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Münchhausen

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Bald genug aber sehnte ich mich auf den Helikon zurück. Denn die Herrschaft von Altniederland ist die härteste, die es gibt. Ich wurde behandelt wie eine Kolonie, für mein Futter mußte ich selbst sorgen, auf der sklawonischen Schebecke bekam ich, Gott verdamme mich, nichts zu genießen als den Duft von Hyazinthenzwiebeln, die Mynheer van Streef gekauft hatte, und welche neben meinem Verschlage lagen. Dazu die Einseitigkeit einer Reise nach dem Bleistiftstrich! Denn nach diesem machte mein Herr auch seine Rückfahrt. Die meisten Merkwürdigkeiten der Örter lernt man oft nur zur Hälfte kennen. So z. B. habe ich in Frankfurt das Inkompetenzgebäude nicht zu sehen bekommen, weil unser Strich durch die Judengasse ging.

Nun, diese Unannehmlichkeiten hatten zuletzt auch ein Ende. Wir trafen in Amsterdam und eine Stunde später auf dem Landhause Welgelegen ein. Bei dem Anblicke des Kanals, der ebenen Wiese, der zwölf Windmühlen, endlich bei dem Anblicke seines stillen Hauses mit den herabgelassenen Fenstervorhängen, mit dem buntgepflasterten Hofe, mit der Voliere aus vergoldetem Draht und mit dem grünen, eingezäunten Flecke, auf welchem Gold- und Silberfasanen nebst anderem Getier spazierengingen, vergoß Mynheer van Streef zwei runde Tränen und sagte zu Sebulon: »O Welgelegen!« weiter aber nichts. Sebulon schluchzte, beugte sich vor dem Tore zur Erde, gleichsam um sie zu küssen und versetzte: »Welgelegen ist Welgelegen, Mynheer van Streef.« In der Pforte standen sechs nordholländische Mägde mit goldenen Blechen in den Haaren, alle weiß und rund und sauber gekleidet, daß sie glänzten. Sie machten einen Knicks, küßten ihrem Herrn die Hand und sagten: »Viel Glück und Heil zur Rückkunft, Mynheer.« Ihren Kreis trennte ein kleiner Mann, roten Antlitzes, aber ganz weiß und ehrwürdig eingepudert, schüttelte dem Heimkehrenden die Hand und sprach: »Ich habe davon erfahren, daß Ihr heute kommen würdet, da wollte ich gleich zusehen, ob die Kur angeschlagen habe.« — »Doktor, ich schwärmte auf dem Helikon, danach wurde mir besser, und ich bin völlig hergestellt«, versetzte der Patient. Der Doktor hatte ihn inzwischen prüfend beschaut und erwiderte kaltblütig: »Nein, Mynheer van Streef, Ihr seid noch ebenso krank, als da Ihr abreistet, Ihr müßt deshalb von neuem auf Reisen gehen, sonst sterbt Ihr dann und dann.« Er nannte den Todestag.

Hier aber sah und hörte ich, wenn ich früher holländische Schwärmerei kennengelernt hatte, was holländische Wut heißen wolle. Denn das Gesicht von Mynheer van Streef wurde graubraun, die Stirnadern schwollen an, daß sie Baumwurzeln glichen, und er goß über den Doktor eine solche Flut von Scheltreden aus, daß ich über den Reichtum der Landessprache in derartigen Wendungen erstaunen mußte. Der Doktor seinerseits fühlte auch in sich eine niederländische Begeisterung erwachen und schimpfte den Patienten aus, Sebulon schimpfte auf den Doktor, die erste Nordholländerin schimpfte auf Sebulon, daß er sich in den Streit der Herren mische, die zweite auf die erste, daß sie auf Sebulon schimpfe, die dritte auf die zweite, daß sie auf die erste schimpfe, die vierte auf die dritte, daß sie auf die zweite schimpfe, die fünfte auf Sebulon, die erste, zweite, dritte und vierte insgesamt, die sechste schimpfte auf niemand insbesondere, sondern im allgemeinen. Es erinnerte mich dieses verwickelte Schimpfgemälde durchaus an den gegenwärtigen Zustand der deutschen Tagesliteratur.

