F l i e h e n d e F a u n e

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Harmonie

Wir hatten beschlossen, nur noch lieb zueinander zu sein. Also hatten wir weniger recht als sonst. Und wir staunten nicht wenig, wie möglich das war. Schon am Morgen lächelten wir uns an. Denn es gab keinen Grund, nicht zu lächeln. Zu lange war uns vorgegeben, zum Lächeln Gründe zu brauchen. Die Tatsache, miteinander sein zu dürfen, war Grund

genug, das hatten wir verstanden. Endlich. Keine Zärtlichkeiten waren zärtlicher als jetzt, denn sie konnten gemeinter sein. Man wusste voneinander, und das war gefühlter als Alles. Wir hatten Abstand genommen vom Rest und Interesse wörtlich.

Du sagst, das sei schwer? Du sagst, das nutze sich ab? Du sagst, man suche das Neue? – Ja, so sagt man. Nur – wer will das schon wissen?!

Alles Große ist im Kleinen, alles Viele im Einen. So waren wir also im Lernen begriffen, alle Zweifel daran endlich aufzugeben.

Warum sie mich verlassen hat, willst du wissen? −

Liebe und so

Es gibt Momente, da man nicht anders kann, als das Gefühl zur Wahrheit zu erklären. So hatte ich sie kennengelernt. Das Wesentliche auf Sein konzentriert. Als wir uns begegneten, war alles sehr einfach. Ich liebte ihren Körper und sie meine Art. Mein Zunahetreten ganz besonders. Daran hatte ich lange geübt; denn es durfte nicht so aussehen. Das musste sie nicht wissen. Zu wissen, das Gewollte nicht in Worte fassen zu müssen, war genug; die Sprache neu erfinden zu dürfen, ein großer Vorteil. So saßen wir uns gegenüber. Sie sprach vom Heute und der Möglichkeit im Morgen, ich schwieg ums Gestern, mit Bedacht, nahm ihre Hand und ging aufs Ganze. So fing es an.

Die Zeit hatte sich noch nicht im Griff, das durfte gefallen. Die Morgen geschwängert von der Fülle der Nacht, die Tage angefüllt von dem, was sie versprachen. Wie schön. Und die Jahreszeiten schienen sich ein Beispiel daran nehmen zu wollen. Doch Versprecher schlichen sich ein so nach und nach. Während sie gelobte, begnügte ich mich mit Loben: wie schön du bist. Und wir genügten uns für ein Weiteres.

Dass die Nächte träumerischer wurden und die Tage zehrender, lernten wir handhaben. Ihre Hände nahmen sich zurück, meine wussten, sich auf mich zu beziehen. Und das war auch irgendwie normal.

Satie

Jetzt hatte er sich tatsächlich verliebt.

Nun, man muss sich nicht wundern, wenn man sich verliebt. Es passiert. Da gibt es Haut und manche, die sich aufstellt. Er wusste Bescheid. Über die Zeit − und wie man sie vertreibt. Sich und überhaupt.

An diesem Abend hatte er nichts Besseres vor. Nur für einen Moment dachte er an Sex oder so. Und dann geht alles schneller, als man glauben kann. Die Melodie ist im Kopf. Und hat auch sonst durchaus eine Wirkung.

Satie hatte es ihm angetan und das Große im Kleinen. Ein kurzes Auf und ein kurzes Ab und doch nie Dasselbe. Aber Hauptsache so. Die Wochenenden konnten gut ausgefüllt sein damit. Und unterdessen war es auch sonst nicht anders.

Und jetzt hatte er sich tatsächlich verliebt. −

Reife

Und dann war ich älter geworden und hatte verstanden: Mit den Menschen ist es einfach. Und dass ich das Verstehen so lange nicht wahrhaben wollte, erklärte Vieles.

Natürlich hat alles seine Zeit und jeder Abschnitt seine eigene. Hat man das Leben noch vor sich, neigt man zur Unmäßigkeit. Sagen die Erfahrenen. Als ich beschloss, für immer unerfahren bleiben zu wollen − der Erfahrung zuliebe −, hatte ich noch keine feste Vorstellung davon, worauf ich auswar mich einzulassen. Trotzdem maß ich ihr alle Bedeutung bei, die mir wunschbefohlen zur Verfügung stand.

