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SPRING! Verdrängte Gefühle Teil 1

1  Titel Seite

2  Widmung

3  DANKSAGUNG

4  Prolog

5  Kapitel 1

6  Kapitel 2

7  Kapitel 3

8  Kapitel 4

9  Kapitel 5

10  Kapitel 6

11  Kapitel 7

12  Kapitel 8

13  Kapitel 9

14  Kapitel 10

15  Kapitel 11

16  Kapitel 12

17  Kapitel 13

18  Kapitel 14

19  Kapitel 15

20  Kapitel 16

21  Kapitel 17

22  Kapitel 18

23  Weitere Bücher

24  Impressum

SPRING
Verdrängte Gefühle

Teil 1

Karina Förster

Widmung

Liebe ist der Entschluss, das Ganze eines Menschen zu bejahen, die Einzelheiten mögen sein, wie sie wollen.

Otto Flake

DANKSAGUNG

Danke an alle, die an mich glauben und mir tagtäglich Hoffnung und Kraft geben.

Es sind wenige, weil viele gingen, die es (mich) nicht wahr haben und akzeptieren wollten.

Qualität siegt immer über Quantität.

Prolog

2004 – am Ostseestrand

» моя красавица - Maja K raßáwitza (Meine Schöne), was hast du da in der Hand?«

»Ein Auge, бабуля - babulya (Omi). Sieh!«

Ich reiche ihr einen bildschönen Bernstein, den ich vor dem Sonnenlicht betrachte.

»Elja, er leuchtet!«, staunt meine Großmutter, die ihn nun auch gegen die Sonne hält, um ihn sich zu besehen.

»Da, babulya (Ja, Omi) . Er leuchtet. Es erinnert mich an jemanden. Ich habe ihn im Meer gefunden.«

»Wann?«, will sie wissen.

»Als wir мамочка - Mamotschka (Mutter) zu Grabe brachten«, antworte ich und ignoriere das verwunderte Gesicht meiner Großmutter.

Wir haben meine Mutter vor acht Jahren begraben und verbringen unseren ersten Urlaub an der Ostsee. Hier begann ich Bernsteine zu suchen. Fragend beäugt mich meine Oma und ich erinnere mich an einen kalten Märztag vor acht Jahren.

Meine Familie hatte sich auf dem russisch-orthodoxen Friedhof in Berlin-Tegel versammelt. Großmutter schickte mich kurz aus der Kapelle, deren Deckengewölbe mich an das dunkle Grab erinnerte, in das meine Mutter gelegt werden würde.

Ich hockte an der geöffneten Doppeltür und sah stumpf auf den Boden vor mir, als zwei Füße in meinem Blickfeld auftauchten.

»Bist du traurig?«, wurde ich leise gefragt und blickte hoch. Aus der Kapelle, in die der Mann starrte, drang das Gemurmel des Absolutionsgebetes. Ich sah in sein Auge, in das seitlich das Licht der Sonne einfiel und die braune Iris zum Leuchten brachte. Mein Herz wurde bei diesem Anblick weich.

»Meine Mamotschka«, erklärte ich knapp und er drehte sein Gesicht zu mir.

»Mein Beileid«, sagte er und betrachtete mich.

Nicht seine Worte waren es, die mich in den Himmel hinauf zogen. Es war die Art, wie er mich ansah. Es war die Art, wie sich Stille in mir ausbreitete und mich mehr über den erlittenen Verlust hinwegtröstete, als alle lieben Worte zusammen.

»Kann ich dich heiraten?«, fragte ich absurderweise auf Russisch, als mein Großvater zu uns trat, um mich für die Verabschiedung zu holen.

Der bildschöne Mann vor mir lächelte und ließ mein Herz hoffen, doch hinter ihm erschien eine Frau mit brünetten Haaren, die meine Worte gehört hatte und mich jetzt verspottete: » младенец - mladenetz (Säugling/Baby). Er ist leider schon vergeben!« Sie schlang ihre Arme um ihn und zog ihn fort. »Ich fasse es nicht, da will dich ein halbes Baby heiraten!«

»Sei still, Gina!«, hörte ich ihn sagen. Sie zog ihn weiter fort, küsste seinen Hals und guckte triumphierend zu mir. Mein Herz war erst sieben, aber auf der Stelle gebrochen, als sich ihre Lippen auf seinen Mund legten.

Mein Großvater hob mich hoch.

