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Münchhausen

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Münchhausen
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Eine Geschichte in Arabesken


ERSTER TEIL 

Erstes Buch. Münchhausens Debüt

Eilftes Kapitel

Worin der Freiherr seinen Abscheu vor dem Laster des Lügens nicht allein ausspricht, sondern auch betätigt

»Was für ein schändliches Laster ist das Lügen! Denn erstens kommt es leicht heraus, wenn einer zu arg flunkert, und zweitens kann jemand, der sich‘s angewöhnt hat, auch einmal die Wahrheit sprechen, und keiner glaubt sie ihm dann.

Daß mein Ahnherr, der Freiherr von Münchhausen auf Bodenwerder einmal in seinem Leben die Wahrheit sagte, und niemand ihm glauben wollte, das hat bei dreihundert Menschen das Leben gekostet.«

»Wie?« riefen der Baron und seine Tochter aus einem Munde.

»Geschätzte Freunde und liebe Wirte, mäßiget Euer Erstaunen«, versetzte der Gast, indem er, wie ein Kaninchen, die Nasenflügel zitternd bewegte, und mit den doppelfarbigen Augen zwinkerte. »Nichts natürlicher, als das. Hört nur zu. Der besagte Ahnherr war leider Gottes, wie Ihr wißt, ein ungemeiner und erschrecklicher Lügensack. Wer erinnert sich nicht der zwölf Enten, die er mit einem Stücke Schinkenspeck fing, nicht seines halbierten Rosses, welches in diesem Zustande der Halbheit dennoch eine Nachkommenschaft zu erzielen vermögend war, nicht des tollgewordnen Jagdpelzes, nicht der im Posthorn eingefrornen Töne, und — und — o! o! o! — —«

Das blaue Auge des Enkels weinte, sein braunes blitzte von tugendhaftem Zorne, er konnte nicht weiterreden. Dem alten Baron und seiner Tochter gelang es endlich, ihn zu beruhigen. Der edle Redner schluchzte noch ein weniges, dann fuhr er so fort: »Es ist meiner Treu recht schlecht von mir, daß ich von meinem in Gott ruhenden Ahnherrn Übles rede, aber ehrlich währt am längsten. Dieser Mensch und Lügner hat die historische Wahrheit auf Jahrhunderte hin vergiftet, und die nachgebornen Geschlechter gewissermaßen unter die Botmäßigkeit jedes Irrwahns gegeben, der seitdem in der Welt auftrat. Ja, um mich eines Gleichnisses aus einer seiner abgeschmackten Fabeln zu bedienen, es erging der Menschheit nachmals mit jedem falschen Propheten wie dem Bären, den der Ahnherr an die honigbeschmierte Wagenstange lockte, und der sich durch und durch auf selbige hinaufleckte. Denn es mochte den Leuten etwas noch so Unglaubliches vorgeschwätzt werden, sie riefen immer: »Das muß wahr sein; Münchhausen hat ganz andre Sachen erfahren!« So leckten sich die Leute vor fünfzig bis sechzig Jahren auf den Eiszapfen der Aufklärung hinauf, und als sie mit Mühe und Not von diesem wieder heruntergeschroben waren, und die grimmige Erkältung noch in ihren Eingeweiden rasselte, da kamen die Franzosen und hielten ihnen den Freiheitsbaum vor, mit einer Mischung von Sirup und Kognak bestrichen, und die Narren leckten wieder so tapfer darauf los, daß sie bald alle mit Schmerzen an dem stachlichten Stamme festsaßen, und Napoleon mit leichter Mühe sie daran hinter sich herziehen konnte. Nun, diese Begeisterung nahm denn endlich auch ein Ende mit Schrecken und gegenwärtig...«

»Gegenwärtig?« fragte der Baron erwartungsvoll. »Gegenwärtig«, versetzte der Freiherr bedächtig, »werden so viele und verschiedenartige Stangen, Bäume und Zapfen, worunter sich auch einige Eisenschienen befinden, mit Honig bestrichen, daß sich noch nicht entscheiden läßt, welches dieser Fangmittel die meisten zu fesseln imstande sein werde.«

»Aber das Wort der Wahrheit, durch welches Ihr Ahnherr an die dreihundert Menschen tötete!« rief das Fräulein Emerentia sanft und dringend.

