Buch lesen: «"Ich habe so viel zu erzählen..." Von Luxemburg ins Ruhrgebiet - eine Lebensgeschichte»

Schriftart:

Norbert Elsbeck, Jutta Wolmar

„Ich habe so viel zu erzählen…“

Von Luxemburg ins Ruhrgebiet -

eine Lebensgeschichte

Impressum

Texte: © Copyright 2017 by Norbert Elsbeck, Jutta Wolmar

Umschlaggestaltung: © Copyright 2017 by Norbert Elsbeck, Jutta Wolmar

Verlag:

Neopubli GmbH

Prinzessinnenstr. 20

10969 Berlin

www.epubli.de

Druck:

epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin

Vorwort

Wie es zur Entstehung des Buches gekommen ist

"Ich habe so viel erlebt. Wenn einmal einer käme, der mit mir reden würde, dem hätte ich viel zu erzählen." Diese Sätze sagte meine Mutter früher öfters, wenn sie von alten Zeiten mir gegenüber oder in geselliger Runde berichtete. Die Jahre gingen ins Land. Mein Vater, zu dem ich ein inniges Verhältnis hatte und mit dem ich mich auch öfters außerhalb der elterlichen Wohnung traf, starb zwischenzeitlich im Jahre 2004, und ich besuchte von da an meine Mutter einmal in der Woche. Diese wöchentlichen Treffen waren dabei anfangs sehr belastend für mich, da ich um meinen Vater trauerte, bei gleichzeitiger emotionaler Distanz zu meiner Mutter. Verglich ich sie doch in allem, was sie tat, mit meinem Vater, wobei sie bei derartigen Vergleichen aus meiner Sicht ungünstig abschnitt. So kam es des Öfteren zu Vorhaltungen und spannungsgeladenen Situationen. Ich erinnere mich dabei noch an eine Situation, wo ich die Wohnung meiner Mutter grußlos im Streit verließ. Aber mit der Zeit wurde das Verhältnis zu meiner Mutter mit abnehmender Trauer besser. Ich konnte mich ihr unvoreingenommener zuwenden und mich sogar auch auf derartige Treffen mit ihr freuen, wenngleich ich zu ihr nie so eine gute Beziehung wie zu meinem Vater hatte.

Wenn ich meine Mutter einmal wöchentlich vormittags besuchte, so blieb ich zumeist 2 1/2 Stunden. Wir hatten insofern eine "Arbeitsteilung" vereinbart, dass ich, aus einer anderen Stadt kommend, Brötchen für das Frühstück mitbrachte und meine Mutter den anderen Teil zum Essen beisteuerte. Nach dem Frühstück gingen wir dann ins Wohnzimmer, wenn nicht von mir manchmal noch gewisse Dinge zu erledigen waren. Dort unterhielten wir uns, hörten Musik oder sahen uns Filme von Peter Alexander an – meine Mutter wurde nach dem Tod ihres Mannes Fan von ihm und kaufte sich viele Musik-CDs und Film-DVDs. In den Unterhaltungen berichtete meine Mutter häufig von früher, so dass ich "eines Tages", es war im Januar 2010, zu ihr sagte: "Wo Du doch so viel aus der Vergangenheit zu erzählen hast, wäre es da nicht schön, wenn Du mir in ausführlicherer Weise einmal von Deinem Leben berichten würdest? Wir könnten das in Form eines längeren Interviews machen." Meine Mutter war zunächst irritiert und verunsichert, jedoch schließlich damit einverstanden, verwirklichte sich doch so für sie ein langgehegter Wunsch.

So brachte ich fortan zu unseren wöchentlichen Treffen ein Tonband und ein Mikrofon mit. Nachdem wir gefrühstückt hatten und der Tisch abgeräumt war, stellte ich das Mikrofon nebst Aufzeichnungsgerät auf den Tisch, und es fanden in der Regel 45- bis 60-minütige Interviews statt, wobei wir uns der Tischlänge nach gegenübersaßen. Dabei konnte es auch schon einmal vorkommen, dass ich meine Mutter interviewte, während sie das Geschirr spülte. Nach den Interviews verblieb immer noch etwas Zeit, die wir wie bisher im Wohnzimmer verbrachten.

