Darkest Blackout

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Darkest Blackout
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Darkest Blackout
Dylan & Thor 6

Ein Roman von Justin C. Skylark

Impressum

© dead soft verlag, Mettingen 2020

http://www.deadsoft.de

© the author

Cover: Irene Repp

http://www.daylinart.webnode.com

Bildrechte:

© Raisa Kanareva – adobe.stock.com

1. Auflage

ISBN 978-3-96089-430-8

ISBN 978-3-96089-431-5 (epub)

Inhalt:

Thor Fahlstrøm schlägt den Weg zur Resozialisierung gewissenhaft ein. Dylan und Erik unterstützen ihn, so gut sie können. Das Café mit der Galerie wird eröffnet und ein Konzert ist geplant. Sogar Tony – mit Tochter Susan – sowie Carol, kommen nach Norwegen, um dort Urlaub zu machen.

Doch nicht jeder ist über Thors Rückkehr erfreut und es kommt zu Ereignissen, die das Feuer schüren …

Prolog

«Niemand sollte sich mit Thor Fahlstrøm anlegen. Das geht nach hinten los. Habe ich selbst erlebt.» Dylan Perk

Der Wohnzimmertisch war gedeckt und der Kaffee aufgesetzt. Ihn beschlich eine Art von Aufregung vor dem Besuch, der unabdingbar war. Aber im Gegensatz zu ihrem letzten Treffen hatte er sich vorbereitet.

Schließlich fuhr ein Wagen vor. Ja, sie war es: Emma Lund, Thors Bewährungshelferin. Sie war akkurat in einen kurzärmligen Hosenanzug gekleidet. Die Sonne schien und die Temperatur stieg auf über 20 Grad. Dylan schob lästige Haarsträhnen aus dem Gesicht. Er atmete tief durch, öffnete die Tür und setzte ein Lächeln auf. Emma kam geradewegs auf das Haus zu. Wie gewohnt klemmte eine Akte unter ihrem Arm.

«Hei!», grüßte er, als wären sie beste Freunde. «Takk for sist», bedankte er sich, wie in Norwegen üblich, für ihr letztes Zusammentreffen. «Wundervolles Wetter heute, oder? Wollen wir uns in den Garten setzen?»

Sie blieb auf der Schwelle stehen und sah ihn prüfend an. «Jetzt sag nicht, dass er wieder nicht da ist?»

«Also …» Er geriet ins Straucheln und strich sich unkontrolliert über das Haar. «Die Renovierung in der ehemaligen Kneipe ist voll im Gang. Wir sind wirklich froh, dass er täglich in die Stadt darf.»

Sie zog die Mundwinkel nach unten, stöhnte entnervt, doch enthielt sie sich eines weiteren Kommentars.

«Kaffee ist fertig», berichtete Dylan und zeigte ins Haus, da sie sich nicht dem Garten zuwandte. «Bitte, komm rein. Ich habe Zeit zum Reden.» Er marschierte voran. Sie folgte widerwillig.

«So war es nicht abgemacht. Ich muss mit ihm sprechen.»

Dylan blieb mittig im Raum stehen und rieb die Hände aneinander. «Bitte», flehte er. «Gib ihm noch etwas Zeit.» Er hob die Schultern an. «Thor macht doch, was man von ihm verlangt: Er geht unter Leute, er stellt etwas auf die Beine. Ist doch klar, dass er viel zu tun hat.»

«Er weiß, dass ich komme und trotzdem ist er nicht da», erwiderte sie.

Eine Pause entstand, in der Dylan still nickte. Sie hatte recht. Einmal mehr hatte sie ihr Erscheinen angekündigt und ein weiteres Mal kümmerte sich Thor einen Dreck darum. Er wich den Gesprächen aus. Kein einziges Mal hatte er bislang mit ihr geredet. Ein Ding der Unmöglichkeit. Für sein Führungsverhalten war das alles andere als lobenswert. Dylan konnte von Glück sagen, dass Emma tolerant war und die Tatsache nicht sofort weitertrug. Enttäuscht setzte sie sich aufs Sofa, während er Kaffee ausschenkte.

«Du kannst mir glauben», erklärte er. «Ich gebe mein Bestes, aber auch ich komme kaum an ihn heran.» Er stellte die Kanne ab und nahm ebenfalls Platz. Resigniert verteilte er Waffeln auf ihre Teller. «Ich bin froh, dass er die Eröffnung des Cafés vorantreibt. Thor ist voll und ganz darauf fokussiert – mehr darf ich momentan nicht von ihm verlangen.»