Auf so laute und stürmische Weise ging der Empfang des schwärmerischen Holländers in der Hofespforte seines stillen Landhauses vor sich. Die Goldfasanen, die Silberfasanen und einige indianische Raben der Voliere schrieen in das allgemeine Geschrei auch hinein, und Gott weiß, ob nicht noch Tätlichkeiten das Fest gekrönt haben würden, wenn nicht plötzlich in der Entfernung das reitende Jägerchen, und hinter ihm am Seile vom Pferde gezogen, das braune Nationalfahrzeug sichtbar geworden wäre. Bei diesem Anblicke ebneten sich die zornigen Wellen, aller Antlitz begann friedlich und freundlich zu leuchten, und wie aus einem Munde riefen Doktor, Patient, Sebulon und sechs Nordholländerinnen: »Die fünfte Schuite!« — »Kommt aber heute zwei Minuten zu spät«, setzte Mynheer van Streef hinzu, indem er auf seine Uhr sah. — Er ging freundlich in sein Landhaus; der Doktor bestieg besänftiget die Schuite nach Amsterdam.

So schlichtete der Anblick der fünften Schuite von Harlem diese niederländischen Wirren. Ich war, als gehöre ich zur Familie, meinem Herrn bis auf den Hausflur gefolgt, aber eine Magd trieb mich ziemlich unsanft von den Stiegen und fing sogleich an, heftig nachzuscheuern, wo ich gestanden hatte, obgleich ich mir selbst das Zeugnis geben muß, daß ich mich sehr anständig auf dem Flure von Welgelegen benommen habe. Sebulon sperrte mich auf einem der grünen Plätze zu den Gold- und Silberfasanen ein, d.h. ich kam nicht zu diesem Gefieder unmittelbar, sondern erhielt einen eigenen kleinen Abschlag, wie denn auch jeder Goldfasan und jeder Silberfasan seinen besonders abgesteckten und eingefriedigten Platz hatte, vermutlich, weil Mynheer van Streef selbst bei den Tieren holländische Neigungen voraussetzte. Ich fand ziemlich gute Weide, wenn auch nicht so aromatische Kräuter, wie am Helikon, fraß mich endlich einmal in Muße wieder satt und verschlief den meisten Teil der folgenden Tage aus übergroßer Ermüdung von dem langen Reisewege. Erst etwa eine Woche später bekam ich sonach die Fähigkeit wieder, aufzumerken, über meine Umgebung und mich nachzudenken.

Als dieser Zeitpunkt eingetreten war, habe ich die Lebensweise eines holländischen Rentenierers, der sich vom Geschäft zurückgezogen hat, gründlich kennenlernen. Denn mein Weide- und Wohnplatz lag hart unter den Fenstern des Lusthäuschens, welches durch den Hof von dem Haupthause getrennt, dem Herrn des Landhauses zu seinem täglichen Vergnügungsorte diente, es mochte Sonnenschein oder Nebel, Sturm oder Regen sein. Sebulon hatte mir einen Felsen von Klinkern etwa vier Fuß hoch aufgebaut, welcher Klein-Helikon genannt wurde. Auf diesen kletterte ich häufig und konnte von ihm aus alles sehen, was in dem Lusthäuschen vorging, das meiste auch hören, was darin gesprochen wurde, da die Fenster, wenn das Wetter nicht gar zu schlecht war, nach der Menagerieseite zu, offen zu stehen pflegten. Nach der Kanalseite aber waren sie stets geschlossen und auch verhängt bis auf eine kleine, zur Beobachtung der Treckschuiten notwendige Öffnung.

Des Morgens um acht Uhr kam Mynheer van Streef regelmäßig in sein Lusthaus gegangen. Er trug dann seinen Frühanzug von zeisiggrünem Kamelott und eine rote Mappe unter dem Arme. Mit der Pfeife und dem Teegeräte folgte ihm die erste Magd, denn zu Hause ließ er sich nur von den Frauenzimmern bedienen, Sebulon war nur auf der Reise zum Diener erhöht worden, in dem Landhause Welgelegen hatte er seine Stellung als Haus- oder Gartenknecht wieder eingenommen. Mynheer van Streef trank nun seinen Tee, nicht rasch, wie auf dem Helikon, sondern wirklich, wie Sebulon gesagt hatte, die Tasse in einer Viertelstunde, wozu er langsam den Rauch aus der angezündeten Pfeife blies und in geregelten Zeitabschnitten wechselsweise mit starrem Blicke nach dem Kanal und nach uns, seiner Menagerie, aussah. Sonst nahm er während dieser Zeit nichts vor, denn er war der Meinung, daß jedes Geschäft für sich betrieben werden müsse. Nach dem Frühstücksgeschäfte schickte er sich zu dem zweiten an, nämlich den Text seiner Kansbilletts, die er in der roten Mappe verwahrte, Stück vor Stück, obgleich derartige Schriftwerke bekanntlich gleich lauten, nachzulesen. An den Zinstagen gesellte sich dazu die Arbeit, die Coupons abzuschneiden. Diese Mühen pflegten die zwölfte Tagesstunde heranzubringen. Dann erschien ein Diener aus dem Landhause Schoone Zicht und einer aus der Vrouw Elizabeth, brachte einen höflichen Gruß von Mynheer de Jonghe und Mynheer van Toll und die Anfrage ihrer Herrn: Wie Mynheer van Streef geschlafen habe und sich befinde? Mynheer van Streef antwortete nach langer Überlegung jeden Tag dasselbe; daß die Nacht ziemlich ruhig gewesen sei, und das Befinden, Gott sei Dank, sich leidlich verhalte. Wenn diese Boten abgefertigt waren, wurde Sebulon geklingelt und nach der Schoonen Zieht und der Vrouw Elizabeth entsendet mit höflichem Gruße von Mynheer van Streef an Mynheer de Jonghe und Mynheer van Toll und seinerseitiger Anfrage, wie diese beiden Herren geschlafen hätten und sich befänden?

