Ein Mann liest Zeitung

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Ein Mann liest Zeitung
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Inhalt

[Cover]

Titel

I. Kapitel

Editorische Notiz

Anmerkungen

Wilfried Weinke Von der »Majestät der Sprache«

Danksagung

Bildteil

Bildnachweis

Autorenporträt

Herausgeberporträt

Kurzbeschreibung

Impressum


Ein Mann liest Zeitung

I.

Es ist eine Schande.« Gewiss keine arge Schande, sondern nur eine unwesentlich kleine und noch dazu die ganz persönliche eines durchaus gleichgültigen Mannes. Hätte Leonhard Glanz jemals über der Zeiten große Schande nachgedacht, in der er seines Lebens Mannesjahre verbrachte, diese Jahrzehnte nach dem mörderischen Ersten Weltkrieg, so hätte er gewusst, dass eben dieses Wort Schande ein Superlativ im Geschehen der Welt ist. Da aber Leonhard Glanz gerade jetzt zu eben diesem Denken kommen sollte, so ist es unsere Aufgabe, ihm auf den krummen und ganz systemlosen Wegen zu folgen, die ihn dahin kommen lassen. Nehmen wir diese Begleitung auf verknäuelten Wegen als eine Pflicht auf uns, so enthebt uns das der anderen, peinlichen Pflicht, selbst über die infame Schande unserer Tage nachzudenken, die so penetrant zum Himmel stinkt, dass in ihrer Pestatmosphäre längst die mühselig aufgezogene, allgemeine, menschliche Kultur verdorben ist, gleich für Blütenkeimlingen unter schmierigem, giftigen Mehltau. Denn bedächten wir einmal des Tages, des eben gleichen Tages Schande – da ist keine Ausnahme, keine, – so müssten wir weinen ob dieses niederträchtigen Elends. Und weinten wir, so müssten wir erblinden, denn der Tränen wäre kein Ende.

Aber die Welt ist schön in der Pracht ihre Farben, der Unendlichfältigkeit ihrer Gestalten. Strahlende Welt, wohlgeschaffene, formvollendete Welt. Dass wir dich sehen. Dass wir dich schauen. Wir haben ja keine Lust, uns blind zu weinen. Wer tut uns das? Hinweg mit ihm. Nieder mit ihm. Schlagt ihn, schlagt, schlagt ihn tot. Aber gerade das hatten wir in dem mörderischen Weltkrieg getan. Zehn Millionen Menschen hatten wir ja totgeschlagen. Es müssen die Falschen gewesen sein. Denn sahen wir danach die Welt in ihrer Pracht und ihrer Schönheit? Nichts sahen wir in des Alltags Grau und das Wochenende der genau bemessenen Freizeit ist nur ein Abziehbild. Wir hatten die Falschen erschlagen. Und nun stecken wir in der Zeiten Schande. Bis an den Hals. Tiefer. Bis an die Nase. Tiefer. Bis über die Augen.

»Es ist eine Schande«, sagte der gleichgültige Mann Leonhard Glanz halblaut vor sich hin. Und er meinte damit den niemanden interessierenden Umstand, dass er sich schon am frühen Morgen in ein Kaffeehaus begab, um dort so oder so seine Zeit zu vertun. Allerdings, dieser sein früher Morgen war schon vorgerückter Vormittag. Leonhard Glanz war ein Spätaufsteher. Nicht von jeher und aus Gewohnheit. Nein, früher war er sogar immer sehr zeitig aufgestanden. Vielleicht werden wir von diesem Früher noch etwas erfahren, wo Leonhard Glanz noch seinem Beruf nachging, der zwar nichts mit Berufung zu tun hatte, aber eine lebhafte Beschäftigung war. Beschäftigung, Geschäft, Geschäft, Geschäftigkeit, Heftigkeit, Heft, Haft, Haft, Haft.

Die Spirale, in der sich da eben das Denken des Leonhard Glanz bewegte, löste eine frostige Ängstlichkeit in ihm aus. Er sah scheu zur Seite, vergewisserte sich aber sogleich, dass die ankriechende Angst ganz grundlos sei. Denn hier war die warme Sicherheit, die Geborgenheit in einem nicht eleganten, aber anheimelnden Kaffeehaus. Und ein kleiner, rundlicher, steifbeiniger Wirt zog ein begrüßendes, breites Schmunzeln auf, das ihm leichter fiel als eine Verbeugung und das den Gästen das Gefühl familiärer Zugehörigkeit gab. Kein Lächeln, das wie Sonnenschein über eine Wasserbahn zieht, nein, ein rechtes, breites Schmunzeln, das zerläuft, wie ein Fettauge auf dünner heißer Suppenbrühe.