Er sinnierte einen Augenblick, da sie nichts antwortete, sondern konzentriert in den Unterlagen wühlte. Aufrichtig sah er sie an. Er wollte sein Bestes geben. Für Thor und die ganze Angelegenheit.

«Wo waren wir stehengeblieben?», murmelte sie.

Dylan überlegte nicht lange. Bei ihrem letzten Gespräch hatte sich Emma über Thors Großvater Mats und Thors Eltern erkundigt, über ihre Beziehungen zueinander und auch das Verhältnis zu seinem Bruder Arvid hatten sie angerissen «Wir haben über seine Familie gesprochen; darüber, wie er aufgewachsen ist.»

«Ach ja.» Sie klappte die Akte auf den Knien auf und nippte nebenbei an der Tasse Kaffee. Kurz visierte sie das Tattoo an seinem Unterarm, das den Schriftzug ‹Thor› trug. «Ich würde heute gern über seine Persönlichkeit sprechen.»

Dylan nickte, lehnte sich zurück und schlug ein Bein über das andere. «Ja, klar.» Unaufgefordert sprach er weiter. «Er hat schon immer Musik gemacht. Dass er Sänger einer berühmten Black Metal Band ist, weißt du ja. Mit Magnus hat er keine Platte veröffentlicht. Das Debüt platzte mit Magnus Tod, aber mit Erik hat er großen Erfolg gehabt.»

«Ich meine nicht seine Person in der Öffentlichkeit, sondern sein persönliches Wesen.»

«Oh, natürlich.» Dylan schnellte vor, nahm einen Schluck Kaffee und steckte sich eine Zigarette an. Seine Finger zitterten wie so oft. Dass er nicht sinngemäß auf ihre erste Frage geantwortet hatte, beeinflusste sein Denkvermögen. Er kniff die Augenbrauen zusammen und fixierte sie aufmerksam. Nicht noch einmal sollte ihm ein Fehler unterlaufen.

«Wie würdest du Thors Charakter definieren?»

Seine Antwort kam postwendend. «Er ist stark und bodenständig. Er weiß, was er tut. In seinem Leben gibt es eine klare Linie – im Gegensatz zu meinem. Ich bin trockener Alkoholiker und befinde mich in Therapie. Ich nehme Tabletten … Ich habe mich oftmals absolut nicht unter Kontrolle, sagt meine Ärztin und mein Psychiater meint …»

«Wir sprechen über deinen Partner, nicht über dich.»

Er beendete den Blickkontakt und schnippte die Asche der Zigarette in den Aschenbecher. «Oh, sorry, ja, natürlich.»

«Hat er mit Drogen zu tun?»

Wie kam sie auf diese Frage? Benahm er sich verdächtig? Er schüttelte den Kopf.

«Laut Polizeiakte ist er schon zu Jugendzeiten auffällig gewesen und hat seinen Vater krankenhausreif geprügelt.»

Dylan nickte. «Das kann ich sogar nachvollziehen. Ich habe in meiner Jugend Ähnliches erlebt: Man wir nicht akzeptiert, man wird nicht respektiert, weil man anders ist …»

«Thor war damals 15 Jahre. Die Polizei musste den Streit schlichten.»

Dylan winkte ab. «Das hat er seinem Bruder zu verdanken.»

«Er war Anführer einer Gruppe, die satanisches Gedankengut vertrat, und stand in Verdacht, Kirchen angezündet zu haben.»

«Welcher Black Metaller wurde damals nicht verdächtigt?» Dylan grinste.

Emma ging die Fakten in der Akte Punkt für Punkt durch. «Es gab ein paar Jahre später die Verhaftung im Fall Magnus Eidsvag.»

Dylans Gesichtszüge wurden glatt. «Das war allenfalls Tötung auf Verlangen. Thor wurde nach fünf Jahren aus der Haft entlassen!», tönte er und beugte sich vor, schielte auf die Unterlagen. «Es war kein Mord. Das muss da doch stehen?»

Emma listete weiter auf.

«Er ist auch dir gegenüber handgreiflich geworden und wurde verhaftet, aber wegen einer entlastenden Aussage deinerseits wieder freigelassen.»

Dylan nickte. «Ja, weil es ein Unfall war. Ich war derjenige, der ausgerastet ist, ich habe mich verletzt, weil ich diese mentale Schwäche habe … Ich nehme Tabletten, ich bin in Therapie deswegen, ich bin trockener Alkoholiker …»

«Das sagtest du bereits.»

