Winkelsee

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Winkelsee
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Inhaltsverzeichnis

Titel

Impressum

Die wichtigsten Figuren

Die Wetterfahne

Wir schreiben das Jahr 1550

Die Große Jagd am nächsten Tag

Hans, der Meisterschütze

Der Schlossbrand

Ankunft bei Anne

Drei Jahre später

Maries Stube

Was Marie nur ahnte

Die freie Reichsstadt 1529

Prügelei im Schwarzen Adler

Ein Entschluss mit Folgen

Die Gefahr

Luzifer und Anton

Das Schicksal nimmt seinen Lauf

Die Intrige

Gisbert

Hans im Unglück

Gloria

Der Galgen

Der Abend vor der Hinrichtung

Die Aussprache

Der Wettlauf

Das Karmeliterkloster

Lord Malcolm

Der Wettstreit

Das Urteil

Epilog

Nachwort und Dank

Die Autorin

Titel


Karin Stiller


Roman


Impressum

Winkelsee

Roman nach dem gleichnamigen Filmdrehbuch

von Claudia Ludwig und Karin Stiller

ISBN 978-3-96320-053-3

© 2020 Henrich Editionen,

ein Unternehmen der Henrich Druck + Medien GmbH, Frankfurt am Main

eBook 2020/01

Alle Rechte vorbehalten.

Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes

ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar.

Das gilt insbesondere für Kopien, Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Titelillustration: Jürgen Winnerl

Umschlagfoto: Cristina Henrich-Kalveram

Lilie erstellt von freepik - de.freepik.com

Gesamtherstellung und Verlag:

Henrich Druck + Medien GmbH, Frankfurt am Main

Layout: Henrich Druck + Medien

www.henrich-editionen.de

Für Julian und Maxine

Die wichtigsten Figuren

HANS WINKELSEE (20), der beste Schütze weit und breit. Seine Kunst macht ihn übermütig.

BÄRBEL HAUSER (18), Tochter des Wächters vom ­Eschenheimer Turm, schön, klug und kämpferisch.

MARIE DU LAC (40), Mutter von Hans. Sie ist Hebamme und Heilerin mit spirituellen Fähigkeiten.

LUZIFER (zeitlos), elegant, wandlungsfähig. Er versucht immer wieder, die Beteiligten zu Untaten zu verführen.

MATTHIAS VON MARTENSTEIN (50), Frankfurter Ratsherr und Patrizier, Anhänger der Reformation. Seine Gesinnung führte ihn einst nach Frankreich.

MARKUS VON MARTENSTEIN (25), Matthias’ Sohn und Hans’ Rivale in mehrfacher Hinsicht.

ANNE HAUSER (42), Maries beste Freundin seit Kinder­tagen, ebenfalls Hebamme. Sie ist die Frau des ­Wächters vom Eschenheimer Turm.

GUSTAV HAUSER (20), Buchdrucker und Annes Sohn, ist Hans’ bester Freund und vernünftiger Mahner vor den Gefahren der Wilderei.

GLORIA VON GRÜNEBURG (25), bildschöne verwöhnte Patrizier-­Gattin, Cousine von Markus, gelangweilt und von Hans begeistert.

GISBERT VON TAUERN (47), Theologe aus reicher Adelsfamilie, Matthias von Martensteins Schwager, religiöser Fanatiker und Hexenjäger.

THERESA (42), glühende Verehrerin von Gisbert und seinen Lehren.

ANTON LIENER (29), Jagdgehilfe des Oberförsters. Voller Neid auf die Schießkunst von Hans wird er zu einem gefährlichen Widersacher.

Die Wetterfahne

Sie glänzte in der Mittagssonne wie das Goldene Vlies. Die frisch restaurierte Wetterfahne lag auf dem Tisch einer Werkstatt südlich von Frankfurt. Henni, einer der Schlosser, polierte eifrig die eine oder andere Stelle. Sein Kollege Gerd schleppte Verpackungsmaterial herbei.

Henni hielt plötzlich inne. Da war ein kleiner Fleck auf dem Gold. Er wischte mit einem Tuch über das Metall.

