F l i e h e n d e F a u n e

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Nach einem Roman und einer Novelle legt Jürgen Steinbach jetzt eine Sammlung von Texten vor, die eine klassische Einordnung nicht erlaubt. Geschichten, auf wenige Seiten, manchmal nur Zeilen komprimiert, sind als Geschichten oft kaum mehr wahrnehmbar. Man könnte meinen, Sprache sei Handlung genug: karg und eisig, ausufernd und entflammt − und Alles in Einem.

Steinbach zeigt in seinen mINIATUREN, wie man auf kleinem Raum und fast bescheiden eine große Welt beschreiben kann, teilweise brutal, teilweise zärtlich – aber stets einfühlsam und niemals ganz ohne diesen besonderen Ton, der immer etwas schräg klingt und unter die Haut geht. Zum Hiersein verdammt – aber Bleiben geht nicht einfach. Gedanken, manchmal nur Splitter davon, schaffen es, dem Leser eindrucksvoll klar zu machen, dass es etwas gibt, was man sich kaum vorstellen kann: Fliehende Faune. Gefangen in einem Netz aus Skepsis und Melancholie, suchen die Protagonisten nach einem Ausweg im Woanders und verfallen einer Romantik, die es so scheinbar nicht mehr gibt.

Jürgen Steinbach studierte Germanistik, Amerikanistik und Soziologie in Frankfurt am Main, wo er seitdem lebt und arbeitet. Bisher erschienen sind der Roman Planquadrat Prag und die Novelle Schelmenmarkt.

Jürgen Steinbach

Fliehende Faune

mINIATUREN IN e-mOLL

Copyright © 2017 Jürgen Steinbach

Alle Rechte vorbehalten.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein ähnliches Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Halters der Rechte reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme

verarbeitet werden.

Umschlagzeichnung: J. W. Goethe

Vertrieb: epubli GmbH, Berlin

www.epubli.de

I n h a l t

Ouverture

Oblomow oder Das Ja zum Nein

Bach

Der Einfühlsame

Der glückliche Narr

Fräulein Naumann

Harmonie

Liebe und so

Satie

Reife

So ein Tag I

altruismus

Vorfall mit Mädchen

Zwei Freunde

Auf Seide malen

Die Nacht, als Schopenhauer zu uns sprach

Der Aufsteiger

Der Registrator

Ellerbrocks Schluss

So ein Tag II

Der Schlaf der Satyrn

Ein besonderer Mann

Der Schauspieler

Statistik oder Von Busen und Barden

Infinitesimal

Therapie oder Wie es auch nicht geht

Eine arme Sau

Flitternacht einer Drohne

Letzte Stunden mit Franz Münchinger

Verweigerung

Liberté

Der geile Fritz

Die Nackte und der Philosoph

Ohnsüchtig

Geschlechtsverkehr

Resümee eines Trinkers

Moselblick oder Nicht mehr da

Leib und Seele

Wilhelm oder Der Fluch der Romantik

Fliehende Faune

Morgens die Sonne erwarten, abends die Nacht. Das ist alles.

Peter Altenberg

Ich wollte eine Stadt erobern, nun streicht ein Palmenblatt über mich hin.

Gottfried Benn

Es ist … einfach das Programm des Lustprinzips, das den Lebenszweck setzt … die Absicht, daß der Mensch »glücklich« sei, ist im Plan der »Schöpfung« nicht enthalten.

Sigmund Freud

Ouverture

Sie gehen.

Über die Grenze und sehen sich um. Wälder, Felder, altes Mauerwerk, Geranke, ein paar Zwischenräume, die etwas verheißen. Von Zweifeln eine traume Spur. Aber sie nehmen sich Alles vor, was ihnen Möglichkeiten lässt. Ein wenig derb, ungehobelt vielleicht, wetterwendisch in jedem Falle. Die Luft riecht nach Schweiß. Der Wind, der um Nasen weht und um Phrasen, verspricht zugig Heilung: Von Versprechen – von Verklärungen sowieso.

Und gehen weiter.

Eine Stadt. Dort scheint es fremder, neuer. Doch auch da Schluchten und Verstecke. Der Wind vielleicht rauer. Genug, sich in Ecken verziehen zu wollen und hin zu netteren Flecken. Sie merken sich die Wege gut. Vielleicht, um sie nie mehr gehen zu wollen. Und können doch nicht anders oft.

