tiefe hinabzuschmettern. Die Bootsfahrt macht man auf der wohlbekannten und beliebten Maid of the Mist, welche kühn bis in die nächste Nähe der Fälle steuert und am geeigneten Ort diejenigen Touristen landet, welche daheim von sich rühmen wollen, daß sie sogar »hinter dem Wasser« gewesen seien.

Später aßen wir bei den Klängen eines ausgezeichnet spielenden doppelten Streichquartetts das Abendbrot in dem großen, im Parterre des Hotels liegenden Speisesaal und zogen uns dann in unsere Wohnung oder, richtiger gesagt, auf meinen freien Altan zurück, welcher uns den unbeschreiblichen Genuß gewährte, die Fälle von dem geheimnisvollsten Schimmer des Mondes besucht und verklärt zu sehen. Hierbei war es ungefähr elf Uhr geworden, als das Zimmermädchen eiligst herbeigehuscht kam und uns meldete:

»Die Enters sind da.«

»Wo?« fragte das Herzle.

»Noch unten in der Office. Sie pflegen allabendlich, wenn sie kommen, im Buch nachzuschlagen, und dann gehen sie auf ihr Zimmer.«

»Zu welchem Zweck schlagen sie nach?«

»Um zu sehen, ob ein deutsches Ehepaar hier angekommen ist, ein Mr. May mit seiner Frau. Erst fragten sie. jetzt aber schlagen sie nach, weil sie fühlen, Nebeljungfrau daß man sie hier für überflüssig hält. Auch ich spreche nicht mit ihnen.

»Sie entfernte sich, und wir verließen die Plattform, um nicht gesehen zu werden. Diese Mitteilung war die erste Frucht des vorausgezahlten Trinkgeldes. Zur Erläuterung ihrer Nützlichkeit für uns muß ich die Tür beschreiben, durch welche meine Stube von der Plattform getrennt wurde. Jeder Besucher des Clifton-House weiß, daß alle diese Türen, welche auf den freien Altan münden, die gleiche Konstruktion besitzen. Sie sind vorhanden, die Wohnungen vollständig abzuschließen, so daß niemand von draußen hereinsehen kann, aber doch grad so viel Luft und so viel Licht hereinzulassen, wie die Bewohner wünschen. Darum sind sie sowohl mit Fensterscheiben als auch mit Jalousieklappen versehen. Die letzteren können beliebig geöffnet und geschlossen und die ersteren mit Vorhängen verhüllt werden. So kann man also zu jeder Zeit hinausschauen und hinaushören, ohne aber selbst gesehen und selbst gehört zu werden. Wir brannten darum kein Licht an, blieben in meinem Zimmer und öffneten die Jalousie. Denn wir erwarteten mit Bestimmtheit, daß die Brüder nicht in ihrem Raum bleiben, sondern auf den Altan kommen würden.

Und wie gedacht, so geschehen: Es dauerte gar nicht lange, so erschienen sie. Der Mond stand noch am Himmel. Wir erkannten den Einen, der bei uns gewesen war, sofort. Sie sprachen miteinander und gingen dabei auf und ab. Später setzten sie sich, und zwar grad an den Tisch, der draußen in unserer Ecke stand. Ich hatte mir ihn hinstellen lassen, um daran schreiben zu können. Wir hörten und verstanden jedes Wort, doch war der Gegenstand ihres Gesprächs zunächst ein für uns gleichgültiger. Später aber trat eine Pause ein, welche der von ihnen, den wir noch nicht kannten, also Sebulon, durch die Interjektion beendete:

»Unangenehm! Höchst unangenehm, daß wir solange hiersitzen müssen! Das kann noch Wochen dauern, ehe sie kommen!«

»Gewiß nicht!« antwortete Hariman. »Sie kommen doch schon vorher, ehe sie die Verleger besuchen, hierher. Jeder Tag kann sie bringen.«