Leonhard Glanz setzte sich in die Ecke eines mit der Zeit höchst nachgiebig gewordenen Plüschsofas. Man meint zu sitzen, aber nein, noch nicht. Jetzt erst. Ein klein wenig zu tief hinter dem Marmortisch. Leonhard Glanz fühlt sich wieder gerechtfertigt, vor sich selbst und vor der Welt. Er ist ein Mann moralischer Grundsätze. Freilich bedurfte es nur des rundlichen Wirtes schmalzgebackenen Schmunzelns, um das säuerliche Bedenken zu beheben. Und so, im Vollgefühl seiner persönlichen Lebensrechte, bestellt sich Leonhard Glanz beim Kellner einen Braunen, mit Schlagobers, dazu frische, blonde Semmeln und Zeitung. Natürlich Zeitung. Der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Man muss etwas auch für das Geistige tun, obwohl es Leonhard Glanz nicht zu sehr auf das Geistige ankommt, aber man muss doch wissen, was in der Welt eigentlich gespielt wird. Also Zeitung.

Für das Morgenfrühstück ist es wohl schon reichlich spät. Die Stadt hat schon um Stunden früher mit ihrer Arbeit begonnen. Freilich, Leonhard Glanz hat jahrzehntelang um diese Tageszeit auch schon ein tüchtiges Teil Betätigung hinter sich gehabt. Tätigkeit könnte man allenfalls noch sagen, wenn auch ihr Tür selbst es Arbeit nannte. Es war aber keine Arbeit und es wird sich ergeben, dass Leonhard Glanz überhaupt keine Arbeit verstand, aber auch ganz und gar keine.

So braucht also dieser späte Frühstücksgast vor sich selbst in dieser Beziehung keine moralischen Bedenken zu haben. Der Wirt? Wir entsinnen uns des leckeren Schmunzelns. Der Kellner? Ha, der Kellner. Leonhard Glanz hatte gelernt, dass ein Kellner für den Gast kein gleichberechtigtes Wesen sein könne. Ein Kellner, was ist schon ein Kellner. Bitte sehr. Bitte gleich. Einen weißen Kaffee, braunen Kaffee, schwarzen ohne. Frische Brötchen. Mit Butter. Bitte sehr. Ohne Butter. Wie Sie wünschen. Bitte nur Platz zu nehmen. Das Messer ist stumpf. Hier ein besseres Messer. Ein besserer Esser. Sofort. Sogleich. Ein Glas Wasser. Im Augenblick. Mit einer Fliege darin. Ganz ohne? Bitte sehr, ganz wie der Herr befehlen. Ein Zöllner. Ein Kölner. Ein Kellner. Lächerlich. Ein Kellner ist für Leonhard Glanz kein Wesen. Natürlich nur in seiner Eigenschaft als Kellner. Sonst? Ich bitte Sie. Im Zeitalter des Humanismus. (Oder wie nennt man es doch? Humanismus? Natürlich Humanismus. Humanismus ist ein gutes Wort.) Allerdings hat Leonhard Glanz vor gewissen Kellnern in sehr teuren Restaurationen immer eine gewisse Angst gehabt. Sie waren so vornehm, diese Kellner. Man weiß auf einmal gar nicht mehr, wie man eigentlich Messer und Gabel anfassen soll. Was? Frischen Spargel soll man mit der Hand …? Was Sie nicht sagen.

»Ober, wo bleibt denn mein Kaffee?«

Ist schon da. Bitte sehr. Der Kaffee rechts, die Brötchen links. Die Butter in der Mitte. Die Zeitung. Ist schon da, die Zeitung. Die Morgenzeitung von gestern Abend. Das Mittagsblatt von heute früh. Die Zeitung von morgen. Wie der Herr befehlen.

Bitte sehr.

Wieviel ist eigentlich die Uhr? Wie bitte? Das will ich gar nicht wissen. Wozu brauche ich das zu wissen? Für mich ist es früh am Morgen. Sieben Uhr, acht Uhr. Neun, zehn, elf. Wo ist der Unterschied. Der Tag ist noch lang genug. Der Tag wird sogar noch viel zu lang werden. Für einen, der mit der Arbeit fertig ist, wenn er aufgestanden und sich angekleidet hat. Leonhard Glanz hat nichts zu tun.

