Maria oder Fatima

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KARL MAY
MARIA ODER FATIMA

REISEERZÄHLUNG AUS DEM ORIENT

Aus

KARL MAYS

GESAMMELTE WERKE

BAND 23

„AUF FREMDEN PFADEN“

© Karl-May-Verlag

eISBN 978-3-7802-1313-6

KARL-MAY-VERLAG

BAMBERG • RADEBEUL

Inhalt

MARIA ODER FATIMA

MARIA ODER FATIMA

Wir, nämlich ich und mein treuer, langjähriger Begleiter, Hadschi Halef Omar, hatten die zwischen dem Kaspischen Meer und dem Urmia-See liegende Gegend durchstreift und waren dann über die türkische Grenze nach Rowandis gekommen, um von da aus in gerader Richtung nach Amadije zu reiten. Heute befanden wir uns im östlichen Teil des Tura-Ghara-Gebirges[1] und hielten auf einer kahlen Höhe, von der aus wir die Sonne untergehen sahen. Es war ziemlich kalt, denn wir befanden uns im Anfang Oktober, der zwischen jenen düsteren, wald- und wasserreichen Bergen rau aufzutreten pflegt.

Es hat bis heute[2] wenige Europäer gegeben, von denen man sagen kann, dass sie den Mut besaßen, bis zu dem Tura-Ghara-Gebirge vorzudringen. Die Kurden, die es bewohnen, sind die bigottesten Muhammedaner, die man sich denken kann, räuberisch gegen jedermann und grausam gegen Andersgläubige. Wir beide jedoch waren wohlbewaffnet, hatten Erfahrung genug, und da ich ihrer Sprache in den zwei Hauptdialekten mächtig war, durften wir hoffen, heiler Haut davonzukommen.

Die Sonne hatte den Gipfel des gegenüberliegenden Berges erreicht und senkte ihre Strahlenaureole langsam hinab, den Himmel mit glühenden Scheidegrüßen überzuckend. Es war ein Anblick, der zum Gebet stimmte. Ich dachte an das Ave-Läuten der Heimat und faltete die Hände. Halef tat dasselbe, er, der, als ich ihn kennenlernte, ein so strenger Muslim gewesen war und sich alle Mühe gegeben hatte, mich zu seinem Glauben zu bekehren.

Da klang aus der Tiefe ein Ton, der mich erstaunt aufhorchen ließ. Es war die leise, aber doch vernehmbare Silberstimme eines Glöckchens, und kaum ließ sie sich vernehmen, so hörten wir in unserer Nähe eine andere, lautere Stimme:

„Salâm iâ Marjam malânet et taufîk!“

Dies heißt zu Deutsch: „Gegrüßt seist du, Maria, voll der Gnade!“

Das war ja der Anfang des Ave Maria, des englischen Grußes, an den ich soeben gedacht hatte! Er wurde in arabischer Sprache vollständig gebetet, bis es zum dritten Mal erklang: „Hallak wa fi Sa’at el motina – jetzt und in der Stunde unseres Todes!“

Ich möchte fast sagen: Ich war starr vor Überraschung. Dieses christliche Gebet hier, wo ich ausschließlich Muhammedaner wusste, und dazu in einer arabischen Mundart, die von anderwärts stammte! Meinem wackeren Halef erging es ebenso. Er sagte, als der Beter geendet hatte:

„Hast du es gehört, Sihdi? Das war das Gebet der heiligen Jungfrau. Das ist ein Wunder hier! Wer mag es gesprochen haben?“

„Werden es gleich erfahren“, antwortete ich, während ich meinen Rapphengst nach der Gegend lenkte, in der die Stimme erklungen war. Dort war ein großer Felsblock. Auf der nach Westen gerichteten Seite, sodass er den Sonnenuntergang hatte sehen können, kniete der Beter, ein ärmlich gekleideter Greis, den Rosenkranz noch immer in den gefalteten Händen. Sein Anzug bestand aus einem kurzen Hemd und einer Hose, beides aus dünner, blauer Leinwand; die Füße waren nackt und auch der Kopf hatte keine Bedeckung. Das silberweiße Haar hing ihm lang über den Nacken herab, und von derselben ehrwürdigen Farbe war auch der Bart, der ihm bis auf die Brust reichte. Als er mich und Halef sah, sprang er erschrocken auf, so schnell es ihm sein hohes Alter erlaubte, und rief in flehendem Ton:

„Amân, amân – Gnade, Gnade, ihr Herren! Schont eines alten Mannes, der schon am Grabe steht!“

Ich reichte ihm die Hand vom Pferd herab und antwortete:

„Fürchte dich nicht, o Vater. Die Stelle, an der ein Mensch betet, müsste selbst dem schlimmsten Kurden heilig sein, und ich bin weder ein Kurde noch ein Perser, Araber oder Türke, sondern ein gläubiger Christ aus dem Abendland.“

„Ein Christ – ein Christ – aus dem Abendland!“, wiederholte er, während seine Augen sich groß und glänzend auf mich richteten. „Ist das wahr, Herr? Täuschst du mich nicht?“