Nach vorgedachten Anstrengungen wurde zur Herstellung der erschöpften Lebenskraft wieder Tee getrunken, geraucht und die Meldung des zurückkehrenden Sebulon entgegengenommen. Darauf ging Mynheer van Streef in das Haupthaus, kam angekleidet zurück in den Hof, stellte sich vor die Voliere und demnächst vor jeden Abschlag der Menagerie, sah die Einwohnerschaft der Voliere und dann jedes von uns eine geraume Zeit lang bedächtig an, schüttelte auf jeder dieser Stationen das Haupt und sagte, so oft er schüttelte: »Unvernünftige Tiere!« — Dieses tat er jeden Tag, auch wenn es regnete, Sebulon hielt ihm dann nur während dieser geringschätzigen Betrachtungen den Regenschirm über.

Waren die Allokutionen an die Voliere und Menagerie geendiget, so ging er wieder in das Haupthaus und speiste, es mochte dann etwa vier Uhr nachmittags sein, zu Mittag; hielt darauf seine Mittagsruhe und kehrte, abermals eine Mappe unter dem Arme, jetzt aber eine grüne, sechs Uhr abends in das Lusthaus zurück. Er trank nunmehr seinen dritten Tee, rauchte, wie sich von selbst versteht, abermals dazu und las dann Amsterdamer Stadtobligationen, die er in der grünen Mappe verwahrte. Darüber pflegte es dunkel zu werden; Mynheer van Streef klappte gähnend die Mappe zu, sah noch einmal nach dem Kanal, verließ hierauf das Lusthaus und zog sich in das Haupthaus zurück. Sobald es völlig dunkel war, schloß Sebulon die Pforte; die Lichter, welche in den Fenstern des Hauses eine kurze Zeit lang leuchteten, erloschen allgemach — ein Zeichen, daß Herr und Dienerschaft in ihren Betten von den Anstrengungen des Tages ausruhten. Das tiefste Schweigen und die lautloseste Stille senkten sich auf Welgelegen herab.

 

Ich habe unter den Beschäftigungen des Tages anzumerken vergessen, daß Mynheer van Streef auch den Ankunftsaugenblick jeder der sechs Schuiten, welche täglich von Harlem nach Amsterdam vorüberfuhren, auf einer schwarzen Tafel, welche im Lusthäuschen hing, zu notieren pflegte, und aus den Unterschieden wöchentlich eine mittlere Zeit herausrechnete. Ich hörte ihn zuweilen sagen, es sei sein größter Kummer, daß diese Mittelzeiten nie stimmen wollten, auch wenn er sie auf Monate, ja selbst Jahre schlüge, und daß daher die rechte mittlere Ankunftszeit einer Treckschuite noch immer ein unlösbares Rätsel wäre.

So ging ein Tag wie der andere hin.