»Recht so, meine Gnädige«, erwiderte der Freiherr. »Allegorie und Phantasiespiele sind aus der Mode, gehören der Ramlerschen Zeit an; »Stoff! Stoff! Stoff!« ruft die nach Realitäten hungrige Welt. Hier ist der meinige. Münchhausen, der Ahnherr, war trotz seines greulichen Lasters eine seltenbegabte Natur. Er hatte mit Cagliostro in Verbindung gestanden, zu seiner Zeit Gold gemacht, von der Sorte, die man Knallgold nennt, man versicherte, er höre, nicht im figürlichen, sondern im buchstäblichen Sinne, das Gras wachsen, kurz, er hatte tiefe Blicke in so manches Naturgeheimnis getan. Besonders war an ihm ein scharfes Ahnungsvermögen für eigne Körperzustände ausgebildet worden, und alles, was nachmals in diesem Betreff von nervösen oder somnambülen Personen erzählt worden ist, war Kleinigkeit gegen das, was glaubwürdige Gewährsmänner mir von ihm berichtet haben. Er wußte an sich selbst jede Befindensveränderung, wie die Homöopathen die Krankheiten nennen, vorauszuspüren, und trug, sozusagen, seine ganze somatische Zukunft, im Geruch vorgebildet, mit sich umher. Daß einer merkt, wenn ein Schnupfen bei ihm im Anzug ist, will nicht viel bedeuten; aber durch den Schnupfen hindurch die späteren Übel, die ihn noch betreffen sollen, zu merken, ist allerdings nicht jedem gegeben. »Theophilus«, sagte der Ahnherr eines Tages zu dem Manne, der mein Vater vor der Welt heißt, »Theophilus, ich kriege morgen einen rechtschaffenen Schnupfen, wenn der vorüber ist, gibt‘s ein kaltes Fieberchen, und darnach wird der Rest der bösen Schärfe als Podagra in den rechten Fuß fahren.« Und richtig, so kam es. Er hatte durch den Schnupfen hindurch das kalte Fieber, durch dieses hindurch das Podagra an sich abgewittert.

Sie haben gewiß von jenem südamerikanischen Indianerstamme im Gebiete Apapurincasiquinitschchiquisaqua gehört?«

»A... pa... pu... rin...« buchstabierte der alte Baron. »Jawohl, jawohl haben wir von diesem Stamme gehört«, fuhr er nach einigem Besinnen fort. »Wer sollte auch davon nicht gehört haben!«

»Apapurincasiquinitschchiquisaqua«, flüsterte das Fräulein schwärmerisch vor sich hin.

»Dieser Indianerstamm«, sagte der Freiherr, »wohnt dreiundsechzigdreiviertel Meilen südlich vom Äquator auf einem Bergplateau zweitausendfünfhundert Fuß über der Meeresfläche. Von den schneeigten Piks der Cordilleras rings geschützt, leben jene Menschen ein einfaches Ur- und Naturleben hin. Nie suchte die Habsucht und Grausamkeit der Konquistadoren sie hinter ihren beschirmenden Felsenwällen heim. Bäume gibt es nicht auf Apapurincasiquinitschchiquisaqua wegen seiner hohen Lage, aber unendliche Flächen dehnen sich an den sonnebeschienenen Abhängen der Piks aus, smaragdgrün von einer Grasart, in deren breiten, fächerartigen Blättern der Westwind, welcher da beständig weht, ein melodisches Säuseln zu erwecken nicht müde wird. Zahlreiche Herden von pfirsichblütenen Kühen und Stieren, (so lieblich scherzt dort die Natur in Farben) weiden in den grünen Grasweiden; die feurigen Kälber sind goldgelb, erst nach und nach nehmen sie jenen kälteren Farbenton an. Dieses Rindvieh ist der einzige Reichtum der unschuldigen Apapurincasiquinitschchiquisaquaner. Sie leben fast nur von der sauren oder sogenannten Schlippermilch, welche ihre schönen Jungfrauen, vom Antlitz bis zu den Fußknöcheln tätowiert, mit den feinen, rot- und gelbbemalten Fingern den strotzenden Eutern der Kühe entziehn.«

»Ihr himmlischen Mächte, wie reizend!« sagte das Fräulein, in Gefühl schwelgend.