Die Gespräche wurden dabei in der Weise von mir vorbereitet, dass ich zunächst einmal jeweils ein bestimmtes Thema auswählte und meine Mutter hierzu Aussagen machte. Hatte ich auf diesem Weg Informationen erhalten, nahm ich das bei einem nächsten Treffen zum Anlass, meine Mutter in einer systematischen Weise zu befragen. So wurde sie von mir von Anfang 2010 bis zum Frühjahr 2011 befragt. Die Gesamtdauer des Interviews belief sich schließlich auf 17 Stunden Bandmaterial. Die Tonbänder blieben dann einige Jahre unbeachtet, d. h. bis zum Januar 2016 – zwischenzeitlich starb meine Mutter 2013 –, bis als Folge eines Verwandtentreffens die Idee von meiner Frau und mir geboren wurde, die Tonbandaufzeichnungen für eine Buchveröffentlichung zu verwenden. Durch die Bereitschaft und eine bewundernswerte Ausdauer meiner Frau wurden dann die Interviews innerhalb eines Zeitraums von 13 Monaten niedergeschrieben. Zugleich wurde in der Verwandtschaft nach Bildern von meiner Mutter Ausschau gehalten, die das Buch bereichern könnten. Innerhalb eines Zeitraums von 3 Monaten wurde dann das vorliegende Interviewmaterial von meiner Frau und mir gemeinsam bearbeitet, so dass es schließlich zur Buchveröffentlichung kam.

Meine Mutter – erste biographische Daten

Soll von dem Leben meiner Mutter berichtet werden, so handelt es sich um den Lebenslaufbericht einer Frau, die 1928 in Düdelingen, einer Stadt in Luxemburg, als Älteste von drei Geschwistern geboren wurde. Ihr Vater, ein ungelernter Arbeiter deutscher Nationalität, die Mutter eine Luxemburgerin, eine ungelernte Hausfrau. Die Familie kam 1939, über ein Aussiedlerheim in Mettmann, nach Oberhausen ins Ruhrgebiet, da hier der Vater als Hüttenarbeiter Beschäftigung fand. Meine Mutter verlor ihren Vater schon im Januar 1945, gerade einmal sechzehnjährig, als Folge von Kriegseinwirkungen. Sie heiratete 1949 meinen Vater, einen gelernten Schreiner, bekam mit ihm zwei Kinder und war hauptsächlich - von einigen Jahren halbtäglicher Raumpflegearbeit und Zeitungsaustragen abgesehen - Hausfrau. Sie verlor ihren Mann 2004, als sie 76-jährig war, und verstarb selbst 2013, d. h. mit 85 Jahren.

Vom Interview zum Buch

Das insgesamt 17-stündige Interview bestand aus Fragen zu einzelnen Themenbereichen, die von meiner Mutter beantwortet wurden. Dabei nahm ich zum Zweck eines vertiefenden Antwortens eine Gesprächshaltung ein, die mit 'Aktivem Zuhören' bezeichnet wird. Ein derartiges Zuhören animiert den Befragten, hier hauptsächlich über das Paraphrasieren, d. h. sinngemäßes Wiederholen von Äußerungen, dazu, sich über angesprochene Sachverhalte mehr Gedanken zu machen. Es wird so die Selbsterforschung gesteigert, so dass es zu detaillierteren Äußerungen kommt. Des Weiteren erfolgte häufig ein Nachfragen, das ebenfalls zu einem Mehr an Informationen führte.

Die so gewonnenen Aussagen wurden nicht vollständig und in Gänze wiedergegeben, da viele Äußerungen für den Leser nicht von Interesse sind, handelte es sich dabei doch unter anderem um Wiederholungen, Abschweifungen, langatmige Klarstellungen von Sachverhalten, die, vollständig wiedergegeben, ermüdend sind, oder aber um Detailwissen, z. B. über das Wohnumfeld, das für den Leser aufgrund mangelnder Ortskenntnis kaum nachvollziehbar bzw. schlicht langweilig ist. So wurde folgende Vorgehensweise gewählt: Den Interviewdaten wurden Zusammenfassungen vorangestellt, um den Lesern eine erste Orientierung zu geben. Sodann wurden Aussagen, die als informativ angesehen wurden, wortwörtlich oder ihrem Sinn entsprechend wiedergegeben. Dabei wurden Auslassungen vorgenommen hinsichtlich von Aussagen, die dem jeweils in Rede stehenden thematischen Kontext zuwiderliefen. Gleichfalls wurden Aussagen ergänzt, wo dieses notwendig war, um den Inhalt von Äußerungen zu verstehen.