Gerd biss sich fast auf die Zunge: „Jetzt hör emal uff. Jetzt reischt’s. Jetzt werd se eingepackt. Mir müsse los. Jetzt helf mir doch!“ Er schubste den polierenden Henni. „Schluss jetzt! “

„Ja, ja, is ja gut, isch hab’s ja schon.“ Henni trat einen Schritt zurück und betrachtete zufrieden sein Werk. „Schön isse geworn. Guck, wie se jetzt wieder glänzt! Alles ausgebessert, Wahnsinn! Isch möcht wisse, welscher Depp die Löcher da nei gemacht hat. Man sieht wirklisch nix mehr. Des Ding is wie neu.“

Gerd verdrehte die Augen: „Ja, herrlisch! Hoffentlich solls auch so aussehe, hat ja bissje ausgesehe wie e Neun.“

Henni runzelte die Stirn: „Ach, Quatsch!“, knurrte er.

Gerd wurde laut: „Gut, wenn du meinst, dann los, einpacke! Inner halbe Stund ist der Autokran am Turm. Jetzt helf doch emal!“

Sie wickelten die Fahne erst in ein Stofftuch, dann in eine Plastikplane und trugen sie nach draußen. Auf der Straße vor der Werkstatt wartete ihr Lieferwagen.

„Des Scheißding is aber auch schwer, pass doch uff!“, fluchte Gerd. Sie schoben das sperrige Paket ins Auto, stiegen ein und fuhren los. Der Wagen rollte durch die Hauptstraße und verließ die Ortschaft.

Als sie ein Waldstück erreichten, entspannten sie sich ein wenig. Ihnen stand heute noch einiges an Arbeit bevor. Bald sahen sie Frankfurts Bürotürme, die sich vom strahlend blauen Himmel abhoben.


Einst war der Eschenheimer Turm mit siebenundvierzig Metern Länge weit und breit das höchste Gebäude. Unter seinem Dach befand sich das nördliche Stadttor von Frankfurt am Main seit 1428. Bis in die Renaissance war es gesichert durch den Stadtgraben, der damals Wasser führte. Jetzt stand das mittelalterliche Gebäude, umrandet von breiten Straßen, mitten im Verkehrsgewusel der Frankfurter Innenstadt.

Stefan, der Architekt, sinnierte im Auto über das Bauwerk. Ihm war die Leitung der neuesten Restaurierungsarbeiten am Turm anvertraut worden. Er hatte das alte Gemäuer in den ­letzten Wochen lieb gewonnen. Heute sollte sein Projekt einen krönenden Abschluss finden. Die frisch vergoldete Wetterfahne, hoch oben auf dem spitzen Dach, sollte wieder eingesetzt werden. Martha, die Historikerin des Stadtarchivs, hatte ihm die Sage vom tollkühnen Wilddieb erzählt, die sich um die Fahne rankt. Sie wollte alles über ihren Ursprung herauskriegen.

Er mochte die belesene Martha, die so gar nicht nach altem Archiv aussah, so wie er von der Architektur des Turmes an­getan war, so schwärmte Martha von seiner Geschichte. Er ertappte sich bei dem Gedanken, als Wilderer aus dem sechzehnten Jahrhundert bei ihr einen verwegenen Eindruck zu machen. Der harmonische Bau mit seinen Wachtürmchen lud ihn

 

immer zum Träumen ein. Er fühlte sich hineingezogen in eine Zeit, in der das Gebäude ein von Weitem sichtbares, streng ­bewachtes Portal zur Freien Reichsstadt Frankfurt war, wie Wächter auf der Außenbalustrade in die Öde vor ihnen spähten, um ungebetene Gäste abzuwehren. Als er auf den Turm ­zufuhr, wurde er jäh aus seinen Träumen gerissen. Hinter dem Ge­bäude ragte der Nextower, ein hellgraues futuristisches Bürogebäude, mit einhundertsechsunddreißig Metern Höhe in den Himmel.

„Die beiden Türme könnten unterschiedlicher nicht sein, aber genau damit bringen sie Frankfurts Stadtgeschichte auf einen Nenner“, stellte er fest. Sie waren für ihn markante Eckpunkte der Zeitreise Frankfurts vom aufstrebenden Markt­flecken des ausgehenden Mittelalters bis zur Handels- und Bankenstadt. „Mainhattan, die kleinste Metropole der Welt“, sagte er laut vor sich hin und lächelte.