»Das heißt«, erinnerte der Baron, und rieb sich die Stirn, »aus den Eutern gewinnen sie süße Milch, und nachher machen sie den sauren Schlipper daraus.«

»Nein!« antwortete der Freiherr. »Der saure Schlipper kommt auf jenem glücklichen Bergplateau von der Kuh, und nur, wenn er lange gestanden hat, und dem Zustande der Verderbnis sich nähert, dann geht er in Süßigkeit über.«

»Hm! Hm! Hm! Ja... aber — —« murmelte der Alte und schüttelte den Kopf.

»Erstaunen Sie nicht, hören Sie mich ruhig aus. Ist nicht alles Ursprüngliche sauer? Wie schmeckt die wilde und unverbildete Kastanie? Kannst du in den jugendgrünen Apfel beißen, ohne das Gesicht verzerren zu müssen, oder in die kindliche harte Pflaume? Geben Trauben, die der buhlerische Strahl der Sonne noch nicht um ihre Unschuld betrog, etwas anderes, als Essig? Pindar singt: Das Fürnehmste ist Wasser; ich aber sage: Das Ursprüngliche ist sauer.«

»O, das Ursprüngliche!« seufzte Emerentia.

»Sauer ist daher die Milch jener Natur-Kühe. Alle Haustiere verlieren bekanntlich durch den Umgang mit Menschen viel von ihrer ursprünglichen Ausstattung; Hund und Katze, die in der Wildnis zottige, energische Bestien sind, werden in unsern Stuben kleine glatte Schmeichler, und so gibt denn auch unser Hornvieh, weil es in alle Widersprüche abschwächender Kultur mit einging, einen Saft, von welchem wir zwar glauben, er sei das Ergebnis unverstimmter Kräfte, welcher aber gleichwohl in seiner süßen Schlaffheit nur die herabgekommne Konstitution der zahmen oder Kunst-Kuh anzeigt. Erst wenn diese sogenannte süße, eigentlich aber entnervte Milch eine Zeitlang gestanden hat, besinnt sie sich wieder auf ihre verscherzte Ursprünglichkeit, fährt in Reue und Scham zu den klaren Molken und dem gehaltvollen Schlipper auseinander, den die Leute in Niedersachsen auch wohl Waddicke nennen, und nun, in diesem biedern Zustande, wird sie von allen reinen Seelen in der holden Einsamkeit eines bäuerlichen Düngerhofes mit Wollust verschlürft. Aber Reue ist keine Unschuld, und unsre Schlippermilch nicht die, welche auf den Höhen von Apapurincasiquinitschchiquisaqua warm von der Kuh gezogen wird. — O tränke wieder jeder deutsche Mann saure Milch...«

»Und rauchte dazu seine Pfeife Tobak...«, fiel der alte Baron mit Wärme ein.

»... ginge dann zwischen Gemüsebeeten auf und nieder spazieren!...« rief der Freiherr.

»Und hörte nichts, als: Alle neun! oder Sandhase! von der benachbarten Kegelbahn —« seufzte der alte Baron.

»Dann wäre Germanien wahrhaft restauriert!« schloß der Gast mit Emphase.

 

»Aber um der Götter willen«, rief ein hagrer Mann, welcher während dieser Gespräche eingetreten war, »wir erfahren ja noch immer das Wort der Wahrheit nicht, wodurch Ihr Ahnherr dreihundert Menschen vom Leben zum Tode brachte!«

Der Freiherr sah auf seine Uhr, und sagte mit dem Tone geistiger Überlegenheit, welcher ihm eigen war: »Es möchte dazu heute zu spät sein. Auf morgen also, wenn Sie vergönnen.« Er stand auf, nahm eine Kerze, und verließ, allen eine gute Nacht wünschend, das Zimmer.