So saß ich, Abend für Abend, vor einem neuen, leeren Blatt Papier, zähe Ahnung in vollendete Form zu bringen. Jahre vergingen. Zweifel stellten sich ein. Grundsätzlichkeiten machen wenig Mut, ein Grund mehr zu zögern. Und glibbernde Veränderungen sind keine, immer finden sie zurück in alte Muster. Und so alles Ausdruckswerte.

Und dann war ich älter geworden und hatte verstanden.

So ein Tag I

Er hatte noch einiges zu erledigen heute. Er hatte sich vorgenommen, ein paar Dinge zu erledigen, die er schon seit Wochen vor sich herschob: Bescheinigung von der Krankenkasse, Überweisung der Studiengebühren, Rückmeldung an der Uni, zwei Glühbirnen fürs Bad, eine neue Dichtung fürs Siphon an der Spüle. Am Abend blickte er mit Genugtuung auf das Geleistete. Er nahm sich eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank und steckte sich eine Zigarette an. Das war am Mittwoch. Donnerstag und Freitag besuchte er Vorlesungen, die er schon lange nicht mehr besucht hatte. Am Samstag wachte er auf und konnte sich nicht bewegen. Sein Blick ging übers Bett zum Fußende, streifte eine guten halben Meter Teppichboden, kletterte langsam die weiße Raufaser nach oben, brach sich im Winkel von Wand und Decke, kroch weiter, Zentimeter um Zentimeter, bis er als Senkrechte zum Stillstand kam. Jetzt hieß es so bleiben. Oder doch wieder zurück? Und das Wörtchen quoll in seinem Kopf und wurde rund, weich und anschmiegsam – zum Streicheln schön. Denn es war ja nicht so, dass da nichts war: Button und Bibel, Mime und Mimose – und eben jene fast sakrale Unbefangenheit, die in Begegnung mit alltäglichen Forderungen in seltsamer Schwerelosigkeit die Oberhand behalten konnte.

Es war sehr hell geworden im Zimmer. Sonne und Himmel eine penetrante Eintracht. Jetzt aufstehn! Etwas tun! Etwas Besonderes, Nachhaltiges, Unmäßiges. ‒ Nachdem er onaniert hatte, ging er ins Bad und betrachtete sich im Spiegel. Er entdeckte einige Unregelmäßigkeiten. Die Welle um die Nabelpartie hatte sich über die Hüftknochen ausgedehnt. Übergebrandet. Der Bierkonsum begann, seine Spuren zu hinterlassen. Wenigstens Spuren. Ein säuerlicher Gedanke, fast schmeckte er ihn. Als wäre er seinem Magen entsprungen. Seinem geschundenen, übernächtigten, der Sublimierung anheim gegebenen Magen. In seinem Gesicht hingegen waren vergleichbare Spuren kaum zu entdecken. Keine jedenfalls, die ihn hätten beunruhigen müssen. Ein paar geplatzte Äderchen um die Nase herum vielleicht, die er leichthin mit Veranlagung erklärt. Ansonsten physiognomisch markant (und für das andere gibt's Antacida). Langsam begann der Morgen sich auszupferchen, mit dem bewährten Wissen verbunden, dass der Tag, dieser wundervolle, warme Sommersonnentag es verdient, abgrundtief als ein solcher empfunden zu werden. Das sich im Begriff der Entwicklung befindliche Tun hatte der Angleichung zu erliegen. So musste es sein. Freuen sollte er sich. Einfach freuen. Und Gründe gibt es schließlich genug. Ist es doch so einfach, etwas schön zu finden, braucht's doch nur wenig Fantasie, selbst aus einem Mangel einen Wert zu ziehen, denkt man doch viel zu selten daran, wie schön es ist, zum Beispiel keinen Gehirntumor zu haben, oder einen Tripper, oder einfach nur keinen dicken Kopf, trotz der zehn Bier am Vorabend. Positive Negation. Optimistischer Nihilismus. Das Leben kann in Widersprüchen lebenswerter sein als man glaubt; denn in der Regel genügt ja wirklich nur ein halbwegs geschicktes Taktieren, um aus einem Ja ein Nein zu machen, aus einem Gut ein Böse – oder umgekehrt.