Einbindung von biographischen Äußerungen in einen (sozial-) geschichtlichen Zusammenhang

Betrachtet man die Lebenszeit meiner Mutter, so umfasst diese die Zeitspanne von 1928 – 2013. Sie ist eingebunden in geschichtliche (soziale) Ereignisse größeren Ausmaßes, die das Leben meiner Mutter begleitet und zum Teil auch mitbestimmt haben und deshalb Erwähnung finden. Da die Darstellung derartiger Ereignisse gegenüber der Biographie eine geringere Bedeutung hat, ist mit der Wiedergabe von geschichtlichen Ereignissen kein wissenschaftlicher Anspruch verbunden. Das hat dann zur Folge, dass bei der Gewinnung von Daten nicht auf wissenschaftliches Material im originären Sinn rekurriert wird, sondern eine Bezugnahme auf Informationsquellen erfolgt, die in allgemeiner Weise jedem, der über ein Internet verfügt, zugänglich sind. Entsprechende Quellenangaben erfolgen am Ende des Buches.

Zur Gültigkeit von biographischen Aussagen

Äußern sich Personen über ihre Vergangenheit, so können Aussagen falsch oder unvollständig sein:

– Es können Informationen nicht gebracht werden, die zum Verständnis des Gesagten erhellend sind, weil die Person sie nach den vielen Jahren einfach vergessen hat. Des Weiteren können Aussagen unterbleiben, weil sie einen in ein schlechtes Licht rücken, was man vermeiden möchte.

– Aussagen können Erlebtes verklären, d. h. man stellt ein Ereignis positiver dar, als es zu der damaligen Zeit erlebt wurde ("Die gute alte Zeit").

– Es kann ebenfalls etwas hinzugefügt werden, um sich vor dem Interviewer positiv darzustellen.

– Schließlich trägt auch der Inhalt der Fragen zu einer selektiven Auswahl von Aussagen bei: Interviewte können nur darüber berichten, wonach sie gefragt werden. Ausgeblendet bleiben Sachverhalte, nach denen nicht gefragt worden ist.

– Motive vergangenen Handelns können im Lichte der Gegenwart uminterpretiert werden.

Die Gültigkeit von Aussagen ist so z. B. nicht gegeben, wenn eine Person von ein und demselben Ereignis widersprüchliche Aussagen tätigt oder wenn der Wahrheitsgehalt einer Aussage aus anderen Gründen zweifelhaft ist. Macht man die Person hierauf aufmerksam, lässt sich unter Umständen ein Gültigkeitsdefizit beheben. Desgleichen lassen sich Aussagen überprüfen, wenn Personen zur gleichen Zeit und am gleichen Ort mit der Person zusammengelebt haben und hierüber noch berichten können. Im vorliegenden Lebenslauf machte so hinsichtlich bestimmter Ereignisse meine Tante mütterlicherseits als Zeitzeugin Aussagen und ihre Äußerungen wurden denjenigen meiner Mutter gegenübergestellt. Desgleichen traten als zusätzliche Zeitzeugen im vorgenannten Zusammenhang meine Schwester und meine eigene Person auf. Es erfolgen so Anmerkungen von Zeitzeugen.

Schlussendlich bedeuten die oben erwähnten Sachverhalte auch, dass die Selbstwahrnehmung einer Person nicht der Wahrnehmung entsprechen muss, die andere Personen von ihr haben. Zugleich wird so nahegelegt, dass es sich bei der vorliegenden Biographie nicht um eine wirklichkeitsgetreue Abbildung eines Lebenslaufs handelt. Vielmehr stellt die Biographie eine subjektive, von bestimmten Motiven geleitete Sichtweise von vergangener Wirklichkeit dar: Die Person präsentiert sich unter anderem so, wie sie von anderen gesehen werden möchte.

Zu guter Letzt soll noch darauf verwiesen werden, dass das sinngemäße Zusammenfassen von Äußerungen meiner Mutter ebenfalls eine Fehlerquelle darstellen kann: Der von mir angenommene Sinn muss nicht dem von meiner Mutter gemeinten Sinn entsprechen.

Wenngleich also Skepsis hinsichtlich der wirklichkeitsgetreuen Abbildung des Lebenslaufs vorliegt, so beziehen sich die Aussagen meiner Mutter gleichwohl auf für sie bedeutsame Lebensereignisse, die meines Erachtens von ihr zum Teil sehr offen auch bewertet und detailliert beschrieben wurden.