Er stand im Stau vor der letzten Ampel, die ihn vom Eingang des Eschenheimer Tors trennte, und war zu spät. Eigentlich wollte er unbedingt dabei sein, wenn die Fahne vom Autokran auf das Dach gehoben wurde. Er beobachtete, wie Gerd die Fahne zu fassen bekam und sie langsam Richtung Turmspitze zog. Henni stand neben ihm auf dem Gerüst. Er sprach immer wieder in ein Walkie-Talkie und fuchtelte mit den Armen, als kämpfte er gegen ein imaginäres Monster. Die Ampel sprang auf Grün und er konnte näher an den Turm vorrücken. Die ­Fahne funkelte in der Sonne.

Dann erstarrte er und hörte sich selbst hysterisch schreien, als könnten die beiden Handwerker ihn verstehen, wenn er nur laut genug wäre: „Wo sind die Löcher? Was habt ihr getan?“ Er schlug sich mit der Hand gegen die Stirn und schüttelte den Kopf. „Die Kerle hören nie zu! Das darf nicht wahr sein.“ War es aber.

Die beiden Geschichtsbanausen hatten die Löcher „ausgebessert“, die Schusslöcher von Hans Winkelsee, welche die simple Wetterfahne zum Zeugen einer Legende gemacht hatten, die heute noch fast jedem Kind in Frankfurt in der Grundschule erzählt wurde. Es war zwar eh nicht mehr die alte Fahne, die hatte man vor Jahren schon ausgetauscht, aber an die Löcher hatte man damals gedacht. In spätestens einer Stunde sollte hier Martha antanzen und würde dann sogleich im Dreieck springen, wenn sie die Fahne sah. Und als wenn das nicht ­gereicht hätte: Sie würde Horst Meier, den mit Abstand penibelsten Beamten vom Denkmalschutz, im Schlepptau haben. Stefan wollte gerne, mitsamt Auto, im leider nicht mehr vorhandenen Stadtgraben versinken. Stattdessen lenkte er seinen Wagen links am Turm vorbei, Richtung überfüllte Tiefgarage.

Als er das Eschenheimer Tor nach einer gefühlten Ewigkeit zu Fuß erreicht hatte, standen Henni und Gerd bereits unten bei den Leuten vom Autokran und fachsimpelten über die schlechte Akustik von Walkie-Talkies. Das Auto war schon abfahrbereit. Stefan begrüßte alle und bedankte sich beim Kranführer. Als die Männer abgefahren waren, wendete er sich an Henni und Gerd.

Henni meinte heiter: „Schön geworn, gell?“

Stefan bemühte sich Ruhe zu bewahren. Doch je mehr er sich bemühte, umso aufgeregter war er innerlich. Er hatte sich genau überlegt, was jetzt zu tun war, ganz genau: „Also Leute, abgesehen davon, dass ich die Story von der Fahne bestimmt erzählt habe, aber mir wieder mal kein Schwein zugehört hat, können wir das noch hinkriegen.“

Henni und Gerd fühlten sich mit einem Mal unwohl.

Stefan fuhr fort: „Ich gehe davon aus, dass ihr einen Akkubohrer dabeihabt. Das Gerüst steht noch. Wir haben keine Zeit zu verlieren.“ Sie sahen ihn verwirrt an. Langsam schwante ­ihnen, worum es ging.

Widerwillig hörten sie Stefan zu: „Wir haben noch knapp 20 Minuten Zeit. Das kann reichen. Da oben war eine Neun im Fähnchen und die neun Löcher müssen wieder da sein, bevor Martha mit Horst Meier kommt, oder wir kriegen echt Ärger. Wie steh ich denn da?“

Seine Stimme war mit jedem Wort lauter geworden.

Henni war einen Schritt zurückgetreten: „Was, da nochema hoch? Heut spielt die Eintracht und ich hab’ Kadde“, jammerte er. „Des klappt niemals, so schnell?“

Gerd stöhnte und schluckte den Satz „Hab’ ich doch gesacht, die Neun is wischtisch!“ mühsam runter. Stattdessen sendete er seinem Kumpel einen vernichtenden Blick und wendete sich an Stefan: „Alles klar, Chef, wird gemacht, kein Problem.“ Dann sah er seinen Partner streng an und deutete mit dem Kopf zum Lieferwagen, der neben dem Turm stand.

Im Untergeschoss des Gebäudes breitete sich ein Restaurant auf dem kleinen Platz davor aus. Die Passanten, die man vom Turm während der Autokran-Aktion ferngehalten hatte, bevölkerten die einladenden Stühle und Tische wieder, um am sonnigen Freitagnachmittag im Schatten des Turmes ihre Getränke zu genießen.