»Und du bleibst bei deinem Vorsatz?«

»Ja. Ehrlich sein! Dieser Mann hat mich zwar nicht sehr gut behandelt, aber wir kommen mit Unehrlichkeit nicht gegen ihn auf; das ist der Eindruck, den er mir mitgegeben hat. Und von seiner Frau kann ich fast sagen, daß ich sie liebgewonnen habe. Es würde mir geradezu weh tun, nicht rechtschaffen gegen sie sein zu dürfen.«

»Pshaw! Nicht rechtschaffen! Was heißt rechtschaffen! Rechtschaffen hat man zunächst doch gegen sich selbst zu sein. Und wenn wir ein Geschäft machen wollen, welches uns, klug angefangen – – – » »Pst! Still!« warnte ihn der andere.

»Warum?«

»Der Alte könnte es hören.«

Bei diesen Worten deutete er nach unserer Tür.

»Der Alte?« fragte Sebulon. »Du weißt doch, daß der täglich bis Punkt Mitternacht unten im Lesezimmer sitzt und dann noch bis ein Uhr hier oben in seiner Stube liest. Es brennt kein Licht; er ist also noch unten.«

»Trotzdem! Und zudem bin ich müde. Ich gehe jetzt schlafen. Morgen früh nach Toronto und erst übermorgen zurück. Wir müssen ausgeruht haben. Komm!«

Sie standen vom Tisch auf und gingen in ihren Raum. Es war nicht viel, was wir erfahren hatten, aber wir wußten nun doch wenigstens so viel, daß Hariman F. Enters es ehrlich mit uns meinte. Und wir waren überzeugt, daß Sebulon L. Enters, sein Bruder, wohl auch noch zu durchschauen sein werde.

Als wir am nächsten Morgen zum Frühstück hinuntergingen, sagte uns der Kellner, daß unsere beiden Nachbarn das Hotel schon zeitig verlassen und die Weisung gegeben hätten, wenn Mrs. und Mr. May hier ankämen, ihnen zu sagen, daß die Gebrüder Enters nach Toronto gefahren seien und erst morgen am Abend wiederkommen könnten. Er machte eine geringschätzige Handbewegung und fügte hinzu:

»Rowdys, diese beiden Enters! Haben sich hier beinahe unmöglich gemacht. Diese Mrs. und Mr. May aus Germany, die nach solchen Leuten suchen, passen wohl nicht für uns. Werden keine Zimmer bekommen!«

Wie gut, daß ich einen andern Namen eingetragen hatte! Auch diese Äußerung des Kellners mahnte zur Vorsicht, obgleich ein Rowdy zwar ein roher, aber immerhin noch kein schlechter Mensch zu sein braucht.

Dieses erste Frühstück war splendid im höchsten Grade: Kaffee, Tee, Kakao, Schokolade, eine Menge Fleisch- und Eierspeisen, Trauben, Ananas, Melonen und andere Früchte, so viel man wollte. Bedient wurden wir von unserm Zimmerkellner. Er hatte sich das von der Direktion ausgebeten. Mir war das lieb.

Es gibt im Clifton-House nur Einzeltische, keine große, gemeinschaftliche Tafel. Am besten sitzt und speist es sich in einer langen, an den großen Saal stoßenden Veranda, die so schmal ist, daß da nur zwei Reihen von Tischen Platz finden. Es gibt von da aus eine prächtige Aussicht nach den Fällen. Wir hatten uns einen dieser Tische gewählt und beschlossen, ihn für uns zu belegen. Als wir den Kellner fragten, ob man das könne, antwortete er:

»Gewöhnlich nicht, aber Mrs. und Mr. Burton können das. Ich werde es besorgen. Der beste Tisch wäre allerdings nicht dieser, sondern der hinterste, weil man da nur von einer Seite aus gesehen, gehört und belästigt werden kann. Den aber haben schon zwei Gentlemen in Beschlag genommen. Man schlug ihnen diesen Wunsch nicht ab.«