Biographie-Themen

Nimmt man auf den Lebenslauf einer Person Bezug, so stellt sich die Frage, welche Lebensphasen man bilden soll: Von welchen Gesichtspunkten soll man sich bei deren Wahl leiten lassen? Lässt man sich von entwicklungspsychologischen Gesichtspunkten leiten, so kann man (ganz) grob die Kindheit vom Heranwachsen und vom Erwachsenensein unterscheiden mit ihren je spezifischen Anforderungen (Lebensereignissen). Des Weiteren lassen sich Lebensphasen einteilen hinsichtlich gesellschaftlicher Ereignisse, die ein Leben entscheidend verändern können. Im Folgenden wird Bezug genommen auf eine Kombination vorgenannter Gesichtspunkte.

Das bedeutet dann, dass im Einzelnen nach folgenden Phasen eingeteilt wurde:

– Meine Mutter hat die ersten Lebensjahre (1928 – 1939) und damit ihre Kindheit in Luxemburg verbracht (Teil I).

– Sie siedelte sodann mit der Familie von Düdelingen nach Oberhausen im Oktober 1939 über und war zwischenzeitlich im Aussiedlerheim in Mettmann und bei Verwandten. Der Prozess der Übersiedlung wird als Zwischenphase behandelt zwischen dem Verlassen der alten und dem noch nicht Ankommen in der neuen Heimat (Teil II).

– Als eine weitere einschneidende Lebensphase wird das Leben im Zweiten Weltkrieg behandelt, das ein normales Weiterleben schwer möglich machte. Bezug genommen wird so auf Erinnerungen meiner Mutter hinsichtlich des Lebens zur Zeit zwischen September 1939 und Mai 1945 und auf die Nachkriegszeit bis 1948 (Teil III).

– 1948 lernte meine Mutter meinen Vater kennen. Es folgte die Hochzeit ein Jahr später und die Geburt der Kinder 1950 und 1951. Es entwickelt sich ein Ehe- und Familienleben (Teil IV).

– Eine weitere einschneidende Phase beginnt, als die Kinder Anfang und Mitte der siebziger Jahre das Haus verlassen und so die Eheleute alleine auf sich gestellt sind; zudem tritt mit der Pensionierung des Ehemannes Ende der siebziger Jahre eine weitere bedeutende Veränderung ein (Teil V).

– Schließlich verändert sich die Lebenssituation meiner Mutter noch einmal dramatisch mit dem Tod ihres Ehemannes 2004 (Teil VI).

Es fällt bei den Interviews hinsichtlich der Lebensphasen auf, dass meine Mutter umso häufiger Angaben machte, je weiter die Ereignisse zurücklagen. D. h., je mehr das Interview Erlebnisse in der Gegenwart zum Thema hatte, desto spärlicher fielen die Informationen aus. Das mag damit zusammenhängen, dass die Kindheits-, Jugend- und frühe Erwachsenenzeit durch die Übersiedlung von Luxemburg nach Deutschland, der nachfolgende Zweite Weltkrieg und die Nachkriegszeit eine ereignisreiche Zeit war.

Beziehen sich die mit meiner Mutter geführten Interviews auch hauptsächlich auf einzelne Lebensphasen, so wird zum Abschluss auf ihre Einstellung zu Beziehungen Bezug genommen (Teil VII)

Mitarbeiter der Biographie

Wenn die Frage beantwortet werden soll, wer die Autoren dieser Biographie sind, dann ist zunächst auf meine Mutter zu verweisen, die sich für einen längeren Zeitraum als Befragte zur Verfügung gestellt hat und so erst diese Biographie möglich machte.

Des Weiteren ist neben meiner eigenen Person meine Frau als eine weitere Autorin zu erwähnen, da sie mit mir zusammen die durch das Interview gewonnenen Daten verarbeitet hat. Zudem hat sie in zeitraubender Weise das gesamte Interview in eine schriftliche Fassung gebracht und noch nach der Fertigstellung der Biographie Korrektorats- und Lektoratsaufgaben übernommen. Ohne ihre Mühen wäre das Buch nicht zustande gekommen.

Schließlich sind in diesem Zusammenhang noch meine Tante und Schwester zu erwähnen, die mir Fotografien meiner Mutter zur Verfügung stellten. Gleichzeitig gaben sie zusätzliche Hinweise, die die Biographie ergänzten und modifizierten (siehe hierzu Anmerkungen).