Und gehen weiter.

Lernen erneut das Beziehen. Auf sich und auf andere. No way! wie es scheint. Hier wie dort. Von Lösungen weit entfernt – aber da ist ein Grundsätzliches. Das zu hegen und zu pflegen sollte ein Leichtes sein. Weil es einfach ist und da. Denken sie. Oder besser: das muss nicht einmal gedacht werden. Man muss nur tun. So greifen sie also ins Volle. Saugen sich fest. Verspritzen ihr Sein. Beschwören das Nichts – denn dort fängt man von vorne an, ohne sich entschuldigen zu müssen. Scheren sich einen Teufel um Gebote.

Und gehen weiter.

Gefilde werden nicht verschont, auch dieses nicht: die Poesie. Mit einem Satz hinein, und sie drehen ihn und winden, dehnen ihn ins Unendliche oder machen eine Silbe draus. Wie verfänglich. Denn wie leicht ist man mit sich allein ganz plötzlich. Und es bleibt nur eine Idee. Vom Leben. Vom Tod sowieso.

Und gehen weiter.

Suchen – und scheinbar finden sich. In einer Mitte. Und ihrer so nah? Ein schönes Feld. Aus großen, bunten, symmetrischen Flächen. Bebaut und kultiviert. Die Luft lau, der Wind kaum spürbar. Endlich. Und unser täglich Brot gib uns heute. Nicht zu viel und nicht zu wenig. Und ein Glas Wein am Abend als Belohnung. Vielleicht eine Hand, die dich berührt dann und wann. Ein bisschen zärtlich sicher und ein Kuss kann nicht schaden. Jeder Tag weiß voneinander und das ist gut so. Und sie nehmen ihn wie er ist. Betrachten ihn manchmal, nicht von allen Seiten, das wäre ungehörig. Aber hat man seinen Nutzen aus ihm gezogen, sieht er sich schön an. Denken sie. Und alles Unnütze wird in die Ecke gestellt, nein, keine Muße mehr und wehret den Anfängen. Laster den Anderen. Die sie mal waren. Vielleicht.

Und –

Oblomow oder Das Ja zum Nein

Ein Semester wie viele. Manche Gesichter, die man kannte aus anderen Semestern. Das Seminar im Ganzen gut besucht. Der Enge des Raumes bewusst, ergibt man sich der Not des Beengtseins in der Hoffnung auf eine kompensatorische Weitläufigkeit der Gedanken. Ich war jung, verschwommen energetisch, unbekannt. Nichts Besonderes also für einen Menschen, der das Leben noch vor sich hat. Professor K. erschien leger und überlegen, wie man ihn kannte. Darum wissend, wie es schien, und um die, allen gewesenen, gegenwärtigen, kommenden Ideologien zum Trotz nur scheinbar verwerfliche Bewunderung für Autorität, umriss er das Thema, wie er es meinte und verteilte Referate an die, die sie wollten. Mein Wollen bekannte sich wie ehedem zu spät, als dass es zum Tragen gekommen wäre. Ein Wille wird schnell obsolet, vermöge einer ihm inhärenten Schwäche des Überzeugtseins.

Eine Andrea entschied sich für »Oblomow oder Der politische und soziale Wandel im Russland des ausgehenden 19. Jahrhunderts«. Sie machte den Eindruck, sehr vertraut zu sein, mit den russischen Verhältnissen jener Zeit, und verhaltener Stolz lag in ihrer Stimme als sie ihren Namen nannte. Sie saß schräg vor mir und war zeit- und seinsgemäß gekleidet (hautenge Jeans und weites T-Shirt). Die Beine übereinandergeschlagen, ruhte ihr linker Unterarm auf ihrem linken Oberschenkel. Der V-Ausschnitt des T-Shirts und ihre vorgebeugte Haltung erlaubten mir den Einblick in sehr weibliche Formen. »Oblomow ist das Produkt einer sich im Niedergang befindlichen Feudalgesellschaft. Sicher ganz interessant.« Sie sagte das zu ihrem Nachbarn. Offenbar kannten sie sich. Armer Ilja Iljitsch, du wirst nichts zu lachen haben in diesem Seminar.