Stefan wartete ungeduldig auf die Handwerker. Die beiden schwenkten fröhlich den Akkubohrer in der Luft.

Er rief nervös: „Beeilt euch, Jungs!“

Als sie ihn erreicht hatten, meinte Henni: „Ned uffresche!“, und sie verschwanden im Turm.

Stefan regte sich aber auf. Endlich sah er an der Turmspitze die beiden Handwerker den Bohrer ansetzen. Sein Kopf wanderte hin und her zwischen dem Turm und der Straße, von der aus Martha mit Meier gleich erscheinen würde. Zuerst erkannte er Horst Meier, den großen, drahtigen Mann vom Denkmalschutz, dann Martha, viel kleiner und wild gestikulierend, neben ihm. Stefan blickte gebannt auf das ungleiche Paar, als Henni unbemerkt aus der Tür trat und zum Lieferwagen rannte.

Als Martha Stefan erkannte, winkte sie ihm mit ausladender Bewegung zu. Horst Meier, der ordentliche Beamte, hielt die Aktentasche fest im Griff und ein Klemmbrett in der Hand, den Blick auf den Boden gerichtet.

Als sie endlich vor ihm standen, begrüßte Martha ihn mit: „Hallihallo!“

Von Horst Meier erhielt er einen korrekten Händedruck.

Martha entschuldigte sich: „Wir sind bisschen zu spät. Die Rushhour ist schuld.“ Sie lächelte dazu bezaubernd und ging gleich weiter zum Turmeingang.

Horst Meiers Stimme klang amtlich: „Haben Sie auch, wie besprochen, die historischen Materialien benutzt?“, fragte er.

„Natürlich, wir haben uns streng an die alten Vorlagen gehalten.“ Stefan kam sich vor wie bei seinem strengen Mathe­lehrer gleichen Namens.

Die drei traten ein und schafften sich die enge Wendel­treppe empor.

Martha fuhr mit den Fingern über das raue Mauerwerk im oberen Bereich: „Toll. Sieht prima aus! Na, da freut sich doch der Denkmalschutz, nicht wahr, Herr Meier?“ Sie sah ihn herausfordernd von der Seite an.

Horst wich ihrem Blick aus und strich ebenfalls mit den Fingern über das Mauerwerk. Er räusperte sich und meinte mit etwas zögerlicher Stimme und ernster Miene: „So, wie es aussieht, ist das wohl alles ganz in Ordnung.“

Stefan stimmte zu: „Ja, wir haben uns größte Mühe gegeben, alles ist so authentisch wie irgend möglich. Kommen Sie, wir gehen hoch in die frühere Gefängniszelle.“

Draußen vor dem Turm suchte Henni fieberhaft im hinteren Teil des Lieferwagens nach dem zweiten Akku für die Bohrmaschine. Sein Handy brummte.

Natürlich war es Gerd: „Was machst’n du, soll isch hier übernachte?!“, schrie es aus dem Gerät. „Die komme doch gleisch, findst du’en net oder was?“

Henni schwitzte vor Aufregung. Plötzlich erhellte sich sein Gesicht: „Isch hab’en“, sang er laut ins Telefon, hielt den Akku hoch, als könnte Gerd ihn sehen und wischte sich erleichtert den Schweiß von der Stirn.

Inzwischen waren die drei oben im ersten Dachgeschoss angekommen. Martha und Horst schauten sich die frisch instand gesetzte Kerkertür genauer an.

In dem Moment polterte Henni herein. Er schnaufte und begrüßte alle mit lauter Stimme: „Dschullinger, die Herrschafte. Lasse Sie sich net störn.“ Er durchquerte den Raum. Dann verschwand er auf die Außengalerie.

Martha blickte ihm irritiert nach: „Was machen die Handwerker noch hier?“, fragte sie und hob die Augenbrauen.

Stefan schluckte: „Nur noch eine Kleinigkeit. Die Fahne wurde doch heute erst angebracht. Ist alles in Ordnung!“, beteuerte er ein wenig zu laut.