Nutzen der Biographie

Das Buch stellt eine Zeitgeschichte "von unten" dar, d. h. aus der Sicht einer Arbeiterfrau, in der politisch bewegten Zeit vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg. Diese Epoche ging auch mit einer persönlichen Migrationserfahrung einher. Der Leser erhält einen detaillierten Einblick in die alltäglichen Lebensverhältnisse, die sich sehr von unserer heutigen Lebenswelt unterscheiden.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Teil I Kindheit in Luxemburg 1928 – 1939

Teil II

Die Übersiedlung von Luxemburg nach Deutschland 1939

Teil III

Kriegs- und Nachkriegszeit 1939 – 1948

Teil IV

Ehe- und Familienleben 1948 – 1973

Teil V

Leben ohne Kinder und Pensionierung des Ehemannes

1973 – 2004

Teil VI

Der Tod des Ehepartners 2004 – 2013

Teil VII

Ein Gespräch mit meiner Mutter über Beziehungen zu anderen

Abschluss

Nachbetrachtung

zusätzliche Anmerkungen von Zeitzeugen

Quellenangabe historische Daten

Autoren

Teil I
Kindheit in Luxemburg: 1928 - 1939

Düdelingen in Luxemburg

Das Geburtsland meiner Mutter ist das Großherzogtum Luxemburg, mit einer gesamten Staatsfläche von 2.586,4 Quadratkilometern (zum Vergleich: Deutschland 357.375,62 Quadratkilometer) einer der flächenmäßig kleinsten Staaten der Erde, welches eine Grenze mit Deutschland im Osten, Frankreich im Süden und Belgien im Westen unterhält. 1930, zur Zeit, als meine Mutter zwei Jahre alt war, betrug die Einwohnerzahl 299.782 (zum Vergleich: Das Deutsche Reich hatte zum selben Zeitpunkt 62.411.000 Einwohner). Luxemburg hat einige wenige Städte (derzeit 12) mit der Hauptstadt Luxemburg als größtem Ort. Die größeren Städte befinden sich dabei im Südwesten des Landes als Folge der Konzentration der Eisen- und Stahlindustrie in diesem Gebiet. Unter ihnen ist dann auch der (ehemalige) Schwerindustrieort Düdelingen, an der französischen Grenze liegend.

Das am Ort ansässige Industrieunternehmen ARBED, dem Hochöfen, Stahl- und Walzwerke gehörten, stellte 1984 die meisten Produktionsbereiche, bis auf das Kaltwalzwerk, ein: Von damals 3.000 Beschäftigten ging die Zahl auf 300 (2002) zurück.

Düdelingen wurde aufgrund einer schnell anwachsenden Bevölkerung als Folge der Gründung eines eisenerzeugenden und -verarbeitenden Unternehmens (Eisenhütten-Actien-Verein Düdelingen) 1907 der Titel "Stadt" verliehen wurde: Zählte der Ort vormals als früheres Bauerndorf ca. 1.500 Einwohner, so waren es 1890, zu Beginn der Industrieansiedlung, 5.000, 1910 dann 10.000 und schließlich 1930 14.763. Das Anwachsen der Bevölkerung erfolgte damals hauptsächlich durch ausländische Arbeitskräfte, die zunächst aus Deutschland, Lothringen und Belgien kamen, später, d. h. um 1891, begann eine massive Einwanderung von Italienern. Die Arbeitersiedlungen entstanden dabei unmittelbar in der Nähe des Stahlwerks.

Ende der zwanziger Jahre war auch die Zeit des Beginns der Weltwirtschaftskrise, die eingeläutet wurde mit dem Börsen-Crash im Oktober 1929 in New York und von der besonders die Vereinigten Staaten von Amerika und Deutschland betroffen waren.

Die (einheimische) Arbeitslosenquote blieb in Luxemburg relativ niedrig, da von

Entlassungen hauptsächlich Gastarbeiter betroffen waren.