»Interessiert er dich?«, fragte er und ich bejahte.

»Wenn er die dort küsst, dann kann er mir gestohlen bleiben!«, kommt es mir bitter über meine Lippen und in meinem Herzen regte es sich wild flatternd.

»Elja, was soll er denn machen? Er ist doch noch ein Junge und kann gar nicht heiraten!«

Für mich war er kein Junge, für mich war er ein Mann und noch dazu der Schönste, den ich in meinem Leben gesehen hatte.

»Wenn er es wollen würde …«, beharrte ich starrsinnig und sah finster zu ihm.

»Elja, Elja, dein Maß ist falsch eingestellt. Bring es bitte in die Werkstatt und lass es prüfen!«, tadelte er mich leise und ging mit mir auf dem Arm durch die Doppeltür.

Als sich der schöne Mann unten an der Treppe zu mir umsah, steckte ich voller Verachtung meine Zunge zu ihm heraus, weil er an seiner Hand eine Andere hielt. Er schickte mir einen Luftkuss, doch ich wandte mich von ihm ab.

Am Sarg erzählte ich Mama weinend von meinem Kummer und bat sie, etwas bei sich aufzubewahren. In Kürze würde ihr Sarg zugenagelt werden und ich wusste, dass es bei ihr sicher aufgehoben war. Versteckt und sicher, tief in der Erde, bei einem Menschen, dem ich vertraute. Niemand würde es dort finden können, außer mir, wenn ich wollte.

»Zeig mal her, Elja!«, bittet mein Großvater mich jetzt über das Kreischen der Möwen hinweg. Er besieht sich den Bernstein mit der seltenen Farbe. »Du hast ihn im Meer gefunden?«

Ich nicke und streiche mir Sand von meinen Füßen. Der Himmel ist sommerlich blau und die wenigen Wolken, die dort kleben, lösen sich langsam auf.

»Und es ist ein Auge?«

»Ja.«

»Du steckst ihm die Zunge heraus und kannst ihn dennoch nicht vergessen?«

»Nein. Nur, wenn Gott es will.«

»Elja, Elja! Lass bitte Gott aus dem Spiel!«

Kapitel 1

2010

Mein Körper hängt im hellgrünen Wasser. Regungslos verharre ich und genieße die Stille. Hektisch flattern die Blätter in den Wipfeln der umliegenden Bäume und erinnern mich an die Vielzahl von Menschen in dieser Hauptstadt. Jedes Blatt ein Mensch. Jeder Mensch hektisch.

Mein Rumpf ist straff, damit ich nicht untergehe. Zu Kinderzeiten nannten wir dieses Spiel Leiche .

Die Regeln denkbar einfach. Wer sich am längsten regungslos auf der Wasseroberfläche hielt, hatte gewonnen. Es hat überhaupt nie einer gewonnen. Es gab stets jemanden, der Wasser in Gesichter spritzte.

Im Gegensatz zu damals ist heute niemand hier, der mein Spiel unterbrechen will. Ausgenommen meine Freundin Uta. Aber die frottiert sich am maroden Holzsteg schon. Sie zählt also nicht.

Es ist Mitte Juli. Bestes Badewetter. Die Sonne steht hoch am Mittagshimmel und wird nur von dürftigen kleinen Wolken bedeckt, die träge ihren Weg nach Osten fortsetzen. Gerade so, als müssten sie es tun, damit die Welt in Bewegung bleibt.

Himmlisch still ist es hier und nur selten fahren Boote diesen Seitenarm der Müggelspree entlang.

Kaum jemand hat es hier eilig. Noch nicht einmal die Boote, die hier entlang fahren, um zu ihren Grundstücken zu gelangen. Die liegen malerisch zwischen Hecken und Bäumen versteckt.

Auf der Müggelspree, dem Hauptarm des Flusses, sind um diese Jahreszeit mehr Boote unterwegs, als Autos auf Autobahnstrecken. Im drei Minuten Takt fahren dort en masse Ausflugsdampfer vorbei.

Störend sind dabei die Freizeitraser. Die spielen gerne mal James Bond nach. Ihnen ist es dabei egal, ob es ihre eigenen oder gemieteten Boote sind. Ihr Motto: Tempolimit, was ist das ?

 

Oft habe ich erlebt, wie leichtsinnig und schnell an die Badenden herangefahren wird. Zudem ist der Lärmpegel an der Müggelspree hoch und wenig entspannend.