Elf Uhr vormittags und nichts zu tun? Elf Uhr vormittags? Herr Glanz, rufen Sie doch bitte mal die Bank an, es fehlen noch zweitausend Mark für die Wechsel, die wir heute einzulösen haben. Herr Glanz, wollen wir die Offerte von Liverpool nun acceptieren? Wir müssen bis zwölf Uhr gedrahtet haben. Herr Glanz, draußen ist der Vertreter von der oldenburgischen Jute-Sack-Fabrik. Herr Glanz hin, Herr Glanz her. Die Bank, die Post, die Expedition. Melden Sie mal dringendes Gespräch mit Oldörp in Lübeck an, ich muss den alten Oldörp sprechen. Fragen Sie mal bei der Paketfahrt an, ob die »Washington« noch für hundert tons Raum hat. Wo ist eigentlich mein Tintenstift? Mein Tintenstift, Tintenstift?

Elf Uhr vormittags. Und Leonhard Glanz sitzt beim Morgenkaffee. Und es ist ganz egal. Es ist sogar schon Viertel nach.

Ganz egal.

Warum? Ach so, Sie meinen wieso? Leonhard Glanz hat doch gar kein Geschäft mehr. Leonhard Glanz hat doch gar keine Beschäftigung mehr. Hat keine Tätigkeit und nichts zu tun. Leonhard Glanz hat überhaupt nichts mehr. Nicht einmal Geld. Keine Angst. Das Frühstück wird er bezahlen. So viel hat er noch. Für zwei Wochen. Sagen wir mal, für drei Wochen. Wenn keine Mädchen dazwischenkommen, für vier Wochen. Was kosten hier wohl die Mädchen? Sagen wir, fünf Wochen im Höchstfall. Aber ist das Geld? Und dann, nach fünf Wochen und einem Tag? Leonhard Glanz hat nichts mehr. Garnichts. Leonhard Glanz ist ein Emigrant.

 

Vielleicht, vielleicht wird Leonhard Glanz, der Emigrant, zum ersten Mal in seinem Leben einen Beruf haben. Vielleicht. Wenn es auch vorläufig noch nicht danach aussieht. Kaffeehaussitzen und sonst alles egal Finden ist gewiss kein Beruf. Das wird einen Kampf geben. Da werden die Dinge aufeinander schmettern. Da werden die Trompeten blasen. Da werden sich die Riesen und Drachen in Harnisch werfen, auf in das Giftgas. Mit flatternden Fahnen und einstweilen noch haltender Bügelfalte. C-Dur und fortissimo. Leonhard Glanz hatte einmal eine Freundin, die spielte Klavier. Allegro moderato und so. Sie war blond und die Musik von Mendelssohn. Keine Ahnung hatte sie, was das für eine Rassenschande war. Mendelssohn und dann Leonhard Glanz. Als er sie zuletzt traf, zufällig auf der Straße, kam sie ihm mit hochgerecktem rechten Arm entgegen. Es war peinlich. Nicht zu sehr, weil Leonhard Glanz den »deutschen Gruß« der alten Römer ja nicht erwidern konnte, sondern weil sie – es war im heißen Sommer – eine farbige Seidenbluse trug und unter der Achsel war die Bluse feucht und die Farbe hässlich ausgeschwitzt. »Guten Tag«, sagte Leonhard Glanz, da fiel ihr erst das Rassenschänderische ihres Betragens ein. Der Arm fiel herunter, das eben noch lachende Gesicht zerfiel zu Angst. Sie blickte sich scheu um und ging schnurstracks in das nächste Haus. Es war der Laden der Beerdigungs-Gesellschaft St. Anschar. Pompöse Särge mit Beschlägen aus unechtem Silber standen in der Auslage. Es war das richtige Ende einer Liebschaft mit unechten Silberbeschlägen.

Aber nun endlich die Zeitung. Was liest ein Mann wie Leonhard Glanz zuerst in der Zeitung? Hinten, bei den Annoncen der Stellenmarkt. Allerdings wusste Leonhard Glanz aus nun bereits achttägiger Emigrantenerfahrung, dass ihn dieser Teil der Zeitung eigentlich am allerwenigsten anging. Er machte sich noch nicht strafbar, indem er die Rubrik der »offenen Stellen« las – die Überschrift schien ihm einen übelriechenden, medizinischen Beigeschmack zu haben. Hautkrankheit oder so –, aber er würde sich strafbar machen, wenn er sich um einen freien Arbeitsplatz bewarb. Emigranten dürfen keinen Arbeitsposten annehmen. Zwar gilt im Lande die Bibel. Sie findet mancherlei Auslegung. Je nachdem, ob das Kreuz dominierte, an dem einmal einer gestorben war, der gekommen war, um die Bibel zu erfüllen, oder der Kelch, in dem sein Blut aufgefangen worden war, oder gar die Doppeltafel, – Römisch I bis III und Römisch IV bis X – des Dekalogs jenes Volkes, das angab, besonderer Hüter der Bibel zu sein, dem Leonhard Glanz angehörte, das in dem Lande, aus dem er geflüchtet war, verrecken sollte und deswegen war Leonhard Glanz ja jetzt hier. Vertrieben aus dem Lande, aus der Stadt, aus dem Geschäft, das er doch vom Vater geerbt hatte. Was hat das eigentlich mit der Bibel zu tun? Achso. Ja.