Nach und nach begann der Tag ihn anzugehen. Vorsorglich. Mit der probaten Erkenntnis verbunden, dass eine Verweigerung, wie alles im Leben, nur eine begrenzte Haltbarkeitsdauer hat. Wie fast immer in solchen Situationen, pflegen in erstaunlicher Eindringlichkeit sich seine Gedanken dann auf Frauen zu konzentrieren. Auf Frauen in all ihrer mannigfaltigen Ausprägung. Und zuvörderst auf solche, die noch kommen sollten.

Es war heiß auf der Straße. Er genoss die Hitze. Hektische Züge scheinen sich zu verlieren an heißen Tagen. Selbst denen, die nichts einförmiger zur Schau tragen als Geschäftigkeit, gerät ihre sonst so unerhörte Wichtigkeit in den Bann eines Dösens − einer lächelnden Langsamkeit. Jetzt ein Café (für eine Kneipe noch zu früh), im Freien sitzen und beschaulich flanieren lassen. Der Gedanke Warum nicht immer so? drängt sich auf − ohne der ach so berechtigten Fragwürdigkeit dieses Gedankens auch nur den geringsten Raum zu lassen. Und das ist gut so. Ein Tag wie er im Märchenbuche steht. Jetzt eine Frau mit großem Herzen und noch größeren Brüsten. Und wenn nicht jetzt, dann vielleicht später. Er hatte es nicht eilig. Und das war schön so.

Es gibt Minuten, Stunden, manchmal Tage an denen einem Dinge klarer erscheinen als sonst. Alle Fragen sind entzaubert und alle Antworten unwürdig, erfragt zu werden. Kein Verbergen und keine Vertuschungstaktik haben Chancen unverstanden zu bleiben. Also, und all dessen sich bewusst, so plötzlich geworden aber doch nicht neu, sieht er wie sie kommen und gehen, Händchen haltend und Arm umgreifend, Kinder geschultert und Plastiktüten schwingend. Es ist ja Samstag. Man flaniert. Seliges Lächeln. Philantropisiert und mit einem Unendlichkeitsglauben infiziert. Wie machen die das bloß? fragt er sich dann mitleidvoll und jedes Mal.

So um die zwölfte Stunde fing er an Bier zu bestellen. Weißbier aus der Metropole. Es war an der Zeit sich einzutrinken. Warum er bestimmten Flaneuren weniger Mitleid entgegenbrachte? – vielleicht, weil die, die er meint, ja ein wenig müßiger, ein wenig öfter auch ihren Bauch einsetzen als andere. Am Chinaturm oder am Flaucher. Wo es seinen Freund, den Sänger, hinzieht in den ersten Frühlingstagen, wie er dichtet. Wesensgleiches mildert Wirklichkeiten, macht sie angreifbarer. Und wirklich ist, dass weiterhin geschieht, was immer geschah. So auch dieses Mal. Als er zum ersten Mal sich der Fatalität der Einzigartigkeit gegenübersah, weigerte er sich wehmütig, diesen Gedanken weiterzuspinnen. Und auch jetzt wieder holte er sich eine passende Pose aus dem großen Topf der facialischen Möglichkeiten. Schon lächelte er ihr zu.

 

Sie hatte am Tisch nebenan Platz genommen. Sie hatte sich einen Kaffee bestellt und blätterte in der Rundschau. Dem Verdacht sich anbahnender Theatralik wich Theater. Schon als Kind hatte er sich oft ein Spiel daraus gemacht, in andere Personen zu schlüpfen. In Serienhelden und Spielfilmrollen. Mehr in Serienhelden. Und er liebte Sensationen. Beherrscht man das Spiel, ist alles einfacher. Man kann aus der Deckung heraus agieren und drohende Tiefschläge, mögen sie noch so zielsicher sein, prallen ab ‒ denn man ist nicht gemeint.