»Warum fielt Ihr ihm in die Rede, Schulmeister?« sagte der alte Baron verdrießlich zu dem Hagern. »Einen solchen Mann, mit einem so weltumfassenden Gesichtskreis muß man nie im Flusse des Wortes stören, es kommt immer dabei etwas zum Vorschein, was unterhält und belehrt, und am Ende wären wir doch wohl noch zu dem Worte der Wahrheit seines Ahnherrn gediehen, wenn Ihr ihn nicht unterbrochen hättet.«

»Schelten Sie mich nicht, mein Gönner, um diesen Freiherrn von Münchhausen, der uns da so unversehens in das Schloß geworfen ist«; erwiderte der Hagre. »Er kann den an Kürze und Lakonismus Gewohnten schon ungeduldig machen, dieser endlose Redner und Erzähler, denn er verfällt immer aus dem Hundertsten in das Tausendste. Kürze aber, die körnige Kürze der Sparter, ist wie ein Köcher, darin gar viele Pfeile stecken; indem erstens...«

»Es ist schon gut, Schulmeister«, fiel ihm der Alte in die Rede, indem er ihn mit einem zweideutigen Blicke maß. »Warum kommt Ihr heute so spät? Wir haben alles aufgespeist.«

Der Schulmeister Agesilaus ließ seine Augen in die Ecke des Zimmers dringen, worin ein kleiner Tisch stand, ärmlich gedeckt. Die Knochen eines verzehrten Huhns lagen auf den Tellern verstreut. »Es wollte sich in der Eile nicht des Schilfes genug für mein Nachtlager schneiden lassen«, versetzte er. »So bin ich denn hier nach dem Mahle erschienen, und werde mich zu Hause mit schwarzer Suppe verköstigen müssen.« Er zündete seine Blendlaterne an, schlug den groben, zerrißnen Mantelkragen, den er statt des Rockes trug, fester um sich, und entfernte sich nach höflicher Verbeugung gegen den Baron und das Fräulein.

Der Alte sah sich um und murrte: »Kein zweiter Leuchter mehr hier?« Er nahm aus dem Wandschranke ein Lichtstümpfchen, steckte es in den Hals einer Flasche, und ging mit dieser Vorrichtung aus dem Stegreife davon, in tiefen Gedanken über die Erzählungen des Gastes, ohne der Tochter weiter zu achten.

Diese hatte von allen seitherigen Verhandlungen nichts bemerkt, weil sich nach der Schilderung jenes glückseligen Bergplateaus die romantische Träumerei ihrer bemächtigt hatte, in die sie nicht selten versinken konnte. Jetzt fuhr sie aus diesen Entzückungen der Abwesenheit empor, und rief: »Großes, ungeheures Naturbild! Das Smaragdgrün der Wiesen am Abhange der Piks, vermischt mit dem Pfirsichrot der Kühe und dem Goldgelb der Kälber, sich abhebend von dem Schneeweiß der Cordillerasgipfel im Hintergrunde! O wäre ich auf Apapur... auf Apapur... auf der Bergebene mit dem unaussprechlichen Namen!«

Ein Windstoß warf das Fenster auf, dessen einer Flügel, nur noch morsch in seinen Nägeln hangend, zu Boden fiel, und klirrend zertrümmerte. Das Fräulein aber achtete dieses Umstandes nicht sonderlich, sondern hob eine Tischplatte ab, stellte sie gegen die Lücke, und begab sich dann, gleich den übrigen Personen, zur Ruhe, um von der Bergebne, mit deren langem Namen ich meine Zuhörer schon so oft habe behelligen müssen, weiterzuträumen.