Steht da nicht in der Bibel, dass der Mensch im Schweiß seines Angesichts sein tägliches Brot erwerben soll? Sechs Tage lang. Und nur am siebenten Tag soll er ruhen. Gilt das, oder gilt das nicht? Das gilt. Nur eben für Emigranten gilt es nicht. Gewiss, natürlich. Aber was wollen Sie denn? Hab ich was gesagt? Na, also. Die Bibel ist die Bibel. Und sie gilt auch auch für Emigranten. Darf ein Emigrant etwa morden? Darf er stehlen? Darf er lügen? Darf er falsch Zeugnis sprechen? Darf er begehren seines Nächsten Gut? Er darf es nicht. Die Bibel ist die Bibel.

Herr Glanz, Sie sind doch ein moralischer Mensch. Also was wollen Sie denn? Was haben Sie da auf einmal für merkwürdige Gedanken im Unterbewusstsein? Oder ist das schon gar kein Unterbewusstsein mehr? Das ist schon ein Zwischenbewusstsein. So rebellisches Zeug haben Sie doch früher nicht gedacht. Wie? Wenn man sich an zehn Fingern nachrechnen kann, an welchem Tage man seine Miete nicht wird bezahlen können, kein Frühstück, kein Mittagbrot, kein Abendessen. Was hat das mit der Bibel zu tun? Ich sage Ihnen, die Bibel ist die Bibel. Und was da steht, das steht. Nur der eine Satz da, von der Arbeit, der gilt nicht für Sie, Herr Glanz. Da ist eben eine Ausnahme. Weil Sie ein Emigrant sind, Herr Glanz. Bitte sehr. Tun Sie, was Sie wollen. Gehen Sie spazieren oder sitzen Sie im Kaffeehaus. Lassen Sie sich von der Sonne bescheinen oder werden Sie vom Regen nass. Werden Sie braun im Sommer, brechen Sie ein Bein beim Wintersport. Lesen Sie Bücher oder Zeitungen, spielen Sie Schach oder Billard oder Bridge, füttern Sie die Vögel im Park oder bohren Sie mit den Fingern in der Nase. Alles können Sie tun oder lassen. Nur das bisschen Arbeiten, Herr Glanz, nein, das dürfen Sie nicht.

Die Bibel, die Bibel, die Bibel. Von Emigranten steht nichts in der Bibel. Von der Wirtschaftskrise wird wohl eher etwas drin stehen. Aber von Emigranten? Ich weiß nicht. Übrigens da gibt es einen gelehrten Wunderrabbiner. Ich glaube in Munkacz oder so. Er trägt seidenen Kaftan und einen breiten Hut mit Pelzverbrämung. Vielleicht ist der, den ich meine, auch schon tot. Das macht nichts. Dann hat er sicher einen Sohn oder einen Schwiegersohn, der sein Geschäft geerbt hat. Wie? Geschäft mögen Sie nicht? Sie stoßen sich an dem Wort? Also sagen wir: einbringlichen Beruf. Der also den einbringlichen Beruf nebst der Würde und natürlich auch die Allwissenheit geerbt hat. Also den fragen Sie mal. Und der weise Wunderrabbi wird Ihnen bestimmt sagen und zeigen, was und wo es in der Bibel steht, dass die Emigranten nicht arbeiten dürfen. Nebst dem, was Ben Akiba dazu kommentiert hat und Meir ben Asarjo und der große Rambam. Denn der Wunderrabbi steht auf dem Boden der jeweils gegebenen Tatsachen. Jawohl, werter Herr Emigrant. Tatsache.