Ihr Lachen war sehr nett. Sie hatte sich noch einmal umgedreht im Gehen, und er dachte – Aber nein. Ganz sicher besser so. Und er war gar nicht enttäuscht. Er sah auf die Uhr. Es war gegen Eins.

Es gibt Phasen im Leben, wo einem so ziemlich alles gelingt, das endgültige Gelingen an sich dann aber sogar zweitrang wird; weil das zur Erfüllung Anstehende in solchen Phasen nicht auf das Ziel gerichtet ist, sondern sich mit der so empfundenen Leichtigkeit begnügt. Alexandra. Und vierzehn rhythmische Zeilen ein Kinderspiel. Man musste nur wollen. Und die Attraktion hängt von der Mischung ab. Er hatte seine Erfahrung. Ein paar Träume, weich und wattig, zwischen feisten Engeln reifend, ein bisschen Schwanz und Herz in einer Blüte kopulierend und eben der Rhythmus, für den er ein erstaunlich sicheres Gefühl habe, wie sein Freund, der Sänger, einmal neidlos gestand. Am Ende war er sehr zufrieden mit sich ‒ Sonett an Alexandra.

Mittlerweile ein Hungergefühl. Der Übergang hatte fließend zu sein, das wusste er, das war Bedingung an so einem Tag. Der Weg ins Nordend führte ihn an seiner Wohnung vorbei, doch keine Unterbrechungen jetzt. In der Kneipe einen Salat, vielleicht ein Chili hinterher. Dann allerdings folgt die Zeit des Ausharrens. Ein Freund tut gut in solchen Momenten. Oder auch nur ein Gespräch mit dem Wirt: Weißt du noch, damals …?! und ein paar Zoten zum Auflachen. Dann tritt SIE ins Geschehen. MANN sieht FRAU, und der Rest wie von selbst an so einem Tag. Worte. Aus schier unerschöpflicher Quelle. Sprudelnd. »Du schreibst Gedichte?« Große Augen. »Einzig für Dich noch.« Geübtes Lächeln. Der Kerl an ihrer Seite fletscht die Zähne, das ist normal.

Angekommen, dann endlich, kann das Benehmen breiter werden. Epischer nennt er es manchmal, des Vergleiches wegen und weil er um Rücksichtnahme weiß. So begann er von dem zu sprechen, das erwartet wird, so wie sie Fragen beantworten durfte, die zu stellen man sich verpflichtet fühlt. Der Bogen wird geschlagen, wie es sich gehört: vom Heute zum Gestern ‒ wo er, wie gewohnt, für eine Weile verweilt –, um dann mit einem mächtigen Satz in der Zukunft zu landen, der Vollständigkeit und der geforderten Ganzheit halber. Natürlich, ohne sich dort wohl zu fühlen, wie er sich gleich mitteilt, mit vielsagendem Lächeln, das sie so vielleicht nur noch nicht zu deuten versteht. Er sei ein Mensch der Erinnerungen, sagt er dann, dabei das Lächeln, wie er meint, vom Mehrfachen befreiend − ohne es jedoch ins Einfache abrutschen zu lassen. Sie sollte schon das Interesse an Nachfragewürdigem nicht verlieren.

So verlief der Abend, der zu diesem Tag gehörte, dem Plan entsprechend. War bis dahin sein Tun der letzten Stunden fast ausnahmslos von Automatismus bestimmt, bestimmte ihn von nun an eine Selbstverständlichkeit, die er, wie er einmal rückblickend feststellte, gerne als beseelt bezeichnen würde, setzte er sich damit nicht dem berechtigten Vorwurf aus, pathetisch zu wirken. Also wich er der Möglichkeit aus, ein neues Wort zu finden, indem er es vermied, weiter darüber nachzudenken. Manchmal ist es eben doch besser, nicht alles gleich in Sprache zu zwingen, was einem die vielschichtige Natur mit auf den Weg gegeben hat. Dass es einmal eine Epoche gegeben habe, da das Schweigen eine ganze Literaturlandschaft beherrscht habe, sagte er, und das sollte nicht als Entschuldigung verstanden werden. Ihr gar nicht die Möglichkeit zu geben, es als eine solche zu begreifen, ließ er keine Zeit verstreichen, zu den Begreiflichkeiten überzugehen.