Professor K. erfragte erste Leseeindrücke. Nervöses Ziehen zwischen Blase und Prostata. Dann das Lächeln eines medizinischen Laien. Anatomie der Gefühle vielleicht und mein Lächeln wurde leiser und damit weniger berechtigt. Das Aufbauende an der Hermeneutik ist das Ambivalente, das ihr innewohnt. Dass der Held gleichzeitig Antiheld sein kann, macht das Leben erträglicher.

Ich sagte nichts.

Ein Typ mit sehr angestrengten Gesichtszügen hatte sich zu Wort gemeldet. Er sprach von Positivismuskritik − ohne jedoch den Hauptprotagonisten des Romans in Schutz nehmen zu wollen, schließlich sei es kein Verdienst der Nichtstuer, dass Fortschrittsgläubigkeit in Verruf geraten sei. Ein Anderer, dem seine Sympathie für Nichtstuer anzumerken war, kam, desungeachtet, nicht umhin, Oblomows Privilegien zu verurteilen.

Professor K. schmunzelte.

Andrea machte einen genervten Eindruck und sah auf die Uhr. Sie schien noch etwas vorzuhaben.

Oblomow hatte einen Traum. Den Traum von einem liebenswert-schrulligen Schlaraffenland, einer ländlichen Idylle, in die übertriebene Passionen keinen Einlass finden, wo alle mögliche Sorge und alles unvermeidliche Leid immer ein wenig milder ausfallen, beschaulich überschattet sozusagen von einfältiger Güte und schicksalsfrommer Dankbarkeit.

 

Warum nur sagte ich nichts. Hatte ich ihn doch sofort gemocht. In seinem viel zu großen und abgetragenen Chalat. Wie er sich von denen, die aus einer vagen Kälte kommen abwendet und sich noch tiefer in die Gewölbe seines Diwans zurückzieht. Und sich, von Zweifeln geplagt, immer wieder neu und immer wieder vergeblich mit der Notwendigkeit eines zu entwickelnden Planes auseinandersetzt − und in selbstquälerischer Manier statisch bleiben muss. Sofort hatte ich ihn gemocht.

Andrea hatte zwischenzeitlich nochmal auf die Uhr gesehen und bewegte sich nun durch die Stuhlreihen dem Ausgang zu. Schade.

Ein sehr dicker Mensch mit Bart und wallendem Haupthaar sagte: »Ein Leben ohne Leidenschaft ist wie eine Liebe ohne Lust.« Ich staunte nicht wenig. Nicht zuletzt der Alliterationen wegen. Der Satz schwebte eine kleine Weile über allen Köpfen, drehte eine Pirouette, um kurz darauf, langsam und leicht, zwischen den Stühlen abzutauchen, wie ein Blatt, das windbewegt-tänzelnd sich eines kurzen Fluges nur erfreuen darf, und dann aus dem Blickfeld gerät.

Meine Stimme zitterte. »O, ihr Zeigefinger, wie mir ekelt vor euch, vernunftbegabt und Energie geladen, ihr großen Veränderer, ihr Eiferer, die ihr an eurem Ich klebt, wie die Fliege am Haufen, wie ihr Größe mimt in eurer Kleinheit, ihr ach so Tätigen … wie mir ekelt vor euch.«

Und schon bereute ich, dass ich etwas gesagt hatte.

Professor K. schmunzelte.

Bach

Sie klatschten und die Schule stand Kopf. Ich saß im Auto, ein Osterbrot auf dem Beifahrersitz und ein Kasten Starkbier im Kofferraum. Das Radio lief, weil es da war. Gestern wurden Hütten abgefackelt und heute: fünfundvierzig sächsische Klassiker im Township vor fünfhundert klatschenden Negerkindern. Das Kleine wolle er spielen lernen, sagte einer von ihnen und deutet auf eine Geige, sagte das Radio. Die Musik sei ihm ins Herz gegangen, sagte es. Deeply. Die Gewalt sei nicht in den Griff zu bekommen, sagten Verantwortliche. Das Osterbrot war noch warm, und der Duft stieg mir in die Nase. Ich hatte vier Tage frei und mir vorgenommen, endlich mal wieder mit meiner Frau zu schlafen. (An eine Auferstehung dachte ich dabei nicht, das wäre gelogen gewesen.) Sie sollten wiederkommen, habe der kleine Junge gesagt, sagte das Radio. Auf der Höhe der Metzgerei Kerber staute sich der Verkehr und ich wechselte den Sender. Josef Ackermann bittet die Regierung um Unterstützung. Bach, dachte ich, und dann weinte ich ein bisschen. Zum Glück bekam ich einen Parkplatz direkt vorm Haus.