Mit dem großen Rabbi Löw, dessen Denkmal der Emigrant am neuen Rathaus gesehen hat, mit dem hat so ein Wunderrabbiner nichts zu tun. Komisch das Denkmal, wenn man in dieser Zeit aus Deutschland kommt. Der große jüdische Rabbiner mit langem Bart als Wahrzeichen vor dem Rathaus einer europäischen Hauptstadt. Wer war das noch? Der Mann, der den Golem besessen hat. Richtig, Paul Wegener hat das mal im Film gemacht. Einen künstlichen Menschen als Hausdiener. Eine billige Arbeitskraft, aber wahrscheinlich war der Anschaffungspreis sehr hoch. Sowas amortisiert sich nie. Die ganze Geschichte soll übrigens gar nicht wahr sein. Die Reste des Golems sollten im Dachspeicher der uralten Synagoge, der Altneuschul, aufbewahrt sein. Aber Egon Erwin Kisch soll da hineingestiegen sein, obwohl die jüdische Gemeinde es verboten hatte, und soll festgestellt haben, dass da nur Dreck und Staub war und gar kein Golem. Komisch, dieser Kisch und überhaupt. Ob der große Rabbi Löw wirklich vom Geheimnis um tot und lebendig wusste? Ob er eine Menschenform aus Lehm richtig lebendig machen konnte? Wahrscheinlich Blödsinn. Schade, dass es damals kein Patentamt gab. Dann wäre doch etwas darüber erhalten. Immerhin dieser Rabbi Löw, mit und ohne legendärem Geheimnis, hat einen irrsinnigen Kaiser in Bezirke des Menschlichen zu lenken gewusst. Das war schon was. Vielleicht war dieser wahnsinnige Kaiser sein Golem. Aber mit dem Wunderrabbi von Munkacz oder so, der eine direkte Telefonleitung zum lieben Gott hat und mit I-H-M jederzeit sprechen kann, über die wortwörtliche Lehre, damit kein Buchstabe um seinen Sinn komme und wenn auch der Geist darüber vom Satan geholt werde, mit diesem Wunderrabbi im seidenen Kaftan und dem gesunden Appetit und dem hohen Ansehen bei den Reichen der Gemeinde und im unnahbaren Respekt bei den Schnorrern, hat das nichts zu tun. Was heißt hier Rabbi Löw? Herr Glanz, Sie sind ein Emigrant. Und ein Emigrant ist ein Schnorrer. Sie sind noch keiner? Nun, Sie werden schon sehen.

O nein. Leonhard Glanz ist fest entschlossen, kein Schnorrer zu werden. Er nicht. Rasiert er sich nicht jeden Morgen und hat einen sauberen Kragen um, und eine Bügelfalte in der Hose – er legt sie jeden Abend zwischen Bettlaken und Matratze, das ist so gut wie bügeln – freilich, es kann einer glatt rasiert und alle Tage rasiert und doch ein Schnorrer sein, und es kann einer in ausgefranzten Hosen laufen und ohne Schlips und doch ein König sein. Einer, der Königreiche zu verschenken hat. Leonhard Glanz will kein Schnorrer sein. Ein König auch nicht. Dazu fehlt es ihm an Fantasie. Er will einfach arbeiten.

Ach so. Der Wunderrabbi von Munkacz oder so, der genau aus der Bibel nachweisen kann, warum ein Emigrant nach Gottes wohlweislichem und gerechtem Ratschluss nicht arbeiten darf. Sowas muss einem passieren.

Leonhard Glanz hat früher für die Leute die nicht arbeiten, nicht viel übrig gehabt. Was heißt keine Arbeit? Was heißt keine Stellung? Ein Mensch, der arbeiten will, findet immer etwas zu tun. Ein Mensch, der was kann, findet immer einen Posten. Sehen Sie mich an. In zehn Jahren habe ich noch keinen Tag gefaulenzt. Unberufen. Dreimal unter den Tisch geklopft. Aber Holz muss es sein. Dieses ist kein Holz. Dieses ist kein Schreibtisch im Kontor, mitten in der Kaufmanncity. Dieses ist ein etwas wackliger Marmortisch in einem Kaffeehaus. Immer wird man aus seinen Gedanken gerissen. In eine Wirklichkeit, die ja im Augenblick nicht gerade rauh ist, aber ein wenig dreckig, speckig und glänzend, wie eine abgetragene Hose.

Arbeiten verboten. Trotzdem. Die Rubrik der offenen Stellen kann man durchsehen. Das ist ja noch nicht verboten. Vielleicht findet sich die Möglichkeit irgendwo durch das Gitter des Gesetzes hindurchzuschlüpfen. Die einen, diesseits des Gitters, dürfen arbeiten, die anderen, jenseits des Gitters, dürfen nicht. Das ist wie im zoologischen Garten. Welches sind nun eigentlich die Bestien hinter dem Gitter und welches sind die Betrachter davor? Was denkt sich wohl so ein Löwe, wenn er die Menschen hinter dem Gitter sieht? Oder ein Elefant? Oder die Riesenschlange, die grässlich gebläht ein Kaninchen verdaut, wenn sie die an den dicken Glasscheiben zu weißlichen Flecken plattgedrückten Nasen sieht?