Er biss sich auf die Unterlippe und fiel im Sitz nach hinten. Innerlich mahnte er sich. Wie dämlich ich mich verhalte …

«Thor trifft überhaupt keine Schuld. In keinem Fall.»

«Es gab eine weitere Anzeige von einem Tony Wilson …»

Dylan lächelte gestelzt. «Mein Manager, der dramatisiert alles. Es war nichts passiert, was ich nicht wollte. Die Sache wurde schnell eingestellt.»

Nun sah sie prüfend auf. «Der Angriff auf die Jugendlichen ist allerdings nicht zu leugnen.»

«Thor hat sich nur gerächt, weil sie mich zuerst angefallen haben», erklärte er postwendend.

«Diese Art von Selbstjustiz zieht sich wie ein roter Faden durch sein Leben.»

«Er scheißt auf Gesetze, man kann ihm nichts verbieten», entgegnete Dylan. «Aber wenn man ihn in Ruhe lässt, passiert auch nichts.»

Sie kniff die Augen zusammen und drückte den Stift fest auf die Akte.

«Du kennst Thor nun schon länger», schlussfolgerte sie. «Glaubst du, dass er eine Gefahr für die Bevölkerung ist?»

«Er ist hierhergezogen, um Konflikte zu vermeiden», antwortete Dylan. Nahezu gedankenversunken blickte er aus dem Fenster. Die Sonne schien, eine leichte Brise wehte, die die Bäume hin- und herwiegte. «Er liebt die Natur, hier findet er Ruhe, die er braucht.»

«Du weichst meiner Frage aus», sagte sie und wiederholte eindringlicher: «Glaubst du, dass er gefährlich ist?»

Dylan neigte den Blick. Dass mit Thor Fahlstrøm nicht leicht auszukommen war, wusste er seit dem ersten Moment, in dem er von dem Norweger gehört hatte. Er hatte ihn gefürchtet, er hatte seine Stärke und seine Gräueltaten bisweilen am eigenen Leib miterlebt. Trotzdem hatte er den Kern seiner Seele erkannt und lieben gelernt. Aber ebenso wusste er, dass die meisten Menschen mit seiner Lebenseinstellung nicht klarkamen.

«Seine Eltern haben ihn verstoßen, sie gaben ihm Mitschuld am Tod der Großmutter. Sein Bruder hat ihn bei der Polizei angeschwärzt, er hat gesehen, wie sich Magnus umbrachte, saß fünf Jahre unschuldig im Knast deswegen. Dann die Scheiße mit mir, die Flucht von Bastøy. Er wäre fast gestorben … Das muss man erstmal verkraften.» Dylan lächelte verloren. Irgendwie wollte er standfest wirken, aber während er aufzählte, was Thor alles widerfahren war, stellte sich das altbekannte Unbehagen ein. «Ich frage mich, wie er das macht? Wo landen seine Gefühle?» Planlos schwirrte sein Blick durch den Raum. «Wie wird er damit fertig?» Er hob die Schultern und sah sie fragend an. «Irgendwann wird das Maß voll sein, oder?»

 

Kapitel 1

Die Sonne war aufgegangen und die Hunde kündigten den neuen Tag an, indem sie an der Bettdecke zogen und winselten. Thor reagierte wie jeden Morgen prompt.

Normalweise ließ Dylan ihn walten. Er sagte nichts, wenn sich sein Partner aus dem Bett erhob, schweigend im Bad verschwand und sich anschließend ebenso geruhsam anzog. Aber die Distanz zwischen ihnen wurde von Tag zu Tag größer. Jeden Morgen hoffte Dylan, dass sich die Lage änderte, aber nichts geschah.

Er drehte sich auf die Seite und beobachtete, wie Thor sich in ein T-Shirt kleidete und es über die Lederhose strich. Sein feuchtes Haar kringelte sich auf dem Rücken. Dylan roch Aftershave. Die Sehnsucht in ihm war kaum auszuhalten. «Warum teilen wir uns eigentlich das Bett, wenn du mich sowieso ignorierst?»

Thor sah sich erstaunt um. «Schlaf weiter, es ist noch früh», raunte er.

«Ja, ich will schlafen, aber mit dir!», tönte Dylan. «Und du kannst mir nicht weismachen, dass es an der Fußfessel liegt, dass du dich mir entziehst.»

«Was willst du, Perk?»

«Sex!», keifte Dylan.

«Du hast zwei gesunde Hände, wenn du es so nötig brauchst.» Thor drehte sich wieder um und schloss den Kleiderschrank.

«Das ist nicht dasselbe!», schimpfte Dylan und richtete sich auf. «Seit wir aus Amerika zurück sind, läuft überhaupt nichts mehr zwischen uns, schon gemerkt?»