Hier können Uta und ich gediegen und entspannt baden. Zum Glück haben wir dieses lauschige Plätzchen durch einen Glücksumstand entdeckt. Wir erforschten es und erkoren diese Stelle als unsere neue Badestelle, an der wir seitdem baden.

Auf dem verwilderten Grundstück stehen alte und hohe Eichen. An extrem heißen Tagen spenden sie uns kühlenden Schatten.

Ich liebe diesen abgelegenen Steg. Die Schönheit unseres Badeversteckes liegt im seltsam morbiden Charme des stark verfallenen Hauses, in der Wildnis des Gartens und in der Ruhe, die dieser Ort ausstrahlt. Diese Ruhe und Stille überträgt sich auf mich. In weniger als fünf Minuten bin ich runtergefahren. Dieser Fleck ist idyllisch.

An diesem Ort kann ich mich erholen und für meine Arbeit neue Kräfte sammeln. Ich bin Kindergärtnerin. Ein Beruf, den ich in hohem Maße liebe. Jedoch muss ich mich am Wochenende neu beleben. Das mache ich jetzt und sehe in die vielen Grüntöne über mir.

Grün hilft mir vor allen Dingen dabei, den Akku wieder aufzuladen. Hier besteht jedes Teil aus Grüntönen.

Die Bäume, zu denen ich aufsehe und in denen Vögel ihre Nester gebaut haben, um ihren Nachwuchs zu versorgen.

Das Gras, das sich überhängend seinen Lebensraum bis in das Wasser hinein erobert hat.

Das Wasser, das sich hellgrün in der Sonne, im Schatten dunkelgrün leicht kräuselt.

Hier herrscht ein überbordender Reichtum an Grüntönen. Ein reich gedeckter Tisch der Natur. Entspannung und Erholung im Grünen, sind zwei Stadtteile weiter durch die wenigen Parks schwierig. In den zugigen Häuserschluchten ohne Bäume, ist Ruhe nur begrenzt möglich.

»Ella! Du bekommst Schwimmhäute zwischen den Fingern. Komm endlich raus! Ich würde gern mit dir das Picknick essen. Ich habe Hunger. Los!«

Sie erinnert mich an meine verstorbene Mutter, die auch immer das seltene Talent hatte, mich in so einem schönen Moment aus dem Wasser zu rufen. Ungern will ich jetzt hier weg. Genau in dem Augenblick, in dem ich eins mit der Natur werde und mich tief entspanne.

Der Stress der Arbeitswoche lässt sich hier wie durch ein Wunder fortschwemmen. Um ein Haar hätten mich sogar die drei Enten, die in meiner Nähe schwimmen, in ihre kleine Familie aufgenommen. Sie kamen immer dichter geschwommen und suchten nach Nahrung.

Mit Schwimmhäuten würde ich sicher spielend als Ente durchgehen und nur lernen müssen, wie ich im Gras etwas Essbares finde. Aber ich bin lernfähig.

Uta kann ungemütlich werden, wenn sie Hunger bekommt. Also lasse ich meine Beine absinken und schwimme zurück zum Steg, wo sie schon ungeduldig wartend ihre Beine im Wasser hin und her schiebt. Ihr Gesicht hat sie zu einer Flunsch gezogen.

Am Steg angekommen, schwinge ich mich hinauf und setze mich so, dass die Beine im grünen Wasser baumeln können.

»Fast wäre ich von den Dreien dort adoptiert worden. Und Schwimmhäute wären dann echt passend«, scherze ich und deute zu den drei Enten, die noch immer am Uferbewuchs zupfen.

»Schade nur, dass deine Flügel gestutzt sind«, spöttelt Uta und spitzt ihren Mund. »Die wären nötig, um in deiner neuen Familie überhaupt erst mithalten zu können.«

»Ich würde eben mit gestutzten Flügeln fliegen lernen müssen. Wo ein Wille ist …«

»… Ist auch ein Gebüsch. Ich weiß.«

Sie zieht den Picknickkorb heran und blickt sich darin um. Ihr Gesicht leuchtet auf, als sie in einer Dose Zucchini-Röllchen entdeckt. Die habe ich für sie zubereitet, denn sie liebt die. Schon ist die Dose geöffnet und ihre langen Zähne knabbern an der Rolle. Ihr Blick ist versunken und in den nächsten drei Minuten brauche ich sie nicht anzusprechen. Sie befindet sich geschmacklich im siebten Himmel.