»O Herr!« seufzte ich bei diesem niederländischen Leben in Freude und Rast oft (denn ich bediente mich bei meinen Ausrufungen nun nicht mehr der Mythologie) »was für eine Langeweile! Steht denn mein Herr nur eine Stufe über dem Faultier und nicht tief unter dem Elefanten, dem stolzempfindlichen Rosse, dem rührigen Hunde, obschon er Kansbilletts und Amsterdamer Stadtobligationen liest? Und doch dünkt er sich was Rechtes, glaubt eine unsterbliche Seele zu besitzen, und doch behandelt der schwärmerische Barbar uns Tiere mit Verachtung!« — Es war natürlich, daß sich auf solchem Wege kein Verhältnis der Zuneigung zwischen mir und ihm entfalten konnte; dieser Holländer war nicht geeignet, Liebe zu erwecken. Ich drehte ihm daher auch immer den Rücken zu, wenn er vor meinen Verschlag trat. Um der Last der schrecklichen Langeweile von Welgelegen mich zu entziehen, suchte ich mit meinen Nachbarn in der Menagerie Umgang anzuknüpfen. Ich hatte recht leidliche Leute zu Nachbarn, links einen Goldfasan und rechts einen Silberfasan, hinter mir ein paar Schildkröten in einem großen Sandkasten und einen jungen Biber, dessen Schwanz im Wasser hing. Es wäre mir interessant gewesen, mit Vögeln, Amphibien und amphibienartigen Geschöpfen auch einmal meine Ideen auszutauschen, aber dazu wollte sich hier keine Gelegenheit finden. Diese Partikuliers waren von dem geistigen Drucke, der über Welgelegen lastete, so gebeugt, daß alle meine Versuche, ihnen näherzutreten, mein herzliches Meckern und so mancher treugemeinte Bockssprung keinen Anklang fanden. Die Fasanen lagen meistens, den Kopf unter die Flügel gesteckt, dumpf hinbrütend da, die Schildkröten zogen sich, sobald sie sich an ihrem Kohle satt geknabbert hatten, unter ihr Schild zurück, der Biber hatte für nichts Sinn als für das kalte Wasser um seinen Schweif.

Meine Pein zu schärfen diente die berufene holländische Reinlichkeit. Es wurde nämlich auf uns Tiere eine besondere Kehrmagd gehalten, welche bei ihrem Mitgesinde Dreck-Griete hieß, weil ihr anbefohlen war, die äußerste Sauberkeit unserer Wohnstätten in Obacht zu nehmen. Sie brachte den Tag über in einer Art von Portierhäuschen am Eingange des Haupthauses zu und lugte beständig auf die Menagerie hinaus. Ließ nun ein Fasan eine Feder fallen, oder fiel sonst etwas vor, was nicht zu vermeiden stand — lieber Gott, man bleibt denn doch Tier! — alsobald schoß diese ihrem Berufe fanatisch ergebene Reinigungsperson, bewaffnet mit einem langen Borstbesen hervor, riß den betreffenden Verschlag auf und säuberte vermöge des Besens die Stelle. Meine Kollegen waren zu sehr Vieh, um sich hieraus etwas zu machen, aber in mir hatte der Mensch teil an dergleichen Verkommenheiten, in mir schämte sich der Mensch vor einer solchen Überwachung seiner eigensten und innersten Angelegenheiten. Ich war oft in der größten Verlegenheit zwischen Müssen und nicht Mögen, zwischen natürlichen Wünschen und der Furcht vor der auflauernden und schon zum konventionellen Borstbesen greifenden Dreck-Griete!

Die Langeweile — die Isolierung — die ewig drohende Kehrmagd — meine Lage wurde von Tage zu Tage fürchterlicher! Münchhausen war damals unglücklich, ganz unglücklich! Das Schicksal hatte mich zu hart angefaßt, ich war ein Opfer kalter Schwärmerei geworden; das ist das Schrecklichste, was es zwischen Himmel und Erde gibt.

Eine tragische Verzweiflung bemächtigte sich meiner. Ich sann auf Selbstmord. Ich wollte die Natur zwingen; wie andere sich der Speise enthalten, wollte ich dem Borstbesen der Reinigungsperson sein Opfer unterschlagen — lange — für immer! — — Denn ich fühlte, daß, mit Heldenmut den Entschluß durchgeführt, der Organismus untergehen müsse. Diese Weise, zu enden, dünkte mich die erhabenste, reinste, sie kam mir neu und unnachahmlich vor.

Ich hielt mich still für mich. Zwei Tage lang rastete das Türschloß meines Verschlages. Die Reinigungsperson umschlich mich unheimlich spähend. Ich dachte: »Schleich du; ich sterbe!«

Am dritten Tage ließ Mynheer van Streef die Späherin rufen und fragte sie, was mir fehle? ich stehe ja so verdrossen und ohrhängerig da? Griete berichtete dem Herrn, was sie wußte. — »So muß man abwarten, ob es sich bis morgen mit ihm bessert«, sprach mein fühlloser Gebieter, »und wenn das nicht geschieht, so gebt ihm« — — Er verordnete das schnelle und unwiderstehliche Mittel, gegen welches in solchen Fällen selbst der Heldenmut eines Cato sich fruchtlos stemmen würde.