Martha gab sich damit zufrieden. Sie begann zu träumen. Rechts von ihr war ein kleines Fenster, vor ihr die grobe Wand. Sie senkte den Blick auf den Boden. Dann spähte sie aus dem Fenster. Ihre Augen wanderten zur Zimmerdecke: „Hier hat er auf den Galgen gewartet, Hans Winkelsee, der Wilddieb, allein und völlig verzweifelt. Vielleicht war hier ein Tisch und davor ein Stuhl. Hier hat er gesessen. Neun Tage und Nächte musste er überstehen. Ich wette, er saß hier und blickte mit gequältem Gesicht nach oben, wo sie quietschte. Eine unglaubliche Geschichte. Die Fahne mit den Löchern ist schon wichtig. Sie ist der einzige Hinweis auf das damalige Geschehen. Mord und Totschlag soll es gegeben haben. Sogar der leibhaftige Teufel soll mitgemischt haben. So dachte man damals. Alles war magisch.“

Stefan räusperte sich. Martha war so mit ihrer eigenen Fantasie beschäftigt, dass sie seine wachsende Nervosität gar nicht wahrnahm. Draußen war Henni bei Gerd angekommen. Er stand etwas unterhalb von Gerd auf dem Gerüst und reichte ihm den Akku.

Gerd nahm ihn und tauschte die Geräte aus. „Was’en Stress, und alles nur, weil du ...“

Henni unterbrach ihn: „Hab’ ich doch gleich gedacht, dass die Neun wischtisch is!“

Gerd schüttelte wortlos den Kopf und bohrte das letzte Loch.

„Ta-ta-ta-ta!!! Voilà!“ Gerd stand neben der Fahne und sie strahlten um die Wette.

Martha und die beiden anderen waren gerade auf die Außengalerie getreten.

Sie klatschte vor Begeisterung: „Das habt ihr genial hingekriegt!“

Henni meinte nur: „Ei, ja!“

Wir schreiben das Jahr 1550

Hans hielt eine Feder in der Hand. Er saß an einem groben Holztisch. Darauf stand ein Tintenfass. Mehrere Papierblätter waren über den Tisch verstreut. Er sah auf das angefangene Schriftstück vor sich und verzog das Gesicht, als hätte er Schmerzen. Etwas quietschte erbärmlich in kurzen Abständen. Er fuhr sich durch die Haare, blickte zornig nach oben, schloss dann die Augen und seufzte. Diese vermaledeite Wetterfahne!

Plötzlich sprang eine schimmernd schwarze Katze auf den Schreibtisch. Sie strich mit ihrem Körper an Hans’ Arm vorbei und machte es sich auf den Papieren gemütlich.

Er lächelte überrascht: „Minou, was verschafft mir die Ehre? Wenigstens eine, die mich hier im Kerker besucht, wenigstens eine ...“ Er streichelte das Tier abwesend und dachte: „Sonst hab’ ich alles verloren ... Alles, auch sie. Sie vermisse ich noch mehr als meine Freiheit.“

Er schüttelte den Kopf und wischte sich über die Augen. „Dabei ist es noch gar nicht lange her, da war alles gut, meine Welt noch in Ordnung.“

Minou schnurrte, drehte sich um sich selbst und legte sich auf einen kleinen Blätterstapel.

„Dieser Sommer, der Sommer, in dem alles begann: mein größtes Glück und mein größtes Unglück.“


Es war Juni. Der Teufelsweiher lag in der strahlenden Sonne, umsäumt von sattem Grün. Die Äste der Laubbäume und Sträucher hingen ins Wasser.

So hatte Hans seinen Lieblingsplatz vor den Toren von Frank­furt noch nie gesehen. Die Jahre zuvor waren immer kälter geworden. Die alten Leute erzählten, wie ihre Großeltern hier, als Kinder, gebadet hatten. Jetzt war der Weiher meist bis weit in den März zugefroren. Viele der Alten waren überzeugt, dass hier die Hexen ihre Hände mit im Spiel hatten.

Er stieg vom Pferd. Hektor, der Braune mit der schwarzen Mähne, begann sofort in der Blumenwiese zu grasen. Er richtete seinen Hut und pfiff nach Brutus, seiner kleinen rötlichen Bracke mit der weißen Vorderfront. Am blauen Himmel über ihm flog ein großer Schwarm Wildgänse.

Hans nahm die Flinte aus der Satteltasche, strich zärtlich über ihren Lauf und meinte: „So, Philippa, zeig, was du kannst!“

Er legte das Gewehr an und zielte. Sein Schuss traf einen Vogel perfekt. Wie ein Stein fiel er vom Himmel in den See.

Ein lauter Aufschrei riss ihn aus seinem Stolz über den gelungenen Schuss.