Wo ist diesseits und wo ist jenseits? Wer der Jäger ist und wer der Gejagte, das ist raus. Wer der Gefangene ist und wer der Gefangenenwärter, das ist auch heraus. Wer aber hat die Freiheit? Der da eingeschlossen ist, oder der da aufpassen muss, dass der Gefangene nicht ausbreche? Wer kommt nicht los von dem rasselnden Schlüsselbund? Affenkäfig am Sonntagnachmittag, mit tausend grinsenden Menschen davor. Worüber grinsen die eigentlich? Ist es das, was den Menschen menschlich macht, dass er lachen kann, dass er lächeln kann. Das kann kein Tier. Auch der menschenähnlichste Affe nicht mit dem Greisengesicht. Aber grinsen? Hamlet hat geirrt: »Dass einer lächeln kann und immer lächeln und doch ein Schurke sein.« Jener Claudius hat gegrinst. Lächeln tun die Beseligten.

Das Gitter. Das Gitter. Das Gitter. Wer ist davor und wer ist dahinter? Was hat der Wolf getan, dass man ihn fing? Mit Schlauheit, mit raffinierter Schlauheit, machten sie aus seiner Freiheit zu fressen nach seines Hungers Drang, eine heimtückische Falle. »Das ist der Wolf, der das Rotkäppchen gefressen hat und die Großmutter.« Immer hin und her. Hin und her. Am Gitter entlang. Hin und her. Und an der Wand, mit den Vorderpfoten ein karges Stück hinauf. Hin und her. Die Wand hüben, die Wand drüben sind abgewetzt, da, wo die Vorderpfoten über sie hinaus zu greifen so zwecklos bemüht sind. Hin und her. Und es ist garnicht wahr, dass er das Rotkäppchen gefressen hat und die Großmutter schon garnicht. Hin und her. Um Schauobjekt zu sein, zu einem bösen Märchen mit verlogener Moral, muss er hin und her. Manchmal bleibt ein Hund vor des Gitters anderer Seite mit stehen. Der gehört zu dem Menschen, der eben auch da steht. »Da ist der Wolf, der …« Der Hund aber kläfft. Kläfft sich heiser und geifert vor Wut. Er hasst den Wolf mit fantastischem Hass. Weil er selbst einmal ein Wolf gewesen. Wie lange ist das her? Hunderttausend Jahre oder so, als der Hund sich dem Menschen als Sklave ergab. Sich ihm verkaufte, für eine Handvoll abgenagter Knochen. Aber er weiß, dass er ein Sklavenvieh ist, ein Hund. Wie spricht der Hund? Wau, wau, für ein Stück Zucker. Gibt Pfötchen und macht hübsch, um einem Peitschenhieb. Du treue, poetische Hundeseele, um einen Teller Hundereis. Der da aber, hinter dem Gitter, der wilde Wolf, der kapituliert nicht. Wie weit, du poetische Hundeseele, reicht deine Welt? So weit, wie die Hundeleine oder der Pfiff des Herrn dich laufen lässt. Und keinen Schritt weiter. So wahr dein Herr die Macht hat, die Kraft und die Herrlichkeit, mit Zuckerbrot und Peitsche. Wau, wau und Heil. Der da aber, hinter dem Gitter, der da in seinem Kerker, der ist frei. Hin und her. Hin und her und träumt von der Steppe endloser Weite, von des Waldes dunkler Wärme, vom Strom, der aus Fernen kommt und in Fernen geht und der felsenhart ist, wenn der Frost klirrt und die Welt in ihrer Weiße noch weiter als sonst. Darum, weil er der Freie ist, muss der Sklave ihn hassen. Und muss ihn geifernd verbellen und verkläffen, dass die Steuermarke an seinem Halsband bebt. Du Hundeköter mit dem Maulkorb als deiner Zivilisation höchste Errungenschaft. Du Hund, du Hund, du Hund. Du und du und du. So ein Wolf im Käfig, der kann einmal ausbrechen. Und kann er es nicht, er bleibt, wer er ist. Aber ihr Hunde, ihr brecht nicht aus. Ihr kommt von der Leine nicht los, vom Maulkorb nicht und der Hundehütte. Und bewahrt dem Herrn das Haus und den Hof, mit Hab und Gut und Kisten und Kasten und das gekachelte Klosett. Für die Abfallknochen von seinem Tisch.

 

Leonhard Glanz. So wie du denkst, wirst du nicht durch das Gitter brechen. Mit einem Dreh nicht. Du wirst schon merken.