»Nein, es ist zu viel!« meckerte ich ingrimmig und traurig zugleich; indem ich am Felsen Klein-Helikon niedersank und meine heiße Stirn wider diese Klinker stieß. »Nicht leben können, und nicht sterben dürfen!« — Ich sah schon im Geiste den Augenblick, der meinen Entschluß gewaltsam brechen würde, und das furchtbare Instrument in Grietens Hand, ich sah mich schon wieder schamrot, entwürdigt, in die alten Konflikte zurückgeworfen, denen meine freie Seele sich entronnen wähnte.

Ach, der nämliche Tag sollte mich noch etwas ganz anderes sehen lassen! Wie schwach steht es um die sogenannten großen Vorsätze! Bittere und demütigende Erfahrung, die ich an mir selber machte!

Mynheer van Streef empfing an diesem Tage einen Besuch von seinen Nachbarn de Jonghe und van Toll. Die Besitzer der drei Landhäuser Welgelegen, Schoone Zicht und Vrouw Elizabeth pflegten einander nur einmal im Jahre gegenseitig zu besuchen. Die Tage waren ein für allemal festgestellt, und sonst sahen einander die drei Holländer nicht, obgleich die Landhäuser kaum fünfhundert Schritte voneinander entfernt waren. Wenn sie zusammenkamen, so zeigte der Wirt seinen Gästen den Zuwachs vom letzten Jahre in dem, woran seine Seele hing. Mynheer van Toll hielt auf ein reiches Porzellankabinett, Mynheer de Jonghe auf eine Sammlung von Naturalien und Mynheer van Streef auf seine Menagerie am meisten.

Nachdem die drei Freunde im Lusthäuschen Tee getrunken hatten, führte mein Gebieter seinen Besuch zu unsern Verschlägen und fragte de Jonghe, der, wie wir wissen, in Ostindien gewesen war, ob er eine Tiersorte, wie die meinige, auf Java kennengelernt habe. Schon bei dem ersten flüchtigen Überblicke, den mir der Naturaliensammler widmete, fingen seine Augen an zu glänzen, und seine farblosen Wangen wurden von einer leichten Röte überflogen. Ich mußte mich erheben, Mynheer de Jonghe betrachtete mich von allen Seiten, hob meine Pfoten, die noch nicht ganz vergessen hatten, Menschenarme zu bedeuten, auf, untersuchte mein Vlies, guckte mir in den Rachen, befühlte meinen Schädel.

Mynheer van Streef sah dieser Analyse mit dem ruhigen Stolze eines glücklichen Besitzers zu. Nach vielfältigem Anschauen und Tasten war Mynheer de Jonghe zu dem Bekenntnisse gedrungen: »Nein, diese Tiersorte kommt nicht auf Java vor. Ich glaubte anfangs, es sei der kleine gefleckte Hirsch, Moose-deer, welchen man auf Ceylon findet, aber der Bau des Schädels widerspricht dieser Annahme. Der Schädel hat etwas vom Affen, der ganze übrige Leib gehört in das Ziegengeschlecht. Es hilft keine Menschenmacht dawider, wir müssen eine neue Spezies ernennen. Dieses Geschöpf, woran Ihr, Mynheer van Streef, eine gar große Seltenheit besitzt, muß der Bockaffe, capra simiae proxima, heißen.«

»Ich fand ihn«, versetzte Mynheer van Streef, »auf einem griechischen Platze, in einer unvergeßlichen Stunde. Sebulon, sage zur Gertruid, daß wir heute von dem Wasser, welches du in den Kantinen mitbrachtest, den dritten Tee trinken wollen, wofern es sich frisch gehalten hat. Ich möchte sehen, wie es auf Mynheer van Toll und Mynheer de Jonghe wirkt.«

Er ging mit dem ersteren zu seinen Hyazinthen, welche die zweite Stelle in seinem Herzen einnahmen. Mynheer de Jonghe bat um die Erlaubnis, bei dem Bockaffen zurückbleiben zu dürfen. Als er sich mir gegenüber allein sah, sagte er: »Daß Mynheer van Streef dich, du einziges Exemplar, mir abläßt, ist nicht zu denken, die Dienerschaft wird nicht zu bestechen sein, folglich muß ich dich stehlen lassen.«