Zwölftes Kapitel

Der Freiherr bringt zwar die angefangne Geschichte nicht zu Ende, handelt aber von andern außerordentlichen Dingen

Münchhausen hob am folgenden Abende ohne Vorrede also an: »Der südamerikanische Indianerstamm, welcher uns gestern beschäftigte, bringt es bei seiner sauren Milchnahrung meistens zu einem sehr hohen Alter. Es ist unter ihnen gar nicht selten, daß Männer und Frauen das hundertste Jahr zurücklegen. Weil ihre Sinne und Säfte nun immer in der unmittelbarsten Gemeinschaft mit der Natur verblieben, so wissen sie auch durch ein richtiges Gefühl, wenn die Natur sich ihr Ziel gesetzt hat. Ein solcher Sterbegreis sagt daher ganz genau Stunde, Minute und Augenblick seines Todes voraus, flicht sich die Strohflasche, worin er sich zu bestatten gedenkt...«

»Die Strohflasche?« fragte der Schulmeister Agesilaus.

»Die Strohflasche«, erwiderte der Freiherr kaltblütig. »Wenn man mir von Anfang an zugehört hätte, so würde manche Frage zu sparen sein. Holz haben sie nicht, das sagte ich schon gestern, Särge können sie folglich nicht zimmern, sie müssen sich mit getrocknetem Grase oder Stroh helfen, um ihre Leichenfutterale zu fertigen. Ein solches Futteral hat die Form desjenigen Geflechts, worin der Maraschino von Triest verschickt wird, länglicht-viereckicht, oben mit einem kurzen, etwas engeren Halse. Dahinein kriecht nun der Sterbegreis, nachdem er von seinen Angehörigen Abschied genommen hat, und endet pünktlich in dem vorhergesagten Augenblicke. Sobald er verschieden ist, binden sie eine Blase über die Mündung, und dann setzt sich die ganze Familie im Kreise um das Sterbefutteral her und ißt zum Gedächtnis des Verewigten saure Milch. Hierauf tragen sie die Strohflasche nach der Felsenbank Pipirilipi, dem allgemeinen Begräbnisorte des Volks. Dort wird sie zu den übrigen gestellt. Ich habe jene Ruhestatt selbst gesehen; sie gewährt einen schönen Anblick. Wie auf Rayolen in einem wohlversehenen Keller stehen dort auf der Felsenbank viele tausend Flaschen nebeneinander, die Vorzeit des Volks ist sozusagen auf Stroh abgezogen.«

»Sie waren auch auf dem smaragdgrünen Plateau?« fragte das Fräulein einigermaßen befremdet.

»Liebe Seele, wo wäre ich nicht gewesen!« antwortete lächelnd der Freiherr. »Ich war vor einigen Jahren europamüde, warum? weiß ich selbst nicht, denn es hatte mir niemand etwas zuleide getan, aber ich war europamüde, wie man gegen eilf Uhr abends schlafmüde wird. Beschloß also, zu reisen, so weit weg, wie möglich. Weil aber heutzutage jeder Mensch, der in Betrachtung kommen will, absonderlich unterweges, interessant sein und den Spleen haben muß, reiste ich erst nach Berlin und ließ mich dort im Interessantsein unterrichten; dafür zahlte ich zwei Friedrichsd‘or Honorar. Dann ging ich nach London, und lernte dort bei einem Master den Spleen; der Tausendsassa war aber teuer, ich mußte ihm, Sie mögen es mir glauben, oder nicht, zwanzig Guineen entrichten, und außerdem schwören, das Geheimnis nicht verraten zu wollen.