Vor dem Bad habe ich meine überlangen Haare zu einem Zopf geflochten. Damit sie schneller trocknen, löse ich die Flechte jetzt und fahre mit meinen Fingern hindurch.

Das Haargummi halbiere ich und streife es mir über den rechten Mittelfinger, damit es nicht verloren geht. Offen getragen, reichen mir die Haare bis zu den Oberschenkeln und meistens ruhen neidvolle Blicke auf ihnen.

Ich habe den Spitznamen: Die schöne Warwara. Alles, bis auf meine blauen Augen, erinnert an Tatjana Klujewa. Sie spielt in dem sowjetischen Märchenfilm Film die weibliche Hauptrolle.

Kauend beobachtet mich Uta und ich weiß genau, was sie denkt. Sie sagt mir immer, dass ich sie an einen Engel erinnere.

Ich kann das nicht verstehen. Als engelsgleich würde ich mich schon mal gar nicht bezeichnen. Klar, die überlangen Haare sind für eine Menge Menschen der Inbegriff von Vitalität und Weiblichkeit. Mir ist Schönheit überhaupt nicht wichtig. Sie sagt nichts über den Charakter eines Menschen aus. Und den von mir, kenne ich zu gut. Ehrlich, da ist rein gar nichts Engelsgleiches dran.

Aber die Optik ist Geschmackssache. Uta muss sich ja nicht jeden morgen mein Spiegelbild ansehen. Ich habe schon als Kind kleine Makel in meinem Gesicht entdeckt. Die kaschiere ich auch heute noch gerne.

Ich bin etwas schlanker als sie, aber das liegt daran, dass ich jahrelang Tanzsport betrieben habe. Bis in die Pubertätsjahre sogar auf Leistung. Bis dato ist der Tanzsport einer meiner Leidenschaften. Allerdings tanze ich heute aus Liebe und Freude, ohne diese starren Regeln, die mir den Sport vermiest haben. Mein Tanzpartner ist da weniger locker, eher verbissen. Aber es macht Spaß mit ihm zu tanzen.

Manchmal denke ich, dass das verletzungsbedingte Aus ein Glück für mich war. Verhasst am Tanzsport sind mir noch heute die strengen Haarregeln. Stark zurückgekämmt und eingeölt. Alles andere als weiblich. Zudem sind Ponys und überlange Haare ein Unding.

Nachdem ich den Sport unter Leistung aufgegeben hatte, schnitt ich mir als Erstes einen Pony und ließ meine Haare ins Unendliche wachsen.

So wurde ich zu Warwara und irgendwie habe ich mich an den Namen gewöhnt. Es gibt schlimmere Spitznamen.

Zutiefst entspannt vom Bad horche ich den Vögeln zu, wie sie in den Bäumen singen. Uta knabbert genüsslich an ihrer zweiten Zucchini-Rolle und lauscht ebenfalls kurz.

»Ach, was ich dir noch erzählen wollte: Anne ist sich, nur mal so nebenbei gesagt, nicht mehr ganz so sicher, ob David ihr treu war. Er behauptet es zwar, aber ich weiß nicht. Echt mal! Vor ihren Augen! Wie blöd muss man denn da sein?«, beginnt Uta die neuesten Ereignisse von ihrer Bekannten zu erzählen. Sie schüttelt verständnislos ihren Kopf und sucht am Röllchen eine dunkel geröstete Ecke, die sie immer zuerst abknabbert. Erst danach schiebt sie sich das Röllchen ganz in den Mund. Ich finde das immer goldig und muss schmunzeln, wenn ich ihr beim Essen zusehe.

Heute ist der Tag, an dem wir uns über den neuesten Klatsch und Tratsch austauschen können. Hier bekommen keine Kolleginnen lange Ohren. Wir können ungestört und ungeniert plaudern.

Die vergangene Woche war mit Ereignissen gefüllt. In der Hektik des Werktages bleibt uns kaum Zeit für ausgiebige, freundschaftliche Gespräche.

»Deutlicher geht es wohl kaum noch«, merke ich versonnen an und sehe wieder zu den drei Enten.

»Ne, wohl kaum. Jetzt ist sie auf der Suche nach einer Wohnung für sich.«

Ich beobachte fasziniert, wie sich das Wasser um meine Füße kräuselt. Die Wellen brechen sich kaum fühlbar an ihnen. Mit leerem Blick wandern meine Augen über die fast gar nicht gekräuselte Wasseroberfläche.