Nach diesen unzweideutigen Worten kehrte mein Gebieter mit seinem zweiten Freunde von den Hyazinthen zurück. — »Wie ich Euch sagte, Mynheer van Streef«, sprach Mynheer van Toll, »es hält sich auf Vrouw Elizabeth seit einigen Tagen ein fremder Maler und Chemikus auf, der eine besondere Mischung der Farben entdeckt hat, wodurch auch auf dem Porzellan das vollkommene Helldunkel von Rembrandt sich erzielen läßt. Ich wollte durch ihn eine große Vase in dieser Manier malen lassen, und alle Anstalten des Glühens und Einbrennens sind auch schon gemacht, nur war ich über den Gegenstand noch verlegen, weil ich einen ganz neuen für die neue Manier zu haben wünschte. Gar gerne möchte ich nun den sogenannten Bockaffen in Helldunkel auf meiner Vase sehen, weil den gewiß noch niemand hat, und ich bitte Euch daher, daß Ihr mir die nachbarliche Gefälligkeit erzeigen wollet, meinem Chemikus diese Nacht den Zugang zur Menagerie zu verstatten. Er soll an dem Tiere bei Laternenlicht seine Studien machen und in dieser Beleuchtung eine Farbenskizze von ihm entwerfen.«

»Nein, Mynheer van Toll, das geht nicht an«, versetzte der Hausherr. »Die nächtliche Ruhe von Welgelegen darf unter keiner Bedingung gestört werden. Ihr könnet bei Tage dieses fremde Tier durch Euren Chemikus in Helldunkel abzeichnen lassen.« — Gertruid ging mit dem Teegeräte nach dem Lusthäuschen. — »Kommt hinein«, fuhr Mynheer van Streef fort, »ich will Euch, meine Freunde und Nachbarn eine neue Sorte Tee zu kosten geben.«

»Wieder also sollst du gestohlen werden!« dachte ich für mich. »Bist du denn so kostbar?« — Inzwischen war es im Lusthäuschen sehr lustig geworden, freilich nur auf niederländische Weise. Offenbar hatte das Wasser der Hippokrene durch die Reise seine Kraft nicht verloren. Die drei Freunde waren nach der ersten Tasse vom Teetische aufgestanden und gingen, phantastisch erregt, ohne sich umeinander zu bekümmern, im Stübchen auf und nieder. De Jonghe versuchte, während er ging, einen Pas aus der »Menuet à la Reine« zu bewerkstelligen, van Toll sang in einem sonderbaren Falsett das Nationallied, van Streef zog den Vorhang des Kanalfensters auf, öffnete letzteres selbst und vergaß, die eben vorbeifahrende sechste Schuite am schwarzen Brette zu notieren.

Statt eines drei holländische Schwärmer! Wunderbares Wasser! Selbst eine Stunde von Amsterdam wirktest du Zeichen, obschon zu Tee verkocht! — Bald sollte die Schwärmerei wieder mich in ihre Kreise reißen, mich, den schicksalbezeichneten Helden der abenteuerlichsten Bildungsgeschichte, welche jemals die Erde sah. Van Toll trat an das Menageriefenster des Lusthäuschens und flüsterte hinunter: »Nach Mitternacht schicke ich den Chemikus mit einem Nachschlüssel her, dich abzureißen. Du sollst, und du sollst mir auf die Vase in Rembrandtschem Helldunkel.« — Er trat zurück, de Jonghe näherte sich hierauf dem Fenster und rief, mit einem sehnsüchtigen Blicke auf mich, halblaut hinaus: »Stehlen laß‘ ich dich noch vor Mitternacht und dann auf der Stelle ausstopfen!«

»Ausstopfen!? — — Nein, nein, das geht in das Ungeheure! Du sublime au ridicule — —« Meine Sinne schwanden.

Als ich wieder zu mir selbst kam, stand Mynheer van Streef allein vor meinem Verschlage und Sebulon neben ihm. — »Sebulon«, sagte mein Gebieter, »der Besuch ist nun fort, und da kann also etwas geschehen, was sich vor Fremden nicht ziemt. Ich bin durch das Teetrinken wieder in die helikonische Stimmung gekommen. Ich möchte der ganzen Welt helfen und rasch! Sage der Griete, sie könne auf der Stelle mit dem fremden Tiere hier verrichten, was nach meinem früheren Befehle erst morgen vorgenommen werden sollte.«

»Wird wohl nicht mehr nötig tun«, versetzte Sebulon trocken. »Es scheint wieder munter zu sein, seht nur, Mynheer, welche lustige Sprünge es macht.«

Ach nein, es war nicht mehr nötig! — Die gräßliche Perspektive, ausgestopft zu werden, hatte mit einem Schlage alle selbstmörderischen Gedanken in mir vernichtet, mich dem Leben in jeder Beziehung wiedergegeben und die gewaltigste Lebenslust in mir angefacht. Ich sprang wie unsinnig im Verschlage umher, das nannte jener holländische Hausknecht Lustigkeit, ich stieß entsetzliche Töne aus, mich verständlich zu machen, meinem Gebieter den Verlust seines Teuersten anzukündigen, darüber lachten die Blinden!