Der Einfühlsame

Als ich zum ersten Mal hätte bemerken können, was ich bin, fehlte mir noch der Grund. Natürlich war ich verliebt – aber eben natürlich. So wie ein siebenjähriger Junge eben verliebt sein kann. Die kleine Gabi mit Pferdeschwanz und Holzpantinen. Klapp, klapp! Schon von weitem war sie zu hören. Jeden Tag um die gleiche Zeit. Gabi, das Sommermädchen. Ich weiß nicht, was wir im Winter machten. Ich glaube, damals gab es keine Winter. Klapp, klapp! das war Gabi. Ein Geräusch, dass ich irgendwann vermissen lernen sollte.

Gabi lebte bei der Oma, ihre Mutter war woanders. Der Vater sowieso. Aber davon wusste ich nichts. Wir spielten Papa, Mama, Kind. Gabis Puppe wurde sehr verwöhnt, und ich war ein liebevoller Vater. Die Nachbarjungs spöttelten, aber ich blieb meiner Familie treu. Warum ich Gabi eines Tages, es war unter einem heiteren Himmel, die Treppe hinunter schubste, konnte ich nicht erklären. Auch Gabi nicht. Sie blutete an der Lippe. Aber sie war mir nicht böse. Als ich sie dann bei der Hand nahm, hätte ich, wenn ich es gewusst hätte, sagen können, dass ich sie liebte. Ein Versprechen, das jedoch nie ausgesprochen wurde, als ahnte ich bereits weshalb.

Die Sache mit der Sprache kam zu einer Zeit, als es anders geworden war. Eine lange Zeit später, und seit ein paar Jahren hatte man sich entschieden. Katharina für mich und ich mich für Katharina. Gabi spielte keine Rolle mehr. Was ich gewusst haben könnte, musste nichts mehr bedeuten. Katharina hatte ein eigenes Leben. Dass ich sie liebte, sagte ich auch ihr lange Zeit nicht; denn sie hätte glauben können, ich täte es meinetwegen. Katharina hatte eine Mutter und hatte einen Vater. Das genügte. Jedes Mal bevor ich sie berührte, suchte ich nach den passenden Worten. Die Suche viel mir zunehmend leichter. Ihretwegen. Sie zum richtigen Zeitpunkt in den Arm zu nehmen, war ein Lerneffekt. Ihn sinnvoll auszufüllen, ein Bedürfnis (auch wenn es schwer ist, Punkte auszufüllen, da machte ich mir nichts vor). Ihres, einen wohllautenden Satz herauszuhören, meines, ihm den nötigen Laut zu verleihen. So drang ich in sie ein und frönte dem Rest. Dass auch der irgendwann keine Rolle mehr spielen sollte, war mir Wissen genug. Oft saßen wir zusammen und ich sah sie Denken. Die Stimmung fest im Griff, nahm ich sie wahr; mehr hatte nicht zu sein, und damit konnte ich gut leben. Erst als ich ihrem Denken begann Rechenschaft abzuverlangen, anstatt es nur in mich aufzunehmen, hatten wir erkannt, wie es nicht weitergehen konnte.

Das hinter uns gebracht − und Gabi hat eine kleine Narbe auf der Oberlippe. Mehr weiß ich nicht von ihr. Sie ist schön, auch ohne Pferdeschwanz. Und Frau war sie geworden. So sieht sie mich, wie ich bin. Über die Bezahlung werden wir uns einig, sagte sie. Ich nahm es ihr nicht übel. Ich hatte es verdient, verstanden zu werden. Sie auch. Und alles hat seinen Preis.