 

Brutus spurtete los. Am Ufer bellte er schwanzwedelnd die junge Frau an, die mit vor Schreck weit aufgerissenen Augen im Wasser stand. Neben ihr trieb der tote Vogel. Brutus lief in den See, schwamm eiligst zur Beute, schnappte sie, ohne die Frau weiter zu beachten, so sehr war er in seinem Element, und strebte zurück zum Ufer.

Mit dem Vogel im Maul rannte er auf seinen Herrn zu, um ihm sitzend und schwanzwedelnd die Beute zu präsentieren.

Doch der bemerkte ihn kaum und eilte an ihm vorbei zu der Stelle am Wasser, wo sie stand. Neben ihm im Gras entdeckte er ihre Kleider.

Den Anblick würde er nie vergessen. Die junge Frau, deren gewelltes blondes Haar von einem blauen Tuch gehalten wurde und deren Hemd ihren Körper durchscheinen ließ, stemmte die Hände in die Seiten und sah ihn mit erhobenem Haupt an, wie eine Königin, der man ihr Land streitig machen wollte.

Hans grinste breit, ahnte Vorwürfe und kam ihr zuvor: „Bärbel, du bist hier allein im Teufelsweiher? Bist du verrückt? Wenn das jemand erfährt, ertränken sie dich an der alten ­Brücke im Main!!!“

Brutus wetzte herbei und kläffte Bärbel fröhlich an.

Sie schrie wütend und lachend zugleich: „Das geht dich gar nichts an, Hans Winkelsee. Und dreh dich sofort rum. Und du, Brutus, halt’s Maul!“

Hans gehorchte ihr und konnte nicht aufhören zu grinsen. Dabei drehte er seine Hand und meinte: „Auch du, Brutus!“

Sein braver Hund lief im Kreis und setzte sich neben ihn ins Gras, abgewandt vom See.

„So schön war der Weiher noch nie, und mit Verlaub, das liegt nicht nur an diesem Wetter.“ Er hob den Vogel behutsam auf, sah ihn an und senkte den Kopf, als verbeugte er sich vor der Kreatur, zum Dank. Dann verstaute er ihn sorgsam in der Umhängetasche. Einen verstohlenen Blick nach hinten konnte er sich dabei nicht verkneifen und sah, wie sie am Ufer nach ihren abgelegten Kleidern griff.

Er hörte ihre fröhliche Stimme, die ihm so vertraut war, wie die einer Schwester: „Es ist wirklich ein herrliches Wetter! Ich liebe diesen Sommer und das Wasser ist unwiderstehlich. Da musste ich einfach reingehen“, rief sie.

„Kann ich ja verstehen. Gestern war ich auch schwimmen“, gab er zu. „Und, hilft die Wassernixe morgen im Schwarzen ­Adler wieder der Lisette beim Servieren?“, wollte er wissen.

„Sicher, morgen ist bestimmt ganz besonders viel los dort, da kommt doch die ganze hohe Jagdgesellschaft zum Zechen!“

„Oh ja, und der stolze Markus wird wieder nur Augen für dich haben“, gab er laut von sich.

Bärbels Stimme wurde ernst: „Ach, was du Stolz nennst, ist reine Überheblichkeit. Markus glaubt, sein Stand erlaubt ihm alles. Bildet sich sonst was ein, bloß weil er ein von Martenstein ist! Aber auch wenn er noch so elegant redet und aussieht, er beeindruckt mich doch wenig. Na ja, zumindest ist er klug. Und das ist ja schon mal was. Rühr dich nicht vom Fleck! Bleib, wo du bist, wage es nicht, dich umzudrehen!“

Hans äffte den arroganten Schnösel Markus wie immer perfekt nach. Seine Stimme wurde ernst, die Worte gespreizt: „Soso, es geziemt sich also, klug zu sein, wenn man die Dame beeindrucken will. Nun, ich bin sehr klug. Es wundert mich, dass Ihr mir nicht zu Füßen liegt, holde Jungfrau.“

Bärbel lachte laut und glockenhell: „Als wärst du’s!“

„Was? Klug?“

„Nein, der Markus!“

„Also doch klug!“, beharrte Hans.