Das wirkte sich im Deutschen Reich in der Weise aus, dass die Industrieproduktion 1932 nur noch 57,2 % der Stärke von 1928 hatte und die Einkommen der Lohn- und Gehaltsempfänger wie auch der Unternehmen sich ebenfalls um 40 % verringerten. Zum Jahresende 1931 gab es so 6 Millionen Arbeitslose, davon 3,5 Millionen Dauerarbeitslose. Während die Vereinigten Staaten auf die Wirtschaftskrise mit staatlicher finanzieller Unterstützung reagierten, versuchte die Reichsregierung unter dem Kanzler Brüning der Krise durch eine rigorose Sparpolitik, staatlich verordnete Lohnsenkungen und einen Preisstopp zu begegnen, wenngleich dieses erfolglos war. So gab es in kurzer Zeit mehrere Regierungsbildungen. Letztlich profitierte die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei von der erfolglosen Bewältigung der Wirtschaftskrise. Bekam diese 1928 bei der Reichstagswahl nur 2,8 %, so erzielte sie 1930 schon 18,3 % und wurde schließlich im Juli 1932 mit 37,2 % Wahlsieger, obwohl sie bei der nachfolgenden Wahl im November des gleichen Jahres um 4,2 % verlor. Am 30.1.1933 ernannte dann der Reichspräsident Hindenburg Adolf Hitler, den Führer der NSDAP, zum Reichskanzler, wenngleich in einer Koalitionsregierung mit der Deutschnationalen Volkspartei.

Mit der Ernennung von Adolf Hitler zum Reichskanzler begann die rasche Abschaffung der parlamentarischen Demokratie und die Etablierung einer Diktatur. Schon zwei Monate später, d. h. am 24.3.1933, schaffte sich das Parlament, welches in einer Demokratie die Gesetzgebungsfunktion hat, quasi selbst ab, als es einem Ermächtigungsgesetz (bis auf die Sozialdemokratische Partei) zustimmte, demzufolge die gesetzgebende Gewalt für einen vorgesehenen Zeitraum von vier Jahren auf Adolf Hitler übergehen sollte. Zu diesem Zeitpunkt war die Kommunistische Partei Deutschlands schon am 15.3.1933 nach dem Reichstagsbrand vom 27.2.1933 verboten worden. Dem folgte in den Monaten Juni und Juli die Selbstauflösung der anderen Parteien (mit Ausnahme der SPD), die so wohl einem Verbot zuvorkamen. Im Mai des gleichen Jahres wurden die Gewerkschaften zerschlagen. An deren Stelle trat die Deutsche Arbeitsfront, in der die Berufsverbände der Angestellten und Arbeiter durch staatliche Anordnung zusammengeführt wurden. Gleichzeitig begann eine Gleichschaltung der öffentlichen Medien, und es wurde ein Gesetz zur Gleichschaltung der Länder mit dem Reich verabschiedet (7.4.1933).

Die Zahl der Arbeitslosen verringerte sich von 1933 bis 1937 von 6 auf knapp eine Million Arbeitslose. Erreicht wurde das über staatliche Investitionen bei der Reichsbahn, Reichspost und beim Autobahnbau; Steuererleichterungen für Landwirtschaft, Wohnungsbau und der Automobilindustrie; staatliche Förderung von Beschäftigungsmöglich- keiten im zunächst noch freiwilligen Arbeitsdienst und bei kommunalen Notstandsarbeiten; Ehestandsdarlehen für Arbeitnehmerinnen, die heiraten und ihren Arbeitsplatz aufgeben wollten. Hinzu kam eine deutliche Erhöhung von Militärausgaben. Beliefen sich diese im Jahr 1933 auf 720 Millionen Reichsmark, so stiegen sie bis 1937 auf 10,8 Milliarden Reichsmark an.

Mit der Nazi-Diktatur verbinden sich bis 1939 verschiedene Ereignisse:

Die Errichtung von Konzentrationslagern für politisch unliebsame Gegner wie Kommunisten und Sozialisten, Pfarrer, Sinti und Roma, Homosexuelle und geistig Behinderte (das Euthanasieprogramm). Ein besonderes Augenmerk wurde auf die Entrechtung (Nürnberger Rassegesetze von 1935), Enteignung, Vertreibung und Ermordung von 6 Millionen Juden (bis zum Kriegsende 1945) gelegt.

Mit der zunehmenden militärischen Aufrüstung einher gingen militärische Ereignisse wie die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht 1934, der Einmarsch der deutschen Truppen in das entmilitarisierte Rheinland 1936, in Österreich 1938, in das Memelgebiet (Slowakei) 1939 und der Angriff auf Polen im selben Jahr, der eine Kriegserklärung Großbritanniens und Frankreichs an Deutschland zur Folge hatte.

Kunst und Kultur wurden im Dienste des NS-Regimes und seiner Rassenideologie gestellt. 1936 erging ein totales Verbot jeglicher Kunst der Moderne. Viele Wissenschaftler, insbesondere jüdischer Abstammung, verließen das Deutsche Reich.