Auf die Beziehungsprobleme, mit der sich die Bekannte von Uta plagt, kann ich gerne verzichten. Da bin ich über meinen Singlestatus heilfroh.

Im Bezug auf eine Partnerschaft gehe ich keine Kompromisse ein. Schon mein Großvater hat mir den Rat gegeben bei Entscheidungen immer mein Herz zu prüfen. Das tue ich reiflich und Mister Perfekt war mir bislang noch nicht begegnet.

»Ach, hier ist es immer so himmlisch. Horch mal!«, sage ich leise.

Uta schaut in die Bäume empor und schließt ihre Augen. Für wenige Augenblicke ist sie still.

»Wenn ich hierbleiben könnte«, sinniere ich. »Ich würde das Haus sanieren und wir könnten im Sommer hier schwimmen gehen. Dein Auto würde in der Einfahrt stehen und müsste nicht um die Ecke parken.«

»Hmhm. Träume weiter!«, grient meine Freundin. Jedes Mal erzähle ich ihr das. Jedes mal lacht sie mich aus.

Lachend schiebe ich mir eine Weintraube in den Mund und rücke den halb trockenen Bikini im Nacken zurecht. Sie ist meistens skeptisch. Wie so viele Menschen wagt sie nicht, von Höherem zu träumen. Mich hält das jedoch aufrecht.

"Du wirst sehen", sage ich ernst. Uta lacht aus voller Kehle über meine Träume. Sie hat Mühe, sich wieder zu beruhigen.

Mein Bikini zwickt. Schon ewig schiebe ich es vor mir her einen Neuen zu holen. Nie habe ich ernsthaft Lust dazu. Kleidung zu kaufen entspannt mich überhaupt nicht. Ich bin ein seltenes Exemplar, ich weiß. In den unzähligen Läden und Kleiderstangen zu wühlen stresst mich mehr als alles andere. Ich bin an Kleidung interessiert, die lange Tragbar ist.

Das grenzenlose Angebot strapaziert meine Nerven. Letzten Endes hält es mich sogar davon ab, mir endlich einen Neuen zu kaufen. Für die Konsumgeilheit bin ich auch zu bodenständig erzogen worden.

Nach dem Tod meiner Mutter wuchs ich bei meinen Großeltern auf. Sie waren russische Auswanderer, die einfach und zurückhaltend lebten. Bis zu ihrem Tode. Mein Vater verließ meine Mutter für eine andere Frau. Ich war sieben und erinnere mich nur noch bruchstückhaft an ihn. Ich glaube er war Arzt.

Die Geräusche der Umgebung werden durch dröhnende Bässe unterbrochen, die sich immer mehr zu nähern scheinen. Ich sehe verwundert zu Uta, denn die Wucht der Bässe pocht und dröhnt schon im Magen.

Merengue.

Zu diesen Klängen ertönen Freudenrufe und lautes Geschrei, welches von einem Schiff kommt, das sich langsam nähert.

Ich finde das echt seltsam. Es gibt hier kein Publikum wie auf der Müggelspree. Partyboote sind auf Berliner Flüssen in den warmen Sommertagen an der Tagesordnung. Nichts Besonderes. Braungebrannte Körper, laute Musik, und vornehmlich junge Menschen.

Hier wirkt es fremd und bizarr. Es passt so gar nicht in die friedliche, idyllische Umgebung. Hier ist kein Publikum, das gerne mal winkt. Na ja, außer uns.

Mich begeistert lateinamerikanische Musik. Sie geht sofort in das Blut und versetzt den Körper in Schwingung. Die Adern weiten sich und mein Kopf wird still.

Und da ist es nun zu sehen. Gemächlich schippert es durch das grünliche Wasser und arbeitet sich voran.

Mit Schiffen kenne ich mich zu wenig aus, um genau sagen zu können, welcher Typ und welche Klasse hier gerade an mir vorbei fährt. Was ich aber erkennen kann, ist, dass es protzig ist. Doch das beeindruckt mich wenig. Mich beeindrucken die Klänge und die Stimmung an Bord. Ungefähr zwanzig Menschen hüpfen auf Deck zur Musik. Von dort verbreiten sie gute Laune, die sie zweifelsohne haben und mich damit plötzlich anstecken.

Der Gewohnheit folgend, fange ich an zu tanzen.

Das Boot zieht langsam vorüber.