Ein Konzipient wird gesucht. Angebote mit Referenzen und Studiumerfolg sind da zu senden … Was ein Konzipient ist, weißt du nicht genau. Bei dir zu Hause nannte man das irgendwie anders. Studiumerfolg? Universitäten hast du nicht besucht. Aber die Hochschule des Lebens, meinst du. Erlebt hast du vielleicht so mancherlei. Aber ob du etwas gelernt hast? »Herr Ober«, diesmal in der Eigenschaft als Mensch, nicht als Kellner, »was ist hierzulande eigentlich ein Konzipient?« Ach so. Danke. – Kommt ja garnicht in Frage.

Junger Mann aus der Eisenbranche. Wie lange ist man heutzutage »Junger Mann«? Auf Grund der verbesserten sanitären Umstände bleiben die Menschen ja länger jung. Und dann der Sport. Leonhard Glanz hatte einmal ein Reitpferd für die Woche und eine Segelyacht für den Sonntag. Was hat er nun? Jedenfalls noch alle Haare auf dem Kopf. Und noch ein jugendliches Aussehen und Gehabe. Beinahe fünfzig? Wer sähe ihm das an? Junger Mann? Wenn weiter nichts ist. Freilich, er selbst hätte einen »jungen Mann« dieses Alters nicht mehr eingestellt. Schließlich hatte er ja ein Geschäft und keine Versorgungsanstalt. Aber Eisenbranche?

Exakter Rechner für Fakturierung wird gesucht. Ob er ein exakter Rechner ist? Das kann er wohl sagen. Hat er nicht immer sogar etwas mehr können, als exakt rechnen? Eine Ware kaufen mit 47 shilling und 6 pence und sie verkaufen mit 52 shilling und 3 pence, das wären genau zehn Prozent Nutzen. Aber die Börse muss man riechen können. Richtig einsteigen und richtig wieder aussteigen. Darauf kommt es an. Dafür hat Leonhard Glanz das Gefühl in den Fingerspitzen gehabt. Das ist mehr als exakt rechnen. Aber Fakturen ausschreiben? So viel brutto und so viel Tara, so viel Fracht und so viel Assekuranz, plus zwei Prozent Zinsen über Bankdiskont für das Dreimonatsaccept. Nein, das hat er nie gemacht. Dafür hat man doch seine Leute. Mit solchem Krimskrams hat er sich nie abgegeben. Exakter Rechner für Fakturierung? Ist ja Mumpitz.

Heizungstechniker für Transmissionsberechnungen. Was es nicht alles gibt. Heizer, so hatte Leonhard Glanz geglaubt, sind große, starke Männer, die mit mächtigen Schaufeln auf Schiffen und in Fabriken vor den Kesselfeuern stehen und Kohlen aufschmeißen. Mit nichts an, als einer alten Leinenhose und ein paar Holzpantoffeln. Von Öl und Kohlenstaub sind sie zumeist so verschmiert, dass man garnicht unterscheiden kann, ob so ein Heizer ein Weißer sei oder ein Neger. Ist ja auch ganz egal, in diesem Fall. Der Heizraum einer Eisenhütte ist ja schließlich kein amerikanischer Pokerklub. Im Roten Meer soll es so heiß an Kesselfeuern der Dampfer sein, dass manchmal ein Heizer irrsinnig wird. Der rennt mitten im Dienst von der Arbeit fort, die Treppen hinauf an Deck und über Bord. Und weg. Scheußlich. Das ist doch kein Beruf. Was heißt da mit Transmissionsberechnung?

Speditionsbeamter gesucht, beider Landessprachen mächtig. Adressenschreiber. Hausmeister. Elektro-Installateur. Eingeführter Reisender für Herrenmoden. Herrenmoden. In der Eile und dem Halsüberkopf, mit denen man losfahren musste, sind nicht einmal die Krawatten mitgekommen. Eine aus grüner Seide und eine aus blauem Foulard mit gelblichen Punkten. Das ist alles. Heute hat Leonhard Glanz die grüne an. Bei einem braunen Anzug. Welche Zusammenstellung, wo doch draußen Regenwetter ist. Einzig eine bordeauxfarbene Krawatte hätte ihm heute gepasst, zu dieser Stimmung. Er hatte daheim eine sehr schöne bordeauxfarbene Krawatte. Wer weiß, wer die jetzt trägt, verknautscht, versaut. Irgendso ein Sturmtruppführer, wenn er in Zivil ist. Die Kerle haben ja alles geklaut. Beschlagnahmt, nennen sie das.