 

Sie gingen, es wurde dunkel, Sebulon schloß die Pforte. »Unglücklicher, lege auf die Mauer, über welche Mynheer de Jonghe seine Mordknechte steigen lassen wird, Selbstschüsse und Fußangeln! Durch die Pforte kommt höchstens der unschuldige Chemikus, Euren armen kleinen Bockaffen im Helldunkel seiner harmlosen Laterne abzureißen!« schluchzte ich. »Wie wird er sich betrüben, der Getäuschte, wenn er statt seines Studienobjektes nur die leere Stätte findet! Jammer über dich Welgelegen, wenn du morgen erwachest, und dein Kleinod dir gestohlen siehst! Traure, traure, Vrouw Elizabeth, deine Vase bleibt unbemalt!

Warum kann der Chemikus nicht vor Mitternacht kommen, und die Bande de Jonghes nach Mitternacht? So würde der Chemikus noch bei Laternenlicht zeichnen, wenn die Bande anlangte, sie verscheuchen, und diese Nacht wäre wenigstens gewonnen. Zufall, Zufall, du betrunkener Würfelspieler! Tolles Rätsel des Daseins, grimmiger Wust chaotischer Verwirrung! O mein Vater, mein Vater, wo weilest du? Eile herbei, deinen dir so sauer gewordenen Wurm vor dem Letzten, Schrecklichsten zu erretten! Du bist wißbegierig und reisest viel, mein guter Vater, vielleicht besuchst du einmal auch das Kabinett von Mynheer de Jonghe, und welch ein Augenblick wird es dann sein, wenn du deinen unglücklichen Sohn vielleicht zwischen einer Fischotter und einem sibirischen Eichhorn siehst! — Zwar ich vergesse, wer ich bin, ich rede irre — du wirst mich nicht erkennen!

Ausgestopft zu werden! — Gedanke, der das Hirn sieden macht, und alle Sehnen krachen! Nichts als Balg zu sein und Werg! Aus gläsernen Augen dumm und starr zu schauen, und ewig den Draht in Rücken und Beinen zu fühlen, als einzigen haltenden Grundsatz! Neben sich nur Bälge zu haben, und diese ganze trockene Unsterblichkeit lediglich auf Kampfer und Spieköl gegründet!«

In solchen jämmerlichen Betrachtungen ging mir ein Teil jener merkwürdigsten Nacht meines Lebens hin. Ich fühlte zugleich, daß die äußerste Beängstigung in meinem Körper Folgen hervorbrachte, denn ich konnte, da ich im Verlauf meines Kummers als Mensch mir vor die Stirn schlagen wollte, wunderbar genug, dies mit meinen Vorderbeinen bewerkstelligen, ich konnte an mein Fell fassen, und die Haare fielen ab, so wie ich sie nur berührte, endlich schien in meinem Antlitze ein förmliches Umziehen und Quartierverändern von Maul, Nase und Augen vor sich zu gehen, so rückten und knackten dort die Knochen. Aber auf alles dieses hatte ich weiter nicht acht, ganz verloren in die Furcht vor dem Ausstopfen.

Gegen Mitternacht Geräusch draußen vor der Mauer, Klimmen, Herabwerfen einer Strickleiter! Ein Kerl steigt an ihr nieder, tappt zwischen Biber und Schildkröte vorsichtig hindurch — — Ich sitze (denn ich vermochte auch schon wieder zu sitzen;) stumm da, und raufe mir vollends alles Fell ab; seine rauhe Tatze ergreift mich — hui und davon mit mir über die Mauer! Ich hange schlotternd und an allen Gliedern gebrochen in seinen Armen. — »Was, zum Teufel, habe ich denn da gefaßt? Das ist ja kein —« murrt er, während er einige Schritte längs des Kanals nach dem Landhause Schoone Zicht zu macht. Ehe er zu Ende gesprochen, stürzt ihm ein Mann entgegen, ruft mit einer von der Tugend selbst gebildeten Stimme heftig: »Steh du Dieb, ich sah dich über die Mauer steigen!« und haut auf ihn mit einem Degen ein. Der Dieb — Sünde gibt keinen Mut — läßt mich fallen und läuft davon. Ich falle in den Kanal, jener unbezahlbare Retter springt, immer den Degen in der Faust, mir nach, holt mich heraus, ruft: »Wie, ein nacktes Kind?« und trägt mich, dem von diesen jähen Abwechselungen das Haupt schwindelt, zu einer Laterne hin, die etwa hundert Schritte von der Stelle am Kanale brannte. Bei dem Schimmer dieser Blendlaterne sehe ich meinem Retter in das Antlitz, und — wer faßt‘s, wer glaubt‘s, wer sagt‘s, was ich empfinde? — Es ist — — mein Vater, mein sogenannter Vater!