Einige Partygäste bemerken mich. Sie schreien entzückt und winken mir zu. Ihr Tanz wird wilder.

Ein Tanzbattle. Für mich ein atemberaubendes Erlebnis und es ist nicht von dieser Welt.

Wie belebt und angeregt, winke ich und freue mich über die Resonanz, die mein Tanz hervorruft.

Seit ich ein kleines Kind bin, tanze ich und fühle mich dabei frei und unbeschwert. Ohne Sorgen oder Ängste. In diesem Augenblick liebe ich den schönen Tag, den Moment und alle Möglichkeiten, die mir in meinem jungen Leben offen stehen. Egal wie verrückt es erscheint.

Für die Leute auf dem Boot sind Menschen, die ihnen vom Ufer zuwinken, sicher nichts Besonderes. Aber meine Tanzeinlage schon. Das merke ich daran, dass ich tosenden Applaus ernte. Ich danke und verbeuge mich grazil.

Um mich herum vergesse ich alles. Ich fühle mich mit den Partygästen so verbunden. Ein neues Gefühl. Es ist so übermächtig, dass mir jetzt ein wenig flau im Magen wird und ich flacher als sonst atme.

Über das ganze Gesicht strahlend, denke ich darüber nach, wie es wäre, wenn ich auch auf dem Boot sein könnte. Diesen Wunsch habe ich bislang nie bei einem der vorbeifahrenden Boote verspürt. Egal wie gut gelaunt oder fröhlich die Leute an Bord gefeiert hatten. Das hier war etwas anderes. Besonders.

 

Einmalig in einem Menschenleben und ich ärgere mich, dass das Boot ohne mich seinen Weg fortsetzt. Wer springt denn schon einem Boot hinterher, um dort mit Fremden mitzufeiern? Zu verrückt und sonderbar.

Und doch, dort an Bord bis in die Nacht mitzufeiern hätte ich mir in diesem Moment sehr gut vorstellen können.

Jetzt ist eine befremdliche und dumpfe Traurigkeit in mir, wo bis eben alles voller Leben und Möglichkeiten schien.

Die Stille empfinde ich als stumpf, die Farben farblos und die Fülle als Leere.

Wie das möglich sein kann, ist mir unbegreiflich und rätselhaft. Ich kann es lediglich als einen Teil beschreiben, der mir aus meinem Herzen entrissen wurde. Dieser Teil gleitet ohne mich davon. Benommen stehe ich auf dem alten Holzsteg und Uta sieht mich mit überraschtem Blick an.

»Was war das denn? Die auf dem Boot sind förmlich ausgeflippt, als du getanzt hast und du bist ja jetzt noch völlig high.«

Das eben Erlebte war für mich auch neu und ungewöhnlich. Von meinen Eindrücken, ganz zu schweigen.

»Unglaublich! Na ja, so wie du tanzen kannst, bist du schon ein echter Kracher. Da wundert es mich nicht, wenn die völlig ausflippen. Ich dachte schon sie kommen her und rauben dich, damit du sie an Bord anheizen kannst.« Uta lacht und ich muss bei diesem Gedanken einstimmen.

»Ach, Uta. Wer mich raubt, bringt mich nach einer Stunde freiwillig wieder zurück. Es war einfach nur schön!«, sage ich immer noch berauscht in die Richtung blickend, in der das feiernde Boot entschwunden ist. Weitergefahren. Ohne mich.

Nun ist von dem Bass nichts mehr zu spüren und die Natur hat wieder die Oberhand. Sicher sind die Fische an den Steg zurückgeschwommen und die Vögel in den Wipfeln der Bäume trällern ihr Lied weiter. Eigentlich alles in Ordnung.

Und dennoch …

»Einfach ausgelassen tanzen. Ich konnte nicht anders und hatte richtig Lust in das Wasser zu springen, rüber zu schwimmen, mitzufahren und bis in die Nacht zu feiern. Schade, dass sie ohne mich weiter sind«, gebe ich offen zu.

»Ich habe gesehen, dass du förmlich ausgetickt bist. Du hattest Spaß, ja?«

»Ja, hatte ich. Warum nicht mal auf diese Art austicken? Es … es musste raus«, werfe ich ein und lache, weil ich daran denke, wie ich mit offenen Haaren hier auf dem Steg gehüpft und gesprungen bin. Ich mache eine Handbewegung, die Uta erklären soll, was mir da aus meinem Bauch entweichen wollte.