Der glückliche Narr

Als hätte er sich ein paar Zentimeter auf die Seite geschoben, oder nach oben, oder nach unten, vielleicht auch nur Millimeter, jedenfalls war er und es nicht mehr deckungsgleich. Als ihm danach war zu merken, dass das so war, war es schon zu spät. Für die anderen. Für ihn selbst hätte es nie zu früh sein können, das glaubte er zu wissen. Dass er deswegen ein bisschen wie die anderen gewesen war, hatte ihm zu schaffen gemacht. Am Anfang, als ihm noch nicht danach war zu merken, dass es so war. Aber von nun an schien ihm kein Berg mehr zu flach und kein Wind mehr zu schwach. Mit Beweisen hatte er aufgehört. Seine Schritte hatten kaum mehr noch ein Vorkommen und seine Blicke entsagten allem Schweifen. Die Tage verloren das Hellwerden und die Nächte die Dunkelheit. So war das. Früher, als es noch nicht so war, war Alles scheinbar anders. Da war er Nachahmer gewesen, und sein Begehren vorgelebt. Da hatte er noch ins Ermessliche gezielt, weil ihm ein Maß vorgegeben war. Das war früher.

Und jetzt hätte man, wenn man das Früher gekannt hätte, ihn nicht mehr verstanden. Das lag vielleicht daran, dass er sich unwissender Weise selbst nicht mehr verstand. Und weil das so war, gelang es ihm, seine Verschiebungen zu seinen Gunsten zu leben. Auf einmal, und es schien tatsächlich auf einmal geschehen zu sein, nahm er das Leben nicht mehr wahr. Das heißt, das, was ihm Leben war, bekam eine neue, ihm völlig fremde Dimension – gleichsam ohne es hinterfragen zu müssen, musste es nicht mehr wahr sein. Und das war das Schöne daran. Alles, was ihm bis dahin quälerisch und schwer vorgekommen war, bekam etwas Leichtes, Schwebendes, Aus-der-Luft-Gegriffenes. War ihm immer gewesen, als ob er gar nicht anders konnte, erfuhr er das Jetzt fast als ein Wunder. So wie man sich wundert, wenn etwas Böses plötzlich gut wird oder etwas Unreines rein oder etwas Schales prickelnd oder etwas Wehtuendes angenehm.

Es fing damit an, dass er aufwachte und sich zwar wahrnehmen konnte. So wahr zu nehmen, wie er plötzlich war, hatte er sich aber nie getraut. Woher dieser Mut kam, wollte er gar nicht mehr wissen. Natürlich musste ihm das fragwürdig vorkommen. Aber genau diesen Gedanken denken zu brauchen, brauchte ihn nicht mehr zu kümmern. Denn die Versuchung, sie als solche anzunehmen, gewann ihren ursprünglichen Charakter, so als sei ihr nichts mehr bewusster, als ihr endlich zu erliegen.

Mutig wie er also geworden war, ging er auf die Straße. Und die Straße entpuppte sich als Spielfeld all dessen, was ihm spielerisch in den Sinn kommen wollte. Die Geschäfte glitzerten in ihrer bedarften Selbstverständlichkeit und selbst der Bettler davor vergewöhnlichte sich, als wollte er nicht anders. Die Männer flogen über die Trottoirs und er mittendrin. Die Frauen zeigten ihre Vorzüge, und es war kein Überwinden nötig, sich von ihren Reizen anstacheln zu lassen. Und selbst die Politik in den Zeitungen, die sich ihm allenthalben entgegen blätterten, schien ihrer Verantwortung gerecht zwar werden, weil es nicht anders ging. Verrückt, wie er früher war, hatte er alle Not, alle Widerwärtigkeit, alle Mühseligkeit ins rechte Licht gerückt.

Er ging hinein, in all das, was sich ihm bot, als gäbe es kein Halten mehr, und tatsächlich fühlte er das Glück zum Packen nahe.

Als er sich dann trotzdem, es war wieder auf einmal, nicht mehr erinnern konnte was war, hatte er das Leben fast hinter sich gebracht. Der Gedanke, der sich ihm aufdrängte, ob er etwas hätte anders machen sollen, war zwar nicht mehr der von früher, aber er wusste auch nicht mehr, was er zu bereuen hatte.