Halef nahm gern jede Gelegenheit wahr, mein Lob zu verkünden, und versäumte dabei nicht, auch das seinige mit hören zu lassen; darum antwortete er schnell an meiner Stelle:

„Du darfst es glauben. Dieser berühmte Emir Hadschi Kara Ben Nemsi ist ein großer Krieger und Gelehrter aus Almanja. Er kennt die Namen, Sprachen und Gebete aller Länder und Völker, ist Meister in allen Wissenschaften und Künsten und hat bisher alle seine Feinde besiegt. Wir haben den Panther und den Löwen getötet und ganze Stämme der Kurden und Beduinen überwunden. Kein Feind kann uns beiden widerstehen. Wir bekämpfen jeden bösen und beschützen jeden guten Menschen. Wir haben gesehen und gehört, wie fromm und brav du bist. Sage uns, ob du einen Feind hast! Wir werden sofort zu ihm reiten und ihn niederschlagen!“

Das klang sehr großsprecherisch; aber der Morgenländer liebt es nun einmal, sich in dieser Weise auszudrücken, und mein guter Halef war wirklich ein verwegenes, tapferes Kerlchen, hatte noch nie einem Feind den Rücken gekehrt und durfte sich schon so eine kleine Überschwänglichkeit erlauben. Der Greis blickte von mir zu ihm und dann wieder von ihm zu mir herüber und sagte in freudigem Ton:

„Oh, solche Helfer brauchten wir gerade jetzt gar wohl. Am meisten aber freut es mich, dass du, o Emir, ein Christ aus dem Abendland bist. Ich habe gehört, dass dort die Christen viel, viel mächtiger sind als hier, wo wir uns verbergen müssen. Sei so gnädig, mir zu sagen, wohin du heute noch reiten wolltest!“

„Wir wollten bis morgen früh im Wald lagern, doch scheinen Leute hier zu wohnen?“

„Ja. Wir sind Verfolgte, Christen und Schiiten, und haben hier im Verborgenen ein Dorf errichtet, um unangefochten leben zu können. Wenn ihr bei uns bleiben wolltet, so würden wir euren Eingang segnen.“

„Wir bleiben bei euch; führe uns!“

Da ergriff er meine Hand wieder und rief entzückt aus:

„Herr, ich danke dir! Du bringst große Freude in unsere Hütten. Aber, sage mir, willst du bei uns Christen oder bei den Schiiten wohnen?“

„Ist das nicht gleich? Kann ich nicht Gast des ganzen Dorfes sein?“

„Nein. Wir lebten in Einigkeit mit den Schiiten, haben uns aber jetzt mit ihnen fast entzweit. Sie wollen töten, wir aber beabsichtigen, List anzuwenden, weil wir uns als Christen scheuen, Blut zu vergießen.“

„Wessen Blut?“

„Dasjenige der Akra-Kurden. Doch davon weißt du ja nichts, ich muss es dir erzählen. Einer der Schiiten traf vor zwei Jahren mit einigen Akra-Kurden zusammen. Sie fielen ihn an, um ihn zu berauben; er wehrte sich tapfer und entkam, nachdem er mehrere verwundet hatte. Aus Rache griffen sie uns in unserem früheren Wohnsitz an, töteten eine Anzahl unserer Leute und schleppten acht Personen von uns fort, vier Männer, drei Frauen und ein Mädchen, teils Christen, teils Schiiten. Wir folgten, obgleich wir schwach waren, ihnen heimlich nach, um die Gefangenen, denen als Sklaven ein trauriges Schicksal bevorstand, zu befreien; aber die Akra sind nicht sesshaft; als wir ihre Hütten erreichten, fanden wir diese leer. Seit jener Zeit sind sie am Ghasir-Fluss gewesen, also so fern von uns, dass wir nicht zu ihnen konnten. Nun aber sind sie zurückgekehrt und wohnen nur zwei Tagereisen von unserem jetzigen Dorf, wohin wir uns zurückgezogen haben. Einige Männer von uns sind hingegangen, um zu kundschaften; sie haben die Gefangenen bei schwerer Arbeit und in Ketten gesehen. Nun wollen wir sie befreien, wir Christen durch List, die Schiiten aber durch offenen Überfall; deshalb haben wir uns entzweit. Schir Ssafi, der Anführer der Schiiten, zürnt uns sehr, dass wir nicht mit ihm ziehen wollen. Morgen will er mit seinen Leuten aufbrechen; wir aber müssten auch schon deshalb zurückbleiben, weil morgen das ’Id el Masbaha, das Fest des heiligen Rosenkranzes ist. Herr, wenn du dieses mit uns feiern wolltest! Es ist ja seit langer Zeit kein Priester zu uns gekommen. Wir haben uns eine Kirche gebaut, mit einem Glöcklein an der Spitze, dessen Stimme du vorhin vielleicht vernommen hast. Da beten wir; aber eine Predigt haben wir seit Jahren nicht gehört, und el Kurbân el mukaddas, das heilige Abendmahl, noch viel, viel länger nicht empfangen.“