Bärbel wurde bestimmend: „Du bist doch viel zu tollkühn, um klug zu sein, mein Lieber. So, kannst dich wieder rumdrehen, und hör’ auf mit dem Gebabbel!“

Er wendete sich ihr zu, setzte eine beleidigte Miene auf und hob belehrend den Zeigefinger. Seine Stimme wurde so dunkel und leicht rau, als wäre er plötzlich um Jahre gealtert: „Mei lieb Kind, wenn du so denkst, kriegst du nie en Mann, Bärbelsche!“

Sie lachte laut: „Das ist zwar die Stimme meines Vaters. Aber er würde so was Törichtes nie sagen.“ Sie schenkte ihm ein bezauberndes Lächeln und lenkte ein: „Gut, ich geb’s zu, in Wirklichkeit bist du ein Genie.“

Er ging beschwingt auf sie zu und trat auf einen Ast. Dabei durchfuhr ihn ein Schmerz, als stäche jemand mit einem Messer in seinen rechten Fuß. „Verdammt!“, schrie er. Da erblickte er die kleine Schlange im Gras. Brutus sprang mit einem Satz zur Seite.

Bärbel wusste es sofort: „Oh, das ist eine Kreuzotter.“ In ihren Augen flackerte wissenschaftliches Interesse auf.

Er schaute weit weniger interessiert und sah mit weit aufgerissenen Augen der Schlange nach, die schnell das Weite suchte. „Verdammtes Mistvieh!“, entfuhr es ihm, als wäre sie ein hinterlistiger Widersacher.

Er rieb seinen brennenden Knöchel und sah sich nach einer Waffe um, hob einen dicken Knüppel vom Boden auf und schwang ihn in der Luft. „Na warte, das war der letzte Fuß, in den du gebissen hast!“

Bärbel hielt mit erstaunlicher Kraft seinen Arm fest. „Nein, was machst du!“, brüllte sie. „Hör sofort auf damit. Hat dir deine kundige Mutter nicht beigebracht, wie nützlich Schlangen sind?“

Der kleine Peiniger verschwand im Gebüsch.

Brutus winselte, als fragte er, wie er reagieren soll. Hans warf den Knüppel weit weg. Der Hund sprintete hinterher. „Setz dich hin. Daran stirbst du nicht“, dozierte Bärbel wie ein Professor. „Du hast Glück, ich hab’ gerade für deine Mutter Kräuter gesammelt. Zeig mal her!“

Hans setzte sich ins Gras. Bärbel kniete vor ihm nieder und nahm seinen Fuß. Der Knöchel zeigte eine kleine Bisswunde.

Brutus machte neben Bärbel Sitz und hielt den Knüppel im Maul. Der war so schwer, dass sein Kopf hin und her wackelte. Erwartungsvoll legte er den Knüppel vor seine Füße. Hans schob ihn mit dem unverletzten Fuß zur Seite.

Bärbel lachte, dass die blonden Locken um ihr Gesicht tanzten. „Ab, Brutus, das hilft uns jetzt nicht.“ Sie schob den Hund zur Seite und beugte sich über Hans’ verletzten Fuß.

Die Schmerzen waren plötzlich verflogen. Er grinste unwillkürlich und meinte in freundlichem Ton: „Blöder Hund!“

Sie kniete dicht vor ihm.

Der Duft ihrer langsam trocknenden Haare machte ihn ganz schwindelig: „Ist es sehr schlimm? Du musst das Gift aussaugen, gell?“ Er stöhnte dramatisch und verzog sein Gesicht, als würden ihn die Schmerzen übermannen. „Schnell, da geht es um Sekunden!“

Bärbel seufzte, lächelte schief und strich über die Wunde: „Das hättest du wohl gerne, gell? Nein, das hat man früher so gemacht. Heute nimmt man ...“ Sie unterbrach sich selbst: „Viel hast du nicht abgekriegt. Es wird nicht blau und schwillt nur ganz leicht an. Du bist aber auch ein Dappes!“ Sie öffnete ihren Beutel und holte verschiedene Kräuter sowie ein robustes Schälchen heraus. Suchend schaute sie sich um.

„Ich hatte eben nur Augen für dich, meine schöne Kräuterhexe“, säuselte Hans.