Fräulein Naumann

Ich ficke, also bin ich! Davon hatte ich damals keinen Schimmer. Weder vom Ficken noch von Déscartes. Ich wusste, dass ich zwei linke Hände hatte und eher von Wünschen geleitet war als von Wissen. Na ja, dafür geht man in die Schule, hätte ein Denkender sagen können. Aber der war weit und breit nicht in Sicht. Also begann ich, auswendig zu lernen. Kein Nachteil, bei genauer Betrachtung. Vielleicht hätte mich das Inwendige sonst nie so in den Bann gezogen. Immerhin erfuhr ich, ohne Erledigung von Hausaufgaben, wie leicht es sein kann, sich einen runter zu holen. Das ging sogar mit links. Also fing ich an, mich von Gefühlen leiten zu lassen. Ein Blumentopf war damit nicht zu gewinnen. Aber vielleicht überkam so mich ja die Lust, mich an Düften zu erfreuen; denn ich roch sehr begierig zu jener Zeit. Und unter Lust zu leiden, gefiel mir nicht schlecht, auch wenn ich sie damals noch mit Liebe verwechselte (oder gerade deswegen). Der junge Werther war kein schlechtes Vorbild gewesen, denke ich heute. So wie unser Freund, der Grieche, der mich mit ihm bekannt machte. Der Grieche war immer schon einen Tick weiter als wir (obwohl er mir im Leiden nachzustehen hatte, das war ich mir damals schon schuldig).

Fräulein Naumanns Deutsch war gestochen und ihre Stimme schrill und eindringlich genug, auch den Letzten zu erreichen, und das Respekt einflößende Rund ihrer Augen drohte durch gewaltige, hornumfasste Glasbausteine. Dass sie auch Frau war wusste der Grieche. Auch wenn der junge Werther nicht auf ihrem Lehrplan stand, hatte auch er sich ihr sicher irgendwann einmal angenommen.

Fräulein Naumann hatte einen dicken Hintern und trug mit Vorliebe enge Kostüme. Ihre wächserne Blässe betonte sie überrot mit Lippenstift, was sicher jedem auffiel, aber niemand hinterfragte – vom Griechen einmal abgesehen. Wahrscheinlich stand er auf dicke Hintern, und rote Lippen mussten nicht per se ein Versehen sein. Außerdem war er bildnerisch begabt und auch mit Farben kannte er sich aus. Er hatte Fräulein Naumann zur Frau gemacht und mich, ohne es zu wissen, dazu angeregt, verstehen zu wollen. Ich glaube, dass Psychologie mich so weit brachte, auch wenn ich nicht wusste, was das war (oder gerade deswegen).

Fräulein Naumann hatte ihre Lieblinge und die andern. Das war normal. Die einen gaben ihr eine Rechtfertigung, die andern mussten keine Rolle spielen. Sogar das Lesen verlernte ich bei ihr − vom Schreiben ganz zu schweigen. Aber auch unter den andern konnte man anders sein. Vielleicht habe ich das ja auch ihr zu verdanken, denke ich heute manchmal. Die Klasse musste ihr jedenfalls nichts anhaben, und das machte bestimmt ein wenig überheblich. Dass sie manchmal traurig war, war sicher eine andere Geschichte. Und sicher waren da Fantasien. Von einem feisten Mann vielleicht, so der Grieche, bestimmt sogar.

Old Mac Donald has a farm. Wenn sie sang, schien sie glücklich. Und die Ahnung des Griechen mir Befehl: Ich nehme ihr die Brille ab, schäle sie aus dem Kostüm, umfasse ihren Hintern. Sie flüstert mir etwas ins Ohr. Etwas Zärtliches zuerst, dann etwas Ungehöriges. Fordern erhält urplötzlich ein neues Gesicht. Ihre Wangen sind gerötet und ihre Augen halb geschlossen. Sie zittert ein wenig, so wie man zittert, wenn Gefühle nicht mehr gedacht werden müssen. Als ich in sie eindringe, scheint sie nicht mehr zu unterscheiden. Liebling wird man oft unversehens. Ich fühle, also bin ich. Das war neu. Für Fräulein Naumann − und für mich auch. Und selbst Déscartes hatte aufgehört zu denken, für einen Moment.