Diese Worte des ehrwürdigen Mannes rührten mich tief. Hier, in dieser Abgeschiedenheit, gab es einen Hunger nach geistlicher Speise, der nicht gestillt werden konnte. Also das Fest des Rosenkranzes war morgen? Ja, heute war ja der erste Oktober-Sonnabend, also morgen der Tag, an dem die ganze katholische Christenheit dies Fest begeht. Ein Rosenkranzfest im wilden Kurdistan! Welcher Europäer hatte so etwas miterlebt? Keiner! Darum schüttelte ich dem Alten die Hand und sagte:

„Ich werde nicht bei den Schiiten, sondern bei euch bleiben und das Fest mit euch begehen. Ihr sollt dabei eine Predigt hören.“

„Eine Predigt?“, fragte er schnell. „Bist du nicht nur ein Krieger, sondern auch ein Priester?“

„Nein. Dennoch wird Gott mir nicht zürnen, wenn ich euch das Wort verkünde, nach dem sich eure Herzen sehnen. Jeder Mensch soll eigentlich für den Kreis, in dem er wirken kann, nach Wort und Wandel ein Priester sein. Aber werdet ihr, wenn ich spreche, mich verstehen?“

„So gut, wie ich dich jetzt verstehe, o Herr. Wir sind aus Bebosi, wo wir vertrieben wurden, herübergekommen.“

 

„Ja, ich weiß, dass dort katholische Christen waren, die von den Missuri-Kurden schwer bedrückt worden sind. Der dortige arabische Dialekt ist mir bekannt, ihr werdet meine Rede verstehen. Nun aber führe uns zu euch, denn es dunkelt stark!“

„Ja, kommt, Herr! Ich werde mit tausend Freuden euer Führer sein.“

Er schritt uns voran, die kahle Bergkuppe hinab, und wir folgten ihm. Der Weg war so steil, dass wir absteigen und unsere Pferde führen mussten. Erst jetzt schenkte der Alte meinem Hengst seine Aufmerksamkeit. Er sah, dass das Pferd ein echter Araber vom reinsten Stammbaum war, und floss vor Bewunderung über.

Dann kam der Wald, der aus Eichen und Buchen bestand. Als wir ihn unten am Fuß des Berges verließen, sahen wir ein langes und breites Tal vor uns liegen, durch dessen Mitte fast schnurgerade ein Bach floss. Dieses Tal hatte nur einen Aus- oder Eingang, uns zur Rechten; links hinten wurde es durch eine steile Querhöhe abgeschlossen, an deren Fuß das Wasser entsprang. Zu beiden Seiten des Baches weideten Pferde, Rinder, Schafe und auch Ziegen. Drüben und hüben stand am Waldesrand je eine Reihe von Hütten. Unter den diesseitigen gab es eine, die höher war als die anderen und mit einer Spitze versehen; das war jedenfalls die Kirche, denn an dieser Spitze hing eine kleine Glocke. Jenseits zeichnete sich auch eine Hütte durch Umfang und Höhe vor den anderen aus. Das war, wie ich dann hörte, die Moschee der Schiiten. All diese Wohnungen waren aus dünnen Stämmen errichtet, die Wände bestanden aus geflochtenen Zweigen. Der Alte deutete erst herüber und dann hinüber und sagte:

„Hier wohnen wir, drüben die Muhammedaner. Das Wasser bildet die Grenze, die früher nicht beachtet wurde, jetzt aber eingehalten wird.“

„Wer ist der Kjaja[3] bei euch?“, fragte ich.

„Ich, obgleich ich der Ärmste und Beklagenswerteste von allen bin.“

„Warum beklagenswert?“

„Wegen der Geschichte, die ich dir erzählt habe. Mein Sohn, sein Weib und mein Enkel befinden sich unter den Sklaven der Akra-Kurden. Ich bin nun ohne Familie und allein. Ich bete täglich zu Gott, dass meinen Kindern die Freiheit wieder werde; es ist bis jetzt vergeblich gewesen.“

„Bete weiter! Das Gebet vermag viel, wenn es gläubig und ernstlich ist. Der Allgütige leitet alles zum Besten seiner Kinder. Die Prüfung, die er euch auferlegt hat, wird euch im Glauben stärken.“

„Herr, ich glaube ja! Ohne diese Zuversicht hätte der Gram mich längst unter die Erde gebettet. Nun aber sollst du sehen, wie herzlich man dich empfangen wird.“

Es waren bisher nur wenige Menschen zu sehen gewesen. Da ließ er einen lauten Ruf hören, während wir dem Dorf noch entgegenschritten, und sofort kamen hüben und drüben die Bewohner aus den Hütten. Als die diesseitigen uns erblickten, kamen sie uns entgegen; selbst die Kinder, auch die kleinsten, trippelten hinterher. Man sah, dass diese Leute nicht reich waren; ihre mehr als einfache Kleidung bewies es.

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