Thor stand regungslos im Raum und drehte ihm den Rücken zu.

«Warum antwortest du nie, wenn es was zu klären gibt?»

«Du streitest, du klärst nicht.» Thor schüttelte den Kopf. «Da hat es keinen Sinn, zu diskutieren. Das macht es nur schlimmer.»

Entnervt fasste sich Dylan an die Stirn. Mit nötiger Sorgfalt massierte er seine Schläfen. Es beruhigte ihn nur bedingt.

«Ich versuche, mich zusammenzureißen, wirklich», beteuerte er. «Aber da ist diese Wut in mir: Am liebsten würde ich um mich schlagen und mich besaufen.»

«Ich bin auch wütend», antwortete Thor. «Mehr als du denkst.»

***

‹Kafé og Galleri Saarheim›, so prangte es in schnörkeligen Lettern über den breiten Fenstern der ehemaligen Kneipe. Zumindest das äußere Erscheinungsbild hatte Formen angenommen. Aber im Inneren der Räume herrschte Chaos. Dylan bahnte sich einen Weg durch Tapeziertisch und Leiter. Es roch nach Farbe und Putzmitteln. Thor hockte in der hinteren Ecke des großen Zimmers, das als Ausstellungsraum für seine Bilder fungieren sollte. Mit bloßen Händen entfernte er die Leisten vom Boden. An einigen Stellen war der Teppich herausgerissen. Überall lagen Staub und Dreck. Dylan versuchte, nirgends anzustoßen.

«Hei», grüßte er. Nachfolgend unterdrückte er ein Husten, denn die Luft war zum Schneiden dick und stickig.

«Was willst du hier, Perk?», raunte Thor, ohne sich umzudrehen. Mit einer schnellen Bewegung zog er die nächste Fußleiste von der Wand.

«Ich bin noch immer dein Partner, auch wenn du es auf körperlicher Ebene anscheinend vergessen hast», erwiderte Dylan schnippisch. Demonstrativ sah er sich um. «Ich bin hier, um zu helfen.»

Thor stieß ein dunkles Lachen hervor. «Du?»

«Ja, warum nicht?», entgegnete Dylan postwendend.

«Hast du schon mal Wände gestrichen oder tapeziert?», hakte Thor nach. Er rieb die Handflächen über die Oberschenkel. Staubige Abdrücke blieben auf seiner dunklen Jeans zurück. In seinen Haaren saßen helle Farbreste.

«Nicht unbedingt.»

«Kannst du Fliesen oder einen Teppich verlegen?», wollte Thor wissen. Nebenbei fasste er an den Bodenbelag und zerrte ein Stück davon ab.

«Na ja …» Dylan wand sich auf der Stelle und lächelte.

«Kannst du Lampen und Armaturen auswechseln?»

«Das nicht.»

«Was willst du denn hier?» Thor drehte sich um. «Wenn du nichts kannst, stehst du im Weg.»

Dylan hob die Hände an. «Ich kann es lernen!»

Thor kam auf die Beine. «Dafür fehlt uns die Zeit», sagte er. «Der Teppich muss heute raus und ich erwarte die Lieferung für das Parkett, das ich selbst nicht verlegen kann.»

«Nein?»

Thor hob die Schultern an. Nachdenklich sah er durch den Raum. «Ich will, dass es anständig wird und es gibt zu viele Ecken hier. Das sollte ein Fachmann machen.» Er zog eine Zigarettenschachtel aus der Tasche und zündete sich eine Zigarette an. «Das Problem ist, dass wir keine Handwerker finden.»

Dylan stutzte. «Nein?»

«Niemand ist scharf darauf, Thor Fahlstrøm zu helfen.»

«Oh, fuck, echt jetzt?»

Thor nickte still.

Dylan stemmte die Hände auf die Hüften und blickte sich um. Die Galerie war stark verwinkelt und es gab zwei Stufen, die in den vorderen Bereich des Cafés führten. Rund um den Tresen mit integrierter Anrichte und Küche war der Boden gefliest. Die Tatsache, dass die Renovierung ins Stocken geriet, nur weil keine norwegische Firma bereit war, Thor zu helfen, war ernüchternd.

«Dann holen wir uns Leute aus England», beschloss Dylan. «Das wird teurer aber sicher nicht schlechter.»

«Wer soll das bezahlen, Perk?», erwiderte Thor. «Ich bin jetzt schon am Limit.»

«Ich unterstütze dich», versicherte Dylan.