Rundfunk und Film dienten einerseits der Unterhaltung (zwischen 1932 und 1939 verdreifachte sich die Zahl der Rundfunkteilnehmer von vier auf zwölf Millionen; gingen in der Saison 1934/1935 rund 250 Millionen Menschen in die Kinos, so waren das fünf Jahre später eine Milliarde), waren zugleich jedoch auch Mittel der Massenpropaganda. Die Radiosendungen boten überwiegend Unterhaltungsmusik und Tanzschlager. Hinsichtlich des Filmangebots bestand eine Auswahl zwischen hundert Unterhaltungs-, Liebes- und Abenteuerfilmen im Jahr. Leinwandstars waren u. a. Heinrich George, Heinz Rühmann, Marika Rökk, Hans Albers Zarah Leander, Emil Jannings, Willy Fritsch, Willy Birgel und Hans Söhnker.

1936 fand in Berlin die XI. Sommer-Olympiade statt. Mit 49 teilnehmenden Nationen und 3.961 Athleten wurde ein neuer Teilnehmer- und Besucherrekord aufgestellt.

Das Wohnumfeld meiner Mutter

Meine Mutter wurde 1928 in Düdelingen geboren. Etwa um 1930 bezogen die Eltern dabei ein kleines Häuschen in einer Gasse mit sechs Häusern, an der heute Rue de la Liberation (zur damaligen Zeit hieß sie Hüttenstraße) genannten Hauptstraße gelegen, die sowohl westlich nach Frankreich, d. h. in den Ort Volmerange, führt und in entgegengesetzter Richtung ins Zentrum von Düdelingen. Die Gasse war in der Nähe des Stahlwerks, dem Arbeitsplatz des Vaters meiner Mutter, im Westen von Düdelingen, eines Gebiets, das mit "Schmelz" bezeichnet wurde.

"Beschreib` noch mal kurz, wie Ihr gewohnt habt. Wie Du schon gesagt hattest, war das abseits von einer großen Straße in einer Sackgasse."

"Sagen wir mal, hier ist die Hauptstraße, die ging auch zur Hütte hin, wo mein Vater gearbeitet hat ... das waren nur ein paar Schritte, 5 Minuten brauchte der nur. Und dann von der Straße aus ging so eine Gasse etwas schräg runter ... Von der Straße konntest du die sechs Häuser nicht sehen ... Du musstest runter die Gasse, und dann waren da drei Häuser, die aneinandergebaut waren, und dann bist du so rumgegangen, dann waren da die anderen drei, da haben wir gewohnt."

"War das so eine Art von Sackgasse, wo Ihr wohntet?"

"Ja, da konntest du nicht mehr weiter. Da war ja nichts, man musste immer wieder nach oben gehen. Wir haben immer gesagt „das Gässle“. Das war so ein kurzes Stück."

"Wie viel Meter ungefähr, 50 oder 100 Meter?"

"Das war nicht so lang."

"Aber diese Sackgasse war eine ausgebaute Straße?"

"Ich glaube, die war gepflastert."

"Standen an der Hauptstraße auch noch Häuser?"

"An der Hauptstraße standen auch noch drei Häuser, deren Rückwände an unsere Gasse grenzten."

"Waren die Häuser der Gasse denn von Feldern umgeben?"

"Nein, überhaupt nicht. Da waren ja wieder, wenn man die Hauptstraße weitergegangen ist, andere Häuser. Weiter unten, wo wir gewohnt hatten, hat man keine anderen Häuser gesehen. Das war die einzige Gasse, die da runterführte. Da hat man natürlich ruhig gewohnt. Man hat von der Straße überhaupt nichts mitbekommen. Von unserem Haus am Ende der Gasse haben wir als Kinder öfter mal auf dem Dach gestanden und haben dann runter geguckt – da führte ein Weg, wo die Leute zur Arbeit gingen. Da konnte man die beobachten, wie die da hergingen."

Unmittelbar an die Häuser der Gasse grenzte ein umzäunter Garten, der zu einer Bäckerei gehörte, die an der Hauptstraße ihren Standort hatte.

"Hattet Ihr einen Garten?"