Nachdem ich so das Interessante und den Spleen weg hatte, glückte es mir überall recht sehr. Ich trug mich bald als Engländer, bald als Neugrieche, zuweilen lag ich als Dame auf dem Sofa und hatte Migräne; dabei redete ich ein Kauderwelsch von Französisch und Deutsch, wie es zu Anfang des achtzehnten Jahrhunderts während der großen Sprachverderbnis Mode war. In jenen wechselnden Kostümen, und in diesem Deutsch, gorge-de-pigeon, bestand das Interessante; was aber den Spleen angeht, so führte ich immer Kampfer bei mir, um das Geheimnis frisch zu erhalten. Davon bekommt man nämlich eine blasse Couleur; ich sah bald aus, als hätte ich schon zehn Jahre im Grabe gelegen. Als ich mich eines Tages in meinem Toilettenspiegel, deren ich damals, wo ich der Eitelkeit frönte, stets mehrere besaß, zu Gesichte bekam, und meine bleiche Farbe erblickte, ging mir ein lichter Gedanke im Kopfe auf. »Sehe ich nicht wie eine Leiche aus?« sagte ich zu mir selber. »Ich will mich den Verstorbenen nennen.« Gesagt, getan! Dieser Einfall hat Wunder gewirkt. Einen Verstorbenen hatten die Deutschen noch nicht gehabt. Und nun gar ein Verstorbener, der so traulich mit ihnen zu plaudern wußte, und ihnen tausend Geschichtchen erzählte, die ein Lebender allenfalls auch in jedem Klatschzimmer der Sozietät hätte auftreiben können! Jung und alt, Männer und Weiber, Gelehrte und Idioten drängten sich zu den Leichenspuren des Verstorbenen; die alte Fabel wurde wieder neu, welche das Volk hinter einem geschmückten Verwesten jubelnd herwandern läßt. Geheime Künste haben es aus der Gruft emporbeschworen, die Menge zu locken. Die Jünglinge drängen sich begehrlich heran, mit der buntgeschminkten Frau Venus zu tanzen; immer weiter lockt die pestdampfende Schönheit, welche ihnen wie Zibeth und Ambra riecht, die Lüsternen; endlich auf einem Kirchhofe fallen die Gewänder von den klappernden Gebeinen ab, und ein scheußliches Skelett faucht ihnen den Spruch zu: »Sic transit gloria mundi.« Aber mit mir kam es nicht so weit, vielmehr blieb ich, obgleich ein duftender Verstorbener, recht inmitten der Gloria Mundi. Nachdem ich so berühmt geworden war, strich ich durch die ganze Welt, kam auch im Vorbeigehen durch Afrika; in Algier wurde ich Arabisch mit allen Formalitäten, hatte dann gutes Logis bei Vizekönigs von Ägypten. Er wurde mein Duzbruder, und ich mußte ihm tausend Sachen erzählen, die er mir alle geglaubt hat. Weiter oberhalb nach Nubien zu, unfern der großen Katarakte, stieß mir ein hübsches Abenteuer mit einem Nilpferde auf. Ich sitze am Strom im Schilf, in naturalibus, wie mich der Herr geschaffen hat, denn anders bin ich in Afrika nie gegangen; esse mein Mittagsbrot in guter Ruhe, siehe da, schießt eine Bestie von Hippopotamos auf mich zu, und hat mich im Rachen, ehe ich noch rufen kann: »Qui vive!« Ich indessen nehme in der Geschwindigkeit mein bißchen Geistesgegenwart zusammen, schreie in dem Rachen, als das Vieh mich eben verschlucken will: »Monsieur! Monsieur! avec permission, je suis son Altesse telle et telle!« Was geschieht? Sie mögen es mir glauben oder nicht: Die gute Seele von Nilpferd spuckt mich auf der Stelle aus, wischt sich die Tränen aus den Augen...«

»Womit? Womit?« rief der Baron.

»... mit einem Palmblatte, welches die ehrliche Haut in die rechte Vorderpfote nimmt; errötet, und rennt beschämt davon. So weit haben es Vizekönigs schon in Ägypten gebracht, daß selbst die Hippopotamoi vor literarischen Sommitäten Respekt bezeigen.«

»Ich meine, das Nilpferd nähre sich nur von Vegetabilien, nicht von Fleisch«, wandte das Fräulein bescheiden ein.

»Es ist vermutlich kurzsichtig gewesen, und hat mich für eine Pflanze angesehen«, antwortete der Freiherr. »Ich weiß, was ich weiß; ich habe im Rachen drin gesteckt. Wahrheit muß Wahrheit bleiben, und ehrlich währt am längsten. Wo blieb ich stehen? Ja, in Afrika. Warum soll ich Sie aber mit solchen Kleinigkeiten aufhalten? Ich war bald afrikamüde, wie ich europamüde gewesen war, beschloß daher nach Amerika zu reisen, vorher aber einen Abstecher nach Deutschland und England zu machen, wohin mich verschiedne Gründe zuvor riefen.