«Dein Geld nehme ich nicht», sagte Thor. Nicht zum ersten Mal.

Dylan seufzte. «So viel haben wir in Amerika gar nicht ausgegeben.» Er dachte an sein eigenes Vermögen, das trotz der Auszeit gestiegen war. Die Einnahmen von Plattenverkäufen waren weitergelaufen. «Du hast doch sicher Rücklagen», meinte er demzufolge.

«Ich bin pleite, Perk», verdeutlichte Thor mit Nachdruck. «Die Renovierung kostet und ich bekomme keinen Kredit. Dazu musste ich eine satte Geldstrafe begleichen.»

Dylan erstarrte. «Pleite?», wiederholte er. Ein kleiner Schock übermannte ihn. Doch augenblicklich verstand er, weshalb Thor nicht mehr versuchte, sich gegen die Sanktionen aufzulehnen. Er war in Geldsorgen und tat alles dafür, um aus der misslichen Lage herauszukommen. «Das wusste ich nicht», fügte Dylan hinzu und rätselte laut. «Aber du hast das Wohnmobil verkauft. Das war einiges wert. Wo ist das Geld?»

«Ich dachte, ich lande im Knast», erklärte Thor. Er drehte sich einem Beistelltisch zu und drückte die Zigarette in einem Aschenbecher aus. «Ich habe es sicher angelegt.»

«Okay, aber Aktien kann man verkaufen, oder nicht? Das Geld ist nicht weg.»

Thor fasste an seinen Bart am Kinn. Eine verlegene Geste. Er machte wenige Schritte über den Teppich und ließ sich mit der Antwort Zeit.

«Ich habe keine Aktien gekauft», gestand er schließlich. Vor dem Fenster zum Hinterhof blieb er stehen und blickte hinaus.

«Sondern?», bohrte Dylan nach.

«Ich habe das Geld Mr. Miller übertragen», sagte Thor mit ruhiger Stimme, nahezu belanglos. In Dylan sorgte die Antwort jedoch für eine Überraschung.

«Mr. Miller?», wiederholte er perplex und fasste sich an die Brust. «Etwa … für die Ranch?»

Thor drehte seinen Kopf und sah ihn an. Ein sanftes Lächeln huschte über sein Gesicht. «Ja.»

«Samt Lore?»

«Samt Stallungen und Lore.»

«Holy shit!» Dylan griff sich an die Stirn. Sein Herz machte einen erfreuten Sprung, kaum dachte er an das Haus in Nevada, in dem sie während ihres Amerikaaufenthalts mehrere Monate gelebt hatten. «Das ist der Wahnsinn!» Er gluckste vor Freude. «Du glaubst nicht, wie sehr mich das freut.»

Thor zwinkerte. Mit einer Hand strich er zärtlich über Dylans Wange. Eine sinnliche Geste, ein Zeichen der Zuneigung. Dieses Empfinden in Wort zu fassen, fiel ihm schwer, doch es war klar, dass er die Ranch aus einem bestimmten Grund gekauft hatte.

«Vielen Dank.» Dylan ergriff die Hand und hauchte einen Kuss darauf.

«Schon gut», erwiderte Thor und zog die Hand zurück.

Trotzdem brachte die Neuanschaffung Beklemmung mit sich.

«Jetzt versteh ich das Ganze», sprach Dylan leise.

Thor wiegelte ab. «Mr. Miller kam mir preislich entgegen, aber es fehlt noch ein letzter Abschlag. Zudem fallen Kosten an. Das Anwesen wird weiterhin von einer Person kontrolliert und instand gehalten. Die Tiere müssen versorgt werden.» Sein Gesicht erlangte die bekannte Härte zurück.

Dylan nickte. Ihm war bewusst, was es hieß, die Ranch in Schuss zu halten, einschließlich der Pflege der Hühner und der Stute Lore. «Sobald du wieder reisen darfst, fahren wir hin, okay?»

«Ja», sagte Thor knapp, aber sein Gesichtsausdruck signalisierte, dass bis dahin noch einige Zeit vergehen musste.

***

Es war der 17. Mai: ein besonderes Datum in Norwegen. Dylan stand extra früh auf, um den Nationalfeiertag mit all seinen Feierlichkeiten mitzuerleben. Er verspürte Aufregung, denn an diesem Tag war die ganze Nation auf den Beinen. In Oslo wurde das Event mit einer stundenlangen Parade und der Aufwartung des Königshauses vor dem Volk gebührend gefeiert.