Das hatte er in gewöhnlichem Ton gesagt. Mit gesenkter Stimme aber fügte er hinzu:

»Sie bezahlen nämlich alles nur mit Nuggets! Sie haben eine ganze, schwere Tasche mit gediegenen Goldkörnern in Verwahrung gegeben!«

Viele, welche kamen und nach diesem Tisch gingen, um dort Platz zu nehmen, wurden abgewiesen, bis wir fast am Schlug der Frühstückszeit zwei Männer eintreten sahen, welche sofort aller Augen auf sich zogen. Sie standen ungefähr im gleichen Alter und waren Indianer. Das sah man gleich beim ersten Blick. Hoch und breitschulterig gebaut, mit scharf, aber, ich möchte beinahe sagen, edel geschnittenen Zügen, gingen sie, scheinbar ohne jemand anzusehen, langsam und würdevoll nach dem erwähnten Tisch und setzten sich dort nieder. Sie waren nicht indianisch gekleidet, sondern sie trugen feine Stoffanzüge nach gewöhnlicher Fassung, und ihr Haar war genauso verschnitten wie anderer Leute Haar; aber man konnte unbesorgt die höchste Wette darauf eingehen, daß sie im Sattel, auf der Savanne und zwischen den Kolossen des Felsengebirges wohl noch gebieterischer erscheinen würden als hier. jedoch trotz der tiefen Sonnenbräune ihrer Gesichter zeigte sich auf ihnen eine sehr sichtbare Spur jenes eigenartigen Hauches, den es nur bei Leuten gibt, welche viel nachgedacht haben und gewohnt sind, dieses ihr Nachdenken auf höhere Pfade zu lenken. Man pflegt bei solchen Personen von »durchgeistigten« Gesichtern, von »durchgeistigten« Zügen zu sprechen, und der Eindruck dieses »Durchgeistigtseins« ist um so größer, um so tiefer und um so dauernder, wenn dabei der Blick des Auges jene tiefe Schwermut, jene seelische Trauer bekundet, welche verschwindenden Jahren, zu Ende gehenden Tagen und sterbenden Völkern eigen ist. Diese stille, aber doch laut sprechende, unbeschreibliche Elegie des Auges war hier bei diesen Indianern vorhanden.

»Das sind die Gentlemen«, sagte der Kellner. »Feine Leute, wenn auch nur Indianer! Hochfein!«

Er schnippste dabei mit dem Daumen und Mittelfinger, um seinem Lobe Nachdruck zu geben.

»Woher sind sie?« fragte ich.

»Weiß es nicht genau. Der Eine von weither, sehr weit, der Andere von näher. Kamen beide über Quebec und Montreal den Fluß herauf.«

»Ihre Namen?«

»Mr. Athabaska und Mr. Algongka. Schöne Namen, was? Klingen fast wie Musik! Ist aber auch Musik: Zahlen nur mit Nuggets!«

Das war nun so sein Maßstab, und er scheute sich nicht im geringsten, ihn auch in unserer Gegenwart anzulegen. Er sagte uns noch, daß die beiden »Gentlemen« auch oben in der von ihm bedienten Zimmerreihe wohnten und da die größten und teuersten Räume hätten, die es gebe. Dann bekam er anderweit zu tun.