Leben.

Feiern. Mich selbst spüren.

»Oh, Mann, ich werde nicht mehr!«, sagt Uta lachend. »Und ich habe das nicht mit meinem Handy gefilmt. Dann hätte ich das später mal deinen Kindern zeigen können. Hier, das ist eure Mutter mit einundzwanzig. Sie hat wie verrückt getanzt, als ein Boot vorüber fuhr. Total irre, aber ihr kennt sie ja!«, lacht Uta nach Luft ringend. »Du bist eine verrückte Nudel!«

Gemeinsam stellen wir uns das nun vor und kichern vergnügt wie alberne Teenager.

»Dann bin ich ja froh, dass wir unsere Handys im Auto gelassen haben und du die Nachwelt mit so etwas verschont hast. Muss doch ja wohl mal erlaubt sein, seine Lebensfreude zeigen zu dürfen. Und eines ist sicher: Meine Kinder werden mal genauso verrückt wie ich. Die könntest du sicher nicht mit so was schocken.« Grinsend schiebe ich mir eine neue Weintraube in den Mund und lasse sie knackend zerplatzen. Frech schiele ich Uta aus den Augenwinkeln an. Sie hält sich lachend ihre Hand ins Gesicht.

Die Wellen, die das Boot hinterlassen hat, sind nun verschwunden. Das Wasser ist wieder glatt, das Kichern von uns verstummt. Jeder hängt seinen Träumen nach und lässt den Blick über das Wasser gleiten.

»Danke, dass du mit mir hergefahren bist. Es war eine gute Idee. Die beste seit Wochen. Ich finde es immer so schön hier«, sage ich leise und sehe dankbar zu meiner Freundin, die mich verschwörerisch angrinst.

Ich inhaliere tief den Geruch von Fisch und Brack. Er erinnert mich an meinen Großvater, der leidenschaftlicher Angler war und oft seinem Fang, in seiner Badewanne wässerte. Das rief meine Babulya auf den Plan, die das zutiefst verabscheute. Der Geruch hing monatelang im Bad und war durch nichts zu vertreiben. Sie schimpfte immer, dass wir eines Tages selbst noch wie Fisch riechen würden.

Manchmal durfte ich mit ihm angeln gehen. Es war immer besonders still und roch wie jetzt. Was haften blieb von diesen Tagen war die Nähe zum Großvater. Die liebevolle Geduld, die er aufbrachte und die gemeinsame Zeit. Er erklärte leise einige Anglerweisheiten. Warum es besser war beim Angeln zu flüstern und nicht laut hin und her zu laufen. Welcher Fisch auf welchen Köder anbeißt und weshalb.

Viele seiner Anglerweisheiten habe ich heute vergessen, aber nie die Liebe, seine subtile Beharrlichkeit und seine unendliche Güte. Er war geduldig mit mir und mit dem Krebs, der ihn Jahre später von innen zerfraß und letzten Endes tötete. Er hatte sich bis in seine letzten Minuten gewehrt und sich seine Liebe tief in seinem Herzen bewahrt. Eines seiner letzten Sätze zu mir war, dass er der reichste Mann der Welt sei und das letzte Hemd keine Taschen hat. Mit so viel Liebe in seinem Herzen würde er nirgendwo Not leiden und sich erst Recht nicht vor dem Tod fürchten.

Er prägte maßgeblich mein Idealbild eines Partners. Bis heute vergleiche ich alle Kandidaten mit ihm. Er ist der Maßstab, an dem ich alle potenziellen Bewerber messe und bewertete. Die Latte ist hochgesteckt. Mein Sieb ist sehr grobmaschig, aber ich will eben keine halben Sachen.

Ich verachte Männer, die oberflächlich sind und nur nach Äußerlichkeiten sehen. Von denen könnte ich zwanzig an jedem Finger haben. Aber so einen will ich nicht. Ich habe keine Sorge, dass ich unangetastet sterbe. Es gab da mal jemanden...

Ein unsanfter Stupser reißt mich aus meinen Gedanken. Und als ich empört darüber aufsehe, bemerke ich, wie Uta aufgeregt in eine Richtung starrt. »Da kommt die nächste Gelegenheit für deine Tanzeinlage. Sie kommen zurück.«

Überrascht blicke ich in die Richtung, in die Uta starrt.