Er hatte sich in Schale geworfen: Mit einem dunklen Jackett und Seidenhemd, nur die schwarze Jeans war ein bequemes Kleidungsstück, denn er rechnete damit, mehrere Stunden auf den Beinen zu sein.

«Du willst wirklich nicht mit?», fragte er Thor zum wiederholten Mal.

«Nei.» Fahlstrøm saß im Wohnbereich, rauchte eine Zigarette und sah seinen Partner mit finsterer Entschlossenheit an.

«Aber du liebst doch dein Land.»

«Ich kann mein Land auch lieben, ohne Fähnchen zu schwingen. Außerdem darf ich nicht den ganzen Tag durch die Stadt rennen.» Mit einem Fingerzeig auf seine Fußfessel erinnerte er daran, dass er sich nur in einem begrenzten Umfeld zu einer festgelegten Zeit fortbewegen durfte.

«Wenn du dich in der Nähe des Cafés aufhältst, wird es niemand merken.»

«Ich habe ‹nein› gesagt», erwiderte Thor.

«Dann eben nicht!» Dylan hob die Nase in die Höhe und steckte Geldbörse und Handy ein. «Keine Ahnung, wann ich wiederkomme …»

Thor lachte dunkel. «Vermutlich erst, wenn du einen Sonnenbrand hast.» Er drückte die Zigarette im Aschenbecher aus. «Pass auf die Russ auf.»

Dylan stutzte, denn er hatte einiges über den Nationalfeiertag gelesen: Dass es Straßensperrungen gab, meterlange Umzüge aller Schulklassen, dass die Menschen Waffeln und Eis im Überfluss konsumierten, dass man sich am Schloss Sitz- und Stehplätze kostenlos reservieren konnte, um dem König aus nächster Nähe zuzuwinken, aber von den Russ hatte er noch nie zuvor gehört.

«Das sind die Schulabgänger», erklärte Thor mit einer Stimmlage, als würde er von der Mafia sprechen. «Während der Umzüge benehmen sie sich noch gesittet, aber danach …»

Dylan grinste. «Kann ich mir vorstellen, dass die feiern. Das stört mich nicht. Außerdem hab ich Erik dabei.»

«Dann pass erst recht auf.» Thors Tonfall blieb konzentriert. Während Dylan überlegte, ob er sich die Worte zu Herzen nehmen sollte, klopfte es an der Tür, die sich kurz darauf öffnete.

«Können wir los?», fragte Erik. Er lugte lediglich mit dem Kopf durch den Türspalt. Wollte er etwas verbergen? «Später fahren die Bahnen nicht mehr nach Plan.»

«Ich bin bereit.» Dylan hob die Hand zum Abschied, zwinkerte Thor zu und zog die Tür weiter auf. Er betrachtete Erik in voller Montur und sofort entwich ihm ein bewundernder Pfiff. «Wow, du siehst abgefahren aus!»

Erik steckte in einer norwegischen Tracht, der sogenannten ‹Bunad›. Dazu gehörten nach Tradition nicht nur Hose, Weste, Hemd und Schal, sondern auch ein Hut und ein Jackett.

Die gold-schwarz gemusterte Weste war aus Seide und besaß silberne Knöpfe. Die Jacke aus schwarzer Wolle war halblang und ebenfalls mit Manschettenknöpfen ausgestattet. Das weiße Hemd hatte einen Stehkragen, um den sich ein blauer Seidenschal rankte.

«Ja, findest du?» Erik grinste bescheiden. Nach wie vor hielt er Abstand. Befürchtete er vonseiten Thors einen negativen Kommentar?

«Sicher!» Dylan zückte sein Handy, öffnete die Fotoapp und drückte auf den Auslöser. «Das senden wir an Tony. Der wird sich ärgern, dass er nicht eher angereist ist.»

 

Sie nahmen den Mietwagen und fuhren die Sognsveien hinab bis zur Haltestelle Sognsvann. Dort angekommen reihten sie sich in die Ansammlung von Menschen ein, die per T-Bane in die Stadt fahren wollten. Da die Station gleichzeitig die Endstation war, ergatterten sie sogar einen Sitzplatz. Aber nach wenigen Zwischenstopps füllte sich die Bahn. Dylan kam ins Staunen. Die meisten Menschen trugen norwegische Fahnen mit sich. Rucksäcke, Taschen, Kinderwagen und sogar Hunde waren festlich mit den drei Farben, angeordnet mit einem blauen Kreuz, weißer Kontur auf rotem Grund, geschmückt.

Je näher sie der Stadt kamen, desto mehr Leute samt Flaggen erspähte er auch auf den Gehwegen.