Wenige Tage vergingen. Eines Morgens wachte er auf und konnte sich nicht bewegen. Die Sonne war ihm dieses Mal egal.

altruismus

ich liebe dich unsagbar

du bist die frau meines lebens

deine seele ist mir so vertraut

und dein körper verspricht unerträgliches

deine nähe nimmt mir alles denken

deine ferne schenkt mir mehr und mehr

alles, was du dir verdenkst zu sagen

schwillt in meinem kopf, wird mein begehr

so deine absicht

meine nimmt es leicht

wie das gespür da aus den lenden reift

meinen − und sind uns plötzlich gleich

mit keiner mühe weide ich auf deinem wesen

was mir leichthin frommt − dich feilt

ich habe dich in meinem mein verkörpert

und ich erdring‘ mir alle möglichkeiten

im heute werden wir uns wahrlich preisen

und morgen weiß nur gott warum

ach der, mit diesem langen bart −

und wie schön du zöpfe flechten kannst

ich bin dir hold

wenn meine finger über weisen kreisen

und dein ich mit meiner lieb‘ bescheißen

Vorfall mit Mädchen

Der Zug macht keine Umwege. Die Strecke bleibt dieselbe. Vielleicht fährt er manchmal an bestimmten Stellen langsamer, manchmal schneller, die Richtung ändert sich nie − oder ganz. Die gleichen Bilder, die vorbeifliegen, ohne noch recht wahrgenommen zu werden. Nur selten wundert man sich, über einen Baum, vielleicht, und wenn, dann nur sehr kurz; denn eigentlich weiß man ja, dass er auch gestern schon dastand, und vorgestern, und überhaupt. Ganz ähnlich geht es mit dem Gegenüber, dem Schräg-Hinten, dem Zwei-Sitze-weiter-Vorne.

Anders an diesem Morgen. Schulklasse vermutlich. Er schätzte sie auf sechzehn. Höchstens. Audrey Hepburn, dachte er unwillkürlich. Und er hasste Audrey Hepburn. Keine Titten und ewig jungfräulich. Wenn sie einen ansieht, scheint man sich regelmäßig schämen zu müssen. Für etwas, das man nicht getan hat. Entschuldigung! War nicht so gemeint! Wird nicht wieder vorkommen! Jemand, dem man unmöglich wehtun kann − und ihm die Arme so gerne nach hinten drehen möchte. Hätte sie wenigstens Pickel im Gesicht, aber nein! Rein, reiner geht‘s nicht. Kurz trafen sich ihre Blicke. Sie lächelte. Mit diesen allzu vollen, leicht geöffneten Lippen. Wunde fiel ihm ein. Eine offene. Sinnlich nur scheinbar. Und sie? Ungeschickt sicher, und sicher angeekelt. Du bist ein Schwein. Die Kleine scheint permanent zu lächeln. Wenn du wüsstest, kleine Audrey!

Sie unterhielt sich. Teilnahmsvoll desinteressiert. Es gab einmal eine Zeit, da wurde Konversation gemacht − sie würde hineinpassen in diese Zeit. Warten, Lächeln und Sonnenuntergänge. Und im Sommer im Schatten sitzen. Und Spaziergänge an Strandpromenaden. Und warten. Auf den ersten Kuss. Dann Gefühle. Und irgendwann der Wunsch, sich hinzugeben, sich zu verschenken. – Nein, nicht geschenkt möchte er sie haben.