»Mr. Athabaska und Mr. Algongka« frühstückten sehr langsam und sehr mäßig, und zwar in einer Weise, als ob sie in Hotels von dem Range des Clifton-House aufgewachsen seien. Es war eine Lust, ihnen zuzusehen. Das taten wir natürlich so unauffällig wie möglich. Das Herzle freute sich besonders über die Würde, die in jeder, auch der geringsten Bewegung dieser hochinteressanten Männer lag, und über ihre Bescheidenheit. Es war bei ihnen kein Ring, keine Uhrkette und kein sonstiger Gegenstand zu sehen, der auf Wohlhabenheit oder gar Reichtum schließen ließ. Das war so recht nach dem Gusto meiner Frau, die ich ja fast zwingen muß, sich einen neuen Hut oder ein neues Kleid zu kaufen! Meine besondere Aufmerksamkeit richtete sich auf einen andern Umstand, nämlich auf den, daß sie sich, der gewöhnlichen indianischen Schweigsamkeit ganz entgegengesetzt, sehr lebhaft unterhielten und dabei sehr fleißig Einträge in zwei Bücher machten, die sie mitgebracht hatten, Jeder eins, sein eigenes. Das schienen Notizbücher zu sein, aber sehr, sehr wichtige, denn sie wurden mit einer Vorsicht und Liebe behandelt, als ob sie der beste und teuerste Besitz seien, den es für ihre Eigentümer gebe. Die Einträge, welche gemacht wurden, geschahen mit einer Geläufigkeit und Sicherheit, welche auf vollste Schreibübung schließen ließ. Man sah, daß diese Leute nicht etwa nur den Tomahawk und das Jagdmesser, sondern auch Feder und Bleistift zu führen verstanden und sehr gewöhnt waren, sich geistig zu beschäftigen.

Im Clifton-House wird nach jeder Mahlzeit, die man einnimmt, das Trinkgeld sofort bezahlt. Als wir dies jetzt nach dem Frühstück taten, erkundigte sich der Kellner, dem unser Interesse für die Indianer nicht entgangen war:

»Wünschen Mrs. und Mr. Burton vielleicht den Tisch ganz neben den beiden Gentlemen?«

»Ja«, antwortete das Herzle schnell.

»Für alle Tafelzeiten?«

»Für stets!«

»Well! Werde das besorgen!«

Als wir dann zum Mittagessen kamen, waren die Häuptlinge schon da. Auch alle anderen Tische, außer dem von uns bestellten, waren schon besetzt. Unser Kellner stand schon wartend da und teilte uns mit, daß die Direktion uns bitte, für immer hier an diesem Platz zu sitzen. Wir befanden uns nun also so nahe bei den zwei Indsmen, daß wir, wenn sie sprachen, jedes ihrer Worte hörten. Sie hatten ihre Bücher wieder mit und machten besonders in den Pausen zwischen den einzelnen Gängen zahlreiche Notizen, oft aber auch gleich während des Essens, indem sie Messer und Gabel einstweilen weglegten. Und man denke sich mein Erstaunen, als ich hörte, daß sie sich in der Sprache meines Winnetou unterhielten und sich die Aufgabe gestellt hatten, das innige Verwandtschaftsverhältnis aller athabaskischen Zungen, zu denen auch das Apatsche gehört, zu ergründen und festzustellen! Für Athabaska war das eine Beschäftigung mit den verschiedenen Abarten seiner Muttersprache, für Algongka aber nicht. Dieser schien vom kanadischen Stamm der Krih zu sein und machte im Laufe der sehr regen Unterhaltung die für mich hochinteressante Bemerkung, daß er mehrere große Wörterverzeichnis des Nahuatl, also der alten Aztekensprache, besitze, die mit seiner Muttersprache verwandt sei. Das für mich wichtigste Ergebnis unserer allerdings nur zuhörenden Teilnahme an ihrem Gespräch aber war eine nur so hingeworfene Beifügung, aus der ich entnahm, daß auch sie nach dem Dschebel Winnetou wollten und sich jetzt ausschließlich in der Mundart der Apatschen unterhielten, um am Ziele ihrer Reise nicht ungeübt zu sein oder gar als unwissend zu erscheinen. Welche Sprachkenntnisse mußten diese beiden Männer besitzen! Ja, sie waren Häuptlinge, ganz gewiß! Aber sie waren jedenfalls noch mehr, noch viel mehr als das! Doch was? Mit dieser letzteren Frage brauchte ich mich jetzt nicht zu beschäftigen. Sie hatten ja dasselbe Reiseziel wie ich, und ich war überzeugt, daß ich sie dort gewiß naher kennenlernen Würde, als es jetzt hier am Niagara möglich war.