»Tatsächlich«, flüstere ich. Im Magen hämmert wieder der Bass. Verhalten erst, aber immer heftiger und drängender. Er kommt näher.

»Sie kommen echt noch mal vorbei!«, entfährt es mir leise und ich springe im Nu auf. Wummernd nähert sich der Bass und die ersten Töne dringen an mein Ohr.

Jetzt ist alles zu spät, denn das, was ich höre, ist mein Lieblingslied. Freudig strahlend zerre ich an Utas Arm, die ebenfalls steht und ihre Augen vor Spannung geweitet hat.

»Schau mal, Ella! Sie kommen dichter zu uns ran. Das ist ja irre!«

Uta winkt freudig.

Rhythmisch und mit klatschenden Händen stampfe ich das Lied mit und bin außer mir vor Freude, als das Boot auf Höhe des Steges ankommt und seine Geschwindigkeit verringert. Tanzend biete ihnen jetzt eine kleine Show.

Soweit der Steg es erlaubt, tanze ich ausgelassen mit und drehte mich dabei. Meine Hüfte erzeugt gekonnt die eine oder andere aufreizende Geste.

Den Refrain singe ich laut mit und vom Boot werde ich angefeuert. Es fährt nun noch dichter heran, hält aber in weniger als fünf Meter Entfernung. Zum Greifen nah. Ich kann einige Gesichter erkennen. Das Boot bekommt beinahe Schlagseite, denn alle stehen Steuerbord und hängen weit über die Reling oder hüpfen rhythmisch mit.

Das finde ich sogar noch sagenhafter als vorhin und es feuert mich zusätzlich an. Ich beziehe das Publikum mit ein. Es herrscht Begeisterung und Freude auf beiden Seiten. Mit erhobenen Händen rufe ich die ersten einschlägigen oh Töne und deutete auf die Zuschauer. Die antworten mit den la Tönen. Dann deute ich wieder auf mich und ergänze die aje Laute. Dieses Schäkern kommt an und die Leute machen begeistert mit.

Die sind in grandioser Stimmung. Wie ein DJ, der seine tanzenden Gäste mit hoch erhobenen Zeigefingern anfeuert, tanze ich und hoffe, dass die Zeit stehen bleibt.

Zeitgleich zum Typhon im Lied, ertönt das Typhon auch vom Boot. Die Leute flippen aus. Genial und ich lache mich darüber schief.

Mit beiden Händen einladend, winke ich und fordere wieder zum gemeinsamen Singen auf, was diesmal sogar noch besser klappt. Hüpfend applaudiere ich dem Publikum und mir zu. Das Typhon ertönt erneut. Gleich ist das Lied zu Ende.

»Kommt rüber!«, ruft eine Frauenstimme von Bord und winkt heftig. Sie ist kaum zu übersehen, denn sie hängt weit über die Reling.

»Ja! Los! Kommt her!«, stimmen andere ein und ich kann es kaum glauben. Das ist doch das, was ich mir vorhin so sehr gewünscht hatte. Schnell sehe ich zu Uta, die auch neben mir hüpft und mit ihren Armen in der Luft wirbelt.

»Kommt!«, ertönt es erneut und bildet nun einen hektischen Chor. Alle hüpfen zu diesem Takt und mein Mund grinst breit vor Freude. Ich mustere Uta fragend.

»Ich nicht«, sagt sie entschlossen. »Das Auto und die Sachen. Aber du. Du wolltest doch vorhin so gerne dort auf dem Boot sein.«

Unschlüssig drehe ich mich zu den begeistert rufenden Partygästen. Das ist eine tolle Einladung. Kann ich die ablehnen? Vorhin wagte ich davon nur zu träumen. Ich habe nicht geglaubt, dass das passieren könnte. Aber kann ich Uta denn hier zurücklassen?

»Spring!«

»Los! Spring!«

Ich höre Uta neben mir, die sagt: »Los! Bevor sie es sich überlegen. Hab Spaß und erzähle mir alles, hörst du?«

Dankend sehe ich sie an und ziehe meinen Mund zu einem breiten Lachen, denn das ist zu irre. Mit einem Satz springe ich in das hellgrün schimmernde Wasser und fasse es in diesem Moment selbst kaum.

Das Lied endet genau in dem Augenblick, als ich den höchsten Punkt meines Sprunges erreiche. Vom Boot dringen Freudenschreie an mein Ohr. Mit den Armen nach oben tauche ich ein, gespannt auf ein Abenteuer.