Am Schlosspark stiegen sie aus. Die Straßen waren weitläufig gesperrt. An jeder Ecke standen Sicherheitskräfte. Die ersten Parademärsche schoben sich bereits durch die Innenstadt.

Sie kamen schleppend voran, was nicht an den Menschenansammlungen lag, sondern daran, dass Dylan sich fortwährend umsah oder stehen blieb. Zum Glück war Erik an seiner Seite. Der wusste, wo sie entlangmarschieren mussten.

Die Karl Johans Gate war zu einer festlichen Allee geschmückt. Fahnen hingen von den Häusern. Beidseits der Straße gab es Absperrungen, die die Schaulustigen zurückhielten. Dicht an dicht standen die Menschen – Einheimische ebenso wie Touristen – , um einen Blick auf die Schüler zu erhaschen, die in geübter Formation, ebenfalls zünftig gekleidet, samt Lehrer und Spielmannszug, den Weg über die Hauptstraße Richtung Schloss nahmen.

Staunend blickte Dylan auf die lange Straße, in der die Farben der norwegischen Flagge dominierten.

«Wahnsinn!», schrie er. Mehrfach hob er sein Handy, um Fotos zu machen. Eine Schulklasse folgte der nächsten, ein Lied ging in ein anderes über. Gelächter und Jubelschreie erklangen und er ließ es sich nicht nehmen, selbst die Fahne zu schwingen.

Erik beobachtete das Treiben gelassener. Vermutlich hatte er die alljährliche Feier schon häufiger miterlebt. Nachdem sie den Festmarsch eine Weile verfolgt hatten, griff er nach Dylans Hand. «Kein 17. Mai ohne den König!», verkündete er.

Dylan gluckste vor Freude. Bereitwillig ließ er sich von Erik durch die Massen schleusen. An der Absperrung zum Schlossplatz zückte der ein Schriftstück. Das wurde von einem Wachmann gescannt. Folglich durften sie den Platz betreten. Auch dort standen die Menschen dicht gedrängt, doch ebenso hatten sie von hier aus eine gute Sicht auf den Balkon des Schlosses.

Staunend ließ Dylan die Eindrücke auf sich wirken. Die Königsfamilie, samt Oberhaupt, Prinz und Prinzessin, sowie deren Kinder winkten der jubelnden Menge zu. Ein ergreifender Augenblick, den er ebenfalls mit dem Handy einfing. Für einen kurzen Moment war er den Tränen nahe.

«Danke!», warf er Erik zu. «Danke, dass du mich mitgenommen hast.» Sein Blick schwirrte zurück. Auf dem Vorplatz des Schlosses war eine neue Schulklasse angekommen. In einem Kreis und bei traditioneller Musik führte sie einen Tanz vor. Dylan klatschte zum Takt.

Das Treiben und der nicht endende Festzug waren so fesselnd, dass er das erste Mal auf die Uhr sah, als zwei Stunden vergangen waren und sein Nasenrücken spannte. Nun wusste er, was Thor gemeint hatte. Die Sonne schien ungnädig auf sie nieder und es gab weit und breit kein schattiges Plätzchen. Zudem hatte er Durst und auch etwas Hunger. Erstaunt war er ebenfalls, weil es kaum Buden gab, die irgendwelche Speisen oder Getränke vertrieben.

«Können wir nicht irgendwo einen Imbiss nehmen?»

Erik winkte ab. «Die meisten Leute nehmen sich was zu essen und trinken mit», erklärte er. «Außerdem ist Feiertag, die Läden haben zu. Wenn du Glück hast, begegnet dir ein Eisverkäufer und einige Geschäfte verkaufen süßes Gebäck in den Straßen.» Er zog eine Sonnenbrille hervor und reichte sie Dylan, der sie dankbar entgegennahm und aufsetzte.

«Abgesehen davon, sollten wir hier keine Wurzeln schlagen.» Auf Eriks Gesicht schlich sich ein verheißungsvolles Lächeln. Erneut fasste er nach Dylans Hand. «Ich kenn ein besseres Plätzchen.»

Dylan hatte sich mitziehen lassen. Zurück zur Straße, entlang der Karl Johans Gate, bis zu einem Haus aus rotem Backstein, in dem sich das Hard Rock Cafe von Oslo befand.