Am Nachmittag fuhren wir nach Buffalo, um auf dem dortigen Forest Lawn Cemetary das Grab und die Statue des berühmten Häuptlings Sa-go-ye-wat-ha zu besuchen und ihm einige Blumen mitzubringen. Ich habe eine ganz besondere Zuneigung und Hochachtung grad für diesen großen Mann, den man noch heutigentags als den »strong and peerless orator« aller Seneca-Indianer bezeichnet. Dieser »Gottesacker« ist schön, fast einzig schön. Überhaupt besitzt der Amerikaner in Beziehung auf die Anlage von Friedhöfen eine, beinahe möchte ich sagen, Genialität. Er überwindet auch künstlerisch den Tod, indem er keine Hügel duldet, die doch weiter nichts als Ausrufezeichen der Verwesung seien. Er verwandelt den Tod vielmehr in das Leben, indem er als Beerdigungsstätte für die Verstorbenen gern ein auf- und absteigendes, also reich bewegtes Terrain auswählt, welches er als lichten, sonnenklaren, froh grünenden Park behandelt, dessen nicht eng, sondern weitverteilte Denkmäler in die Ferne hin den Auferstehungsgedanken predigen. Und es herrscht auf diesen Friedhöfen eine geradezu rührende Gleichbehandlung aller derer, die verstorben sind. Da ist der Arme der Gast des Reichen; der Ungelehrte ruht mit im Grab des Gelehrten, und der Niedrigstehende bekommt ganz unentgeltlich ein Ruhebett unter der Marmorplatte hochgestellter Patrizier. Ein armer, unbekannter, namenloser Mensch wird überfahren. Er ist tot. Ein Millionär kommt dazu. Er bleibt stehen. Er fragt, ob man den Verunglückten kenne. Die Antwort lautet »nein«. »So gehört er zu mir«, sagt der Millionär, nimmt den Toten mit sich heim und gibt ihm einen Platz in seinem Familiengrab. Das tut der Yankee. Wer tut es noch?

Es war ein schöner, klarer, sonnenwarmer Tag. Als wir die Blumen an dem Häuptlingssteine niedergelegt hatten, setzten wir uns auf die unterste Kante des Postamentes, auf welchem sein Standbild bis hoch in die Wipfel der umstellenden Bäume ragt. Wir sprachen von ihm, und zwar fast leise, wie man an den Gräbern Derer, die man besucht, zu sprechen pflegt, wenn man an die Auferstehung und an ein anderes Leben glaubt. Darum wurden wir von Denen, die sich hinter uns dem Denkmal näherten, nicht gehört. Und ebenso wenig wurden sie von uns gehört, weil weiches Gras rundum den Boden deckte und das Geräusch ihrer Schritte in Nichts verwandelte. Auch sehen konnten sie uns nicht eher, als bis sie um die Ecke des Postamentes getreten waren, welches uns ihnen verbarg. Dann sahen sie uns, und wir sahen sie. Und wer waren sie? Die beiden Indianerhäuptlinge aus dem Clifton-House! Auch sie hatten den berühmten Seneca-Redner besuchen wollen und bemerkten nun, daß wir von demselben Gedanken herbeigeführt worden waren. Aber sie taten gar nicht, als ob sie uns bemerkten. Sie schritten langsam weiter, an den Steinen hin, die man an der Vorderseite des Denkmales für ihn und die einzelnen Glieder seiner Familie in die Erde gesenkt hat. Da lagen unsere Blumen. Als sie diese sahen, blieben sie stehen.

»Uff! » sagte Athabaska. »Hier hat jemand in der Sprache der Liebe gesprochen! Wer mag das gewesen sein?«

»Ein Bleichgesicht jedenfalls nicht«, antwortete Algongka.

Er bückte sich nieder und hob einige der Blumen auf, um sie zu betrachten. Athabaska tat dasselbe. Beide wechselten einen schnellen, überraschten Blick.