"Nur der Bäcker hatte einen großen Garten, der an den drei Häusern, die an der Hauptstraße standen, vorbeiging. Den hatten wir immer so vor Augen. Wenn wir rausgingen oder am Fenster guckten, dann guckten wir immer in den Garten rein. Meine Schwester und ich haben oben in der ersten Etage gewohnt, und dann hat man uns auch schon mal Äpfel aus dem Garten zugeworfen ..., wenn wir am Fenster gestanden haben. Das haben meine Eltern gar nicht mitgekriegt."

Insgesamt betrachtet war das häusliche Umfeld von Grün umgeben.

"Ich hab‘ so den Eindruck, dass Düdelingen im Grünen liegt. Hier in dem Buch über Dudelange sind Wiesen zu sehen."

"Jede Straße, z. B. die Adolfstraße und die Schäfersgasse, wenn du die durchgehst und kamst oben aus, dann kamst du ins Grüne rein. Da sind wir oft genug, wenn wir Ferien hatten, rauf gelaufen und haben uns da aufgehalten und haben da gespielt. Da konntest du rumlaufen und toben. Da war alles grün. Immer am Ende von der Straße, jedes Mal, von jeder Straße war was Grünes."

In der Nähe ihres Wohnorts befand sich dann auch schon der französische Wald.

"Mir ist aufgefallen, dass Ihr sehr nahe am Stahlwerk und nahe an der französischen Grenze gewohnt habt."

"Das war noch ein Stück, man musste noch an dem Stahlwerk vorbei, aber wir hatten oben am Ginsterberg den französischen Wald, und da konnte man durchlaufen, und dann kam man in Frankreich aus."

In der unmittelbaren Umgebung des Elternhauses meiner Mutter gab es nur wenige Geschäfte.

"Gab es denn in der Nähe noch andere Geschäfte?"

"Da war jetzt noch, wenn du die Gasse raufkamst, direkt an der Ecke ein Metzger. Auf der anderen Seite waren zwei Lebensmittelgeschäfte, und weiter runter an der Ecke auf der anderen Seite war auch noch eins. Wir hatten hauptsächlich Lebensmittelgeschäfte und Wirtschaften, und ein Hotel war da."

Um größere Einkäufe zu tätigen, mussten die Eltern ins Zentrum.

"Was gab’s da in diesem Zentrum?"

"Ja, da waren dann Geschäfte, Hauptgeschäfte auch .... Die größeren Geschäfte, Bekleidung und so, da musste man schon dahin."

"Also Bekleidungs-, Textilgeschäfte. Und was gab es sonst noch so an Geschäften?"

"Das war es dann wohl, so wie ich mich erinnern kann. Ich bin ja wenig dahin gekommen, weil es schon eine Strecke zu laufen war. Damals ist man ja gelaufen."

"Wie lange musste man laufen bis dahin?"

"So 20 Minuten oder vielleicht auch eine halbe Stunde. Das war auf halbem Weg, wenn ich zur Schule ging, und dann ging das ja noch ein ganzes Stück weiter."

"Und wie musstest Du da laufen?"

"Immer die Hauptstraße entlang, immer nur eine gerade Richtung, so viel ich weiß. Keine Nebenstraße ... Dann kam man dann in die Ortsmitte ... Da war dann auch die Kirche."

Insgesamt kommt meine Mutter zu der Einschätzung, wenn sie Düdelingen von heute mit Düdelingen von damals vergleicht, dass sich vieles verändert hat.

"Ich habe Dir ja das Buch „Düdelingen, Portrait einer Stadt“ mitgebracht. Wenn Du Dir das so anguckst, was fällt Dir spontan dazu ein? Wenn Du dann an früher denkst, was fällt Dir da auf im Vergleich zu heute?"

"Früher war alles anders. Die Stadt war kleiner, es waren weniger Einwohner, und die Hütte ist nicht mehr da. Das ist ja alles da weggekommen ... Hat sich alles viel verändert. Da sind Parks und große Anlagen dazugekommen und verschiedene Häuser auch. Alles moderner. Die sind auch mit der Zeit gegangen, das ist doch klar. Da gibt es so einiges, da wird musiziert, da sind extra Räume, da ist alles Mögliche, was da jetzt gemacht wird. Das hat mich ja jetzt auch erstaunt, aber es ist ja auch 70 Jahre her. Kulturangebote, da habe ich von früher überhaupt keine Erinnerung. Das war auch nicht da. ... Nein, wie gesagt, ich hab‘ das ja alles gar nicht mehr wiedererkannt, weil sich das da so verändert hat."