Was die Furcht und der Jammer nicht gekonnt, die Freude vollbringt es. Ich finde die Sprache wieder, und, zwar noch immer etwas meckernd, aber doch verständlich, ist: »Vater! Vater! Dein Kind!« mein erstes Wort. Mit heißen Tränen stürze ich an seine Brust, er erkennt mich, wie ich ihn erkannt, und — doch schweige, Lippe! falle, Vorhang über diese unbeschreibliche Szene!

Stumm vor Rührung steckt er mich ohne weiteres wieder in seine linke Rocktasche. Darin finde ich ihn ganz. Alle lieben Erinnerungen gehen mir in jener Tasche auf; es ist noch ein Rest Frühstück darin; ich versuche, es zu essen. Es gelingt; ich kann wieder Brot und Wurst essen! Ich bin ein Mensch wieder, das gebildete Kind gebildeter Eltern! Aber wie ging das zu? Mein Vater trägt mich in das Lusthaus Vrouw Elizabeth. Er ist‘s ja, er ist der gute Chemikus, der sich dort aufgehalten, der mit dem Nachschlüssel zu mir kommen, mich nach Mitternacht bei Laternenlicht abreißen wollte, aber von einer unerklärlichen Unruhe getrieben, (sein Vaterherz war‘s, das so stürmisch geklopft hatte!) vor Mitternacht sich aufmachte, einen Degen zu sich steckte, weil das Abenteuer immer einige Gefahr hatte, und so am Kanal Zeuge des Diebstahls wurde.

Wie ich diese ersten Erklärungen der wunderbaren Geschichte empfangen, ich weiß es nicht mehr zu sagen. Mein Vater stammelte nach der Tasche hinunter, worin ich saß, ich stammelte hinauf, wir begriffen uns durch Naturlaute. — »Aber warum machtest du nicht Lärmen, mein Vater, als du den Dieb über die Mauer steigen sahst?« fragte ich in einem ruhigen Augenblicke. — »O Sohn«, versetzte er, »um einen Menschen zu retten, haben sich wohl schon größere Unwahrscheinlichkeiten begeben müssen, als daß man einen Dieb erst einsteigen und dann wieder herauskommen läßt. — Du konntest nur gerettet werden, wenn diese Unwahrscheinlichkeit vorfiel, denn machte ich früher Lärmen, so erwachte das Landhaus Welgelegen, die Pforte wurde besetzt, du bliebst mir unsichtbar und in den Händen von Mynheer van Streef.« — Diese Antwort stellte mich vollkommen zufrieden.

Wir waren unter solchen und ähnlichen Gesprächen vor Vrouw Elizabeth angekommen; mein Vater zog die Klingel und weckte dadurch den Portier, der ihm sein Zimmer auftat. In der Helligkeit, welche durch Wachskerzen und Alabasterlampen hervorgebracht wurde, umarmten wir uns nun erst bei voller Muße. »Vater, wie sehe ich aus?« war meine erste Frage.

»Abscheulich, mein Sohn«, versetzte er. »Deine Züge sind in einer wunderbaren Unordnung, es ist, als wären Nase, Mund und Augen bei dir berauscht gewesen und erwachten nun in Winkeln, wohin sie nicht gehören. Die Ohren müssen wir vor allen Dingen stutzen, sie haben sich etwas zu üppig gen Himmel erhoben, an den Extremitäten sind dir überflüssige Haarbüschel gewachsen, auch deine Sprache schmettert sonderbar; warst du etwa bei einem Trompeter in der Lehre? Du kommst mir vor wie eine durcheinandergeworfene Bibliothek oder Garderobe, die einzelnen Bestandteile deiner Totalität sind richtig vorhanden, aber es fehlt die Harmonie.«