Der Zug näherte sich dem Bahnhof. Wie zufällig kam er hinter sie zu stehen. Langsam bewegte man sich der Schiebetüre zu. Dann, wie absichtslos, die Berührung. Er sehr erregt. Ruckartig wandte sie sich um. Große Augen, offener Mund. Mehr Staunen als Empörung. Und als hätte sie sich geirrt, als sei alles nur eine Täuschung gewesen − was ja auch viel wahrscheinlicher schien −, lächelte sie. Und er musste sie ansehen. Sich dieser elenden Vorstellung hingeben, die ganze Welt starre ihn an. Heißes Rot stieg ihm ins Gesicht. Jedoch die Peinlichkeit schlug um, unversehens, und an ihre Stelle trat Wut, ungeahnte. Überlegen das Gefühl und nahezu unbändig die Lust, diesem makellosen, weißen Lächeln eine Narbe beizubringen. Wie von selbst bekam er ihren Kopf zu fassen. Fast grob fuhr seine Hand in ihre Haare − dann sehr nah. Zähne spürte er und für Sekunden ihren ganzen Körper. Doch so, wie aus Scham Wut, aus Wut Überlegenheit wurde − auf einmal nur noch Zärtlichkeit. Nichts als Zärtlichkeit. Kleine Audrey, dachte er. Du süße kleine Audrey. Und als hätte es dieses Zwischenfalles bedurft, dachte er: Verzeih mir! Es war nicht so gemeint! − Nein, natürlich war es nicht so gemeint. Seine Hände entspannten sich. Seine Arme erschlafften. Er sah sie nur an.

Zwei Freunde

Warum ich gerne mit ihm war, hatte mit mir zu tun. Kann sein, ihm ging es ähnlich.

Es fing an, als die Anfänge an den schmalen Grat zu denken stießen, den der Mensch sich wünscht zu überschreiten. Ein bisschen anders sein, hat damit zu tun. Und jeder hatte sein Eigenes, von sich überzeugt sein zu wollen. Kann sein, wir sprachen nicht davon. Allein vielleicht der Gedanke, nicht anders zu können, machte unsere Nähe aus. Von der Zeit angezogen, die den Anschein vermittelt bekommen hat, ausgefüllt sein zu müssen, taten wir unser Bestes. Sie anstandslos mit Vergeudung auszustatten, war nur folgerichtig. So tranken wir uns in die Nächte und lachten herzerfrischend. Gegönnt wurde uns das nicht; denn das Leben ist bekanntlich nicht zum Lachen.

Als wir anfingen zu weinen, taten wir das jeder für sich und jeder auf seine Weise. Als hätten wir es nicht besser gewusst, hörten wir auf, etwas Besonderes zu sein. Er tat das sehr rigoros.

Manchmal rede ich noch mit ihm. Dann schaue ich ins Jenseits hinüber und sehe ihn schmunzeln. Wir trinken uns zu, und gestern erst las ich ihm eine Geschichte vor. Ich glaube, er mochte meine Geschichten. Einmal nahm er mich in den Arm. Eine Geste, die ihn sicher große Überwindung kostete; denn er schien für so was nicht gemacht. Er konnte umarmen, ohne es dich spüren zu lassen, das jedoch spürbar. Vielleicht fiel es mir deswegen so leicht, auch ihn zu mögen. Was ich wusste, ich hätte ihm noch Einiges sagen wollen. Im Leben kommt man oft zu spät, wie erst im Tod. Du hast dich zu wenig geöffnet, hätte ich sagen wollen, und du warst dir nie gut genug, und du hast geblutet. Das alles hätte ich noch sagen wollen. Und wenn ich jetzt Unsinn rede, kitschig werde, übertrieben in Gefühlen dusele oder sonst dir peinlich sein sollte, bist du der Einzige, der mich zurechtweisen darf.

Während ich mich öffne, mir gut genug bin und mich nach dem Blut der andern sehne, denke ich nicht an ihn. So als hätte ich nicht verstanden. In diese Momente einverleibt, glitzern Sterne, galoppieren weiße Pferde, locken Geschlechter. Festgekrallt im Sonnenaufgang tapern kleine Wünsche, werden groß. Und ich mit ihnen.

Es sei nicht richtig, ihn zu beneiden ... Manchmal höre ich seine Stimme, wenn ich so denke. Er klingt sehr gelassen. Dann beschließe ich, ihm etwas vorzulesen.

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