Ein Bäckergeselle wird gesucht. Brotbacken und so. Abends Teig kneten. Schmierig bis an die Ellenbogen. Aus sowas wird Brot. Morgens um drei aufstehen und backen. Welche Hitze. Ein Bäcker ist doch kein Heizer, zu einer Zeit, drei Stunden nach Mitternacht. Da kann man schlafen gehn. Noch in die Bar? Ne, Herr. Der Abend hat mich schon Geld genug gekostet. Ich lege überhaupt keinen Wert mehr auf Nutten. Wissen Sie, ich will demnächst heiraten. Ein Bäckergeselle? Kannst du balancieren, lieber Freund? Ein Brett auf dem Kopf. So groß. Und darauf große Kuchen und kleine Kuchen. Schaumgebackenes und Gugelhupf. Und damit durch die Straßen. Auf dem Fahrweg natürlich. Mittendrin, wo alles treibt und rattert und wackelt. Nur das Brett auf dem Kopf mit den Kuchen. Das ruht in sicherer Schwebe. Können Sie das? Herr, garnichts können Sie. Meine Kipferln, die ich gebacken habe, als Sie noch schliefen, als müsste das so sein, die können Sie essen. Immerzu, solange es Ihnen schmeckt. Herr, ich sage Ihnen, ich weiß manchmal nicht, wo ich das Geld hernehme für sechs von den Semmeln, von denen ich tausend gebacken habe. Haben Sie eine Ahnung. Nicht einmal balancieren können Sie.

Noch ein Reisender wird gesucht, für Toilettenartikel. Wird gesucht. Ein Reisender ging verloren. Hautcrème bei Tage und Hautcrème bei Nacht. Zahnpasta auf wissenschaftlicher Basis. Puder in siebenundachtzig Farben. Lippenstifte, echte, aus Maulbeerbaumläusen. Rasieressig, ha. Haarwasser und Lockennadeln. Kennen Sie den Witz von den Lockennadeln? Es war einmal ein Mädchen, das trug extralange Strümpfe. So lang … ach so, kennen Sie schon. Vielleicht wäre ich doch ein guter Reisender für Toilettenartikel. Nagellack, Nagelbronze à la Josephine Baker. Seife.

Haben Sie eine Ahnung, was Seife sei? Sie ziehen Lavendelseife vor. Na ja. Exterikultur. Warum auch nicht. Es war einmal eine Arbeiterin in der Seifenfabrik. Sie war im achten Monat oder so. Und da ging sie unsicher. Diese Leute sind ja auch so unvernünftig. Anstatt rechtzeitig mit der Arbeit auszusetzen. Und da fiel sie in einen der riesigen Seifenkessel. In die siedende Seifenmasse. Als man sie herausholte … als man sie herausholte … als man … es war nicht viel mehr als ein Skelett. Die glühende Seifenmasse, die frisst, mit Haut und Haar. Vielleicht, wer weiß, ist Ihre Lavendelseife von da. Aber ein Reisender in Toilettenartikel hat es auch nicht leicht. Haben Sie mal Lavendelseife zu verkaufen. Auf einmal will kein Mensch mehr Lavendelseife. Juchten ist in der Mode. Nagelfeile und Nagelschere. Leonhard Glanz, deine Nägel könnten auch einmal wieder in Ordnung gebracht werden. Das kann man doch selbst machen. Du nicht? Zu dir ist früher immer die Maniceuse gekommen. Deine Briefe haben »deine« Stenotypistinnen geschrieben. Deine Schulden hat »dein« Buchhalter ausjongliert. Deine Waren hat »dein« Expedient verladen. Du hast einen Korrespondenten für Englisch gehabt, einen für Französisch und einen für Spanisch. »Dein« Prokurist hat alle unangenehmen Besuche für dich empfangen, der Lehrling hat die Muster eingepackt und die Briefmarken aufgeklebt, die Telefonistin hat die Verbindungen für dich hergestellt. Was hast du eigentlich selbst getan? Praktisch? Was kannst du eigentlich? Nicht einmal dir die Nägel schneiden. Einmal wirft dich das Leben aus der Bahn und nun sitzt du da und es zeigt sich, dass du nichts anzufangen weißt und mit dir nichts anzufangen ist. Vom Durchführen und Beenden gar keine Rede. Nun sitzt du da, nimmst das Leben übel, als ob es dir nun so etwas besonders Schlimmes angetan hätte. Was hat es dir denn getan?

Aus der Bahn dich geworfen. Aus deinem eigenen »Geschäft« dich hinausgeschmissen, dich ausgeplündert, deinen Besitz verschoben und gestohlen, dich eingesperrt, wie einen Verbrecher – na, na, ich gebe zu, das ist arg – dich infam maltraitiert und dich ziemlich nackt und bloß in die Fremde gejagt. Wer hat das getan? Die Nazis? Ja, wer hätte das gedacht. Du nicht, Leonhard Glanz, du nicht.