Erstens hatte ich das Interessante und den Spleen etwas verlernt, und wollte daher wieder in Berlin und in London meinen Kursus machen. In Afrika sind die Leute gar nicht interessant, der Koran begünstigt diese Richtung nicht, eine arabische Schnauze ist wie die andre, und was den Spleen betrifft, so vertreibt den der Vizekönig von Ägypten durch die Bastonade; es gibt kein efficaceres Mittel gegen Schwermut, als sie. Einmal hatte ich mich mit ihm etwas brouilliert, wie das unter Freunden wohl kommen kann; da dachte ich an die möglichen Folgen für die Fußsohlen, und von dem Gedanken schon war aller Spleen weg, selbst bis auf die Erinnerung. Es kam zum Glück nicht zu jenen Folgen, wir versöhnten uns und aßen noch denselben Mittag Sauerkraut mit Schweineohren zusammen, denn er ist ein aufgeklärter Türke, und will nächstens in einer Schrift beweisen, daß Mahomet ein Produkt der Gläubigen sei. Wo blieb ich stehen? Ja so; bei dem Spleen. Nun, das Interesse hatte ich aus Mangel an Anschauungen in meiner Umgebung ebenfalls wieder eingebüßt. Ich mußte also schon deshalb nach Deutschland und England.

Diesmal war ich genötigt, in Berlin für den Unterricht im Interessanten eine Bonne zu nehmen, die Mère Oye, der es im Rückblick auf Personen und Zustände nicht gegangen war, wie Lots Weibe bei einer ähnlichen Gelegenheit. Denn, anstatt zur Salzsäule zu erstarren, war sie nur immer gesprächiger und merkurialischer geworden. Viele Leute wollten der guten Mère und Commère etwas am Zeuge flicken; sie sagten, all ihr Geistreicheln und Interessantisieren sei doch purer Waschschaum, aber ich muß die Mère Oye verteidigen. Auf hohe Ziele hat sie es überhaupt nicht abgesehen; sie gedenkt nur ihrer Ahnmütter, die urlängst durch Schnattern das Kapitol retteten. Und da übt sie nun mittlerweile ihr Organ, um bei Stimme zu sein, wenn dermaleinst das Kapitol des plattierten Liberalismus in Deutschland gefährdet werden sollte.«

»Warum gingen Sie aber nicht zu Ihrem alten Lehrer?« fragte der Baron.

»Der saß in Paris dazumal und las altfranzösische Manuskripte. Ich reiste von Algier über Toulon und jene Hauptstadt, und traf ihn auf der Bibliothek. Da sah ich nun ein wahres Wunder jetziger Bücherschnellfabrikation oder Schnellbücherfabrikation. Denn es ist gewiß; Sie mögen mir es glauben, oder nicht, mit der linken Hand schlug er die Blätter des pergamentenen Folianten um, der vor ihm lag, und mit der rechten schrieb er gleichzeitig ein Buch darüber oder daraus, so daß, wenn er links in Folio fertig gelesen hatte, ihm rechts ein Oktavband abgegangen war. Dazwischen diktierte er noch ein spirituelles Billett an eine Komödiantin, und unterhielt sich mit einem Arrondissementscommissair gründlich über das Pariser Grisettenwesen. Er blieb folglich nur drei Stadien hinter Cäsars Vielseitigkeit zurück.

 

Was aber der zweite Grund meines Abstechers nach Deutschland war, ich wollte mir dort wieder einen guten Bedienten mieten. Meinen bisherigen hatte ich abschaffen müssen; er wollte auch interessant sein, und hielt deshalb beständig Maulaffen feil. Als Interessanter von Distinktion glaubte ich Einspruch tun zu dürfen, aber da die Gewerbefreiheit überall herrschte, so war in der Sache nichts zu machen; jeder Lump durfte interessant sein.

Nur aus Deutschland wollte ich mir den Ersatzbedienten holen, denn jedes Land hat seine eigentümlichen Produkte, die man nirgends anders so gut bekommt. Spanien hat seine Weine, Italien den Gesang, England die Konstitution, Rußland den festesten Juchten, Frankreich die Revolution, und in Deutschland geraten die Bedienten am besten.«