«Ich hab hier Beziehungen», verkündete Erik. Gezielt lotste er Dylan ins Gebäude. Sie betraten ein Treppenhaus, erklommen die Stufen bis zur zweiten Etage und gelangten kurz darauf in eine Wohnung, in der eine Party stieg. Auf einem Tisch reihten sich Speisen und Getränke – vornehmlich Würstchen, Waffeln und Alkohol in allen Facetten. Auch Erik, der den Gastgeber kannte, zog aus seinem Rucksack zwei Flaschen und stellte sie dazu. Dylan nahm eine Waffel in die Hand und betrat den Balkon. Von hier aus konnte er den Festmarsch noch besser verfolgen. Inzwischen liefen die Schulklassen der älteren Semester über die Straße.

Jugendliche in roten Anzügen brüllten unverständliche Parolen durch die treibenden Beats der moderneren Musik, die sie begleitete. Die Zuschauer quittierten die Rufe mit einem jubelnden: «Hurra!»

«Sind das die Russen?», fragte Dylan gespannt.

«Ja. Die in den roten Anzügen sind die Abiturienten und die in den blauen sind die Abgänger vom Wirtschaftsgymnasium.» Erik stand neben ihm auf dem Balkon, nippte an einer Flasche Bier und erklärte. «Der Russ-Umzug zum 17. Mai bildet den Höhepunkt der wochenlangen Abschlussfeiern, Mutproben und Späße.» Er schüttelte den Kopf und lachte. «Oh je, wenn ich an meinen Abschluss denke … Man hat meine Clique und mich fast eingebuchtet.»

«Was?» Dylan sah ihn fragend an.

«Wir sind mit einem alten VW-Bus umhergefahren, sternhagelvoll, haben randaliert und jugendfrei haben wir uns auch nicht verhalten.»

«Meine Güte!» Dylan grinste und hielt sich am Balkongeländer fest. Unweigerlich dachte er an Thors Warnung und war froh, dass er das Treiben aus angemessener Entfernung mitverfolgen konnte. Sobald das Thema auf Alkohol und Parties zu sprechen kam, fühlte er sich unwohl. Er wusste, woran das lag. Nach wie vor trug er die Angst mit sich, rückfällig zu werden. Bestimmten Reizen ging er lieber aus dem Weg.

«Was sind das für Kärtchen, die die Russ verteilen?»

«Eine Art Visitenkarte der Schulabsolventen. Darauf stehen Name und Kontaktadresse sowie originelle Sprüche», erwiderte eine Frauenstimme.

Dylan drehte sich perplex zur rechten Seite. Erik war verschwunden, stattdessen lehnte eine Frau neben ihm über der Balkonbrüstung. Sie hielt ein Sektglas in einer Hand und eine Zigarette in der anderen.

«Ach so …» Dylan visierte die Straße, dann wandte er sich komplett um. Durch das Balkonfenster sah er Erik mit einem Mann auf dem Sofa sitzen.

«Du kommst wohl nicht von hier?», fragte die Frau.

«Nein.» Dylan schüttelte den Kopf. «Ich bin mit Erik hier.»

«Mit Erik?» Die Frau lachte laut. «Seit wann lässt der sich anbinden?»

«Also eigentlich …»

Sie hörte ihm nicht mehr zu und verschwand im Inneren des Gebäudes. Dylan seufzte. Inzwischen stand er allein auf dem Balkon. Offensichtlich war er der Einzige, der sich noch für den Umzug interessierte. Aus der Wohnung dröhnten Gelächter und laute Stimmen. Von der Straße her drang die schallende Rap-Musik der Russ, die aus einer mobilen Stereoanlage hämmerte. Die ältesten Schulabgänger bildeten das Ende des barnetoget – was so viel wie ‹Kinderzug› hieß. Die starren Absperrungen wurden gelockert. Passanten reihten sich in die Schlange ein. Jetzt marschierte das Volk zum Schloss und Dylan fragte sich, ob die Königsfamilie noch immer auf dem Balkon stand, um die Bürger und Touristen zu begrüßen. Die Kinder und Jugendlichen, das lag auf der Hand, wurden an diesem Tag am meisten gefeiert.

Er rieb sich über das heiße Gesicht. Hatte er inzwischen einen Sonnenbrand? Warum hatte er nicht auf Thor gehört und sich dementsprechend eingecremt?

Zurück in der Wohnung registrierte er, dass Erik nicht mehr auf dem Sofa saß. Suchend blickte sich Dylan um. Die Frau vom Balkon reichte ihm ein Glas Sekt entgegen, das er nahezu entrüstet ablehnte.

«Oh, danke, ich trinke nichts.»

«Gar nichts?», fragte sie, wobei sich ihre Stimme anhob. Kurzerhand kippte sie den Inhalt des Glases in ihr eigenes, das demzufolge fast überschwappte.