Sie sah ihn mit ihren großen blauen Augen an. „Soso, ich glaube eher, du bist einfach ein Hans Guckindieluft.“ Frau Doktor hob einen handlichen Stein auf und breitete die Kräuter neben sich aus. Plötzlich strahlte sie: „Na bitte, da haben wir es doch: Acker-Gauchheil! Hilft gegen Schlangengift.“

Er guckte ihr besorgt zu und runzelte die Stirn: „Acker-Gauchheil?“

Sie zupfte die Kräuter und zerkleinerte sie mit einem Stein in dem Schälchen. Dann drückte sie die zermahlenen Kräuter auf seine Wunde. „Ja, Acker-Gauchheil. Halt das Bein still und dreh den Fuß mal so zur Seite! Auch Wetterkraut oder Weinbergstern genannt. Solltest du eigentlich kennen, wenn du immer so verträumt durchs Unterholz stolperst. Das habe ich von deiner Mutter gelernt. Sie sollte dir im Sommer bei deinen Jagdausflügen immer ein Beutelchen davon mitgeben.“ Er sah fas­ziniert zu, wie sie vorsichtig und geschickt seinen Knöchel verarztete.

Sie löste ihr blaues Tuch aus dem Haar. Lange Locken fielen auf ihre Schulter und in den Ausschnitt ihres Kleides, von dem er den Blick nicht wenden mochte.

Während sie das Tuch um seinen Fuß band, meinte sie zufrieden: „Gut, so wird es halten.“ Sie machte einen Knoten, schaute auf den Verband und nickte. Dann hob sie ihren Kopf und sah ihm direkt in die Augen. Sie strahlte ihn an und gab ihm unvermittelt einen zarten Kuss auf die Wange. Abrupt senkte sie den Blick, wischte das Schälchen sehr penibel sauber, packte es, zusammen mit den restlichen Kräutern, wieder in ihren Beutel und erhob sich.

Er rappelte sich leicht benommen auf.

Sie stand vor ihm, immer noch mit gesenktem Blick und murmelte plötzlich schnell und leise: „Ich muss zur Mutter. Sie wartet schon. Bis morgen, im Adler!“ Eilig ging sie weg.

Er blieb wie angewurzelt stehen und sah ihr nach.

Brutus hatte sich wieder ein Stöckchen geschnappt, legte es erwartungsvoll vor seine Füße. Er nahm den Stock hoch und warf ihn weit weg. Brutus wetzte sofort hinterher. Es war eindeutig seine Lieblingsbeschäftigung.

Hans sah hinüber zur Stadt. In der Ferne konnte er den Eschenheimer Turm erkennen, das Stadttor. Bärbel würde bald dort ankommen, bei ihren Eltern. Ihr Vater war der Turmwächter. Sie wohnten dort über dem Tor. Er drehte sich gedankenverloren zu seinem Pferd. Hektor, der große braune Hengst, graste in Ruhe am Waldesrand. Der Hund rannte mit dem Stöckchen auf ihn zu.

Hans strahlte ihn an und rief: „Los Brutus, zurück zum Stall!“


Eine Stunde später stand Hans mit einer Mistgabel vor den Stallungen des Grafen von Grüneburg.

Von Weitem sah er sie kommen, Matthias von Martenstein und seinen hochnäsigen Sohn Markus. Beide waren in feines Tuch gekleidet. Matthias war ein stattlicher Mann Ende vierzig. Unter seinem Hut schauten braune Haare hervor. Der blonde Markus war eleganter gekleidet als der Vater. Beide Männer stiegen von ihren prächtigen Pferden ab. Markus war hochgewachsen und schlank. Als er Hans erblickte, wurden seine Lippen schmal, und er schritt mit Chiron, dem großen Schimmel, auf ihn zu.

Mit herrischer Stimme, die Hans so grandios zu imitieren verstand, sprach er ihn von oben herab an: „Hey, Stallknecht, pass auf mit dem Pferd!“ Er gab Hans die Zügel.

Hans hätte sie ihm gerne zurückgeschleudert. Die beiden sahen sich feindselig an.

Matthias kam ebenfalls mit dem Pferd auf Hans zu. Er wendete sich ihm lächelnd zu: „Sei gegrüßt, Hans. Hier, mein guter Brauner hat was an der linken Hinterhand. Kannst du mal nachsehen, Pferde-Medicus?“

Hans’ gute Laune kehrte zurück. Er lächelte: „Sicher, gerne, wird gemacht, Herr von Martenstein“, und rief zu den Pferden, die er an den Zügeln führte: „Allez, allez, allez, les cheveaux! Ah, vous êtes très beaux!“

Matthias drehte sich im Weggehen nach ihm um. In seinem Blick lag ein wenig Melancholie, als hätte man ihn an etwas erinnert, das unwiederbringlich verloren war.