Im Reformhaus

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Reihe zu Klampen Essay

Herausgegeben von

Anne Hamilton

Jürgen Kaube,

Jahrgang 1962, studierte

zunächst Philosophie, Germanistik und Kunstgeschichte, im Anschluß daran Wirtschaftswissenschaften. 1999 trat er in die Redaktion der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« ein, wo er unter anderem als Ressortleiter für die »Geisteswissenschaften« und für »Neue Sachbücher« zuständig war. Seit 1. Januar 2015 ist er Mitherausgeber der FAZ. Zuletzt sind von ihm erschienen: »Otto Normalabweicher. Der Aufstieg der Minderheiten« (2007) sowie

»Max Weber. Ein Leben zwischen

den Epochen« (2014).

Jürgen Kaube ist Träger des Ludwig-Börne-Preises 2015

J Ü R G E N K A U B E

Im Reformhaus

Zur Krise des Bildungssystems


Inhalt

Cover

Zum Autor

Titel

Einleitung

Bildungsziele und Bildungsreden

Was Schule leisten soll und kann

Erziehung oder Sozialisation?

Pygmalion, der Habitus und die Soziologie der Karriere

Bologna und die Folgen

Universität, Prestige, Organisation

Die wollen doch nur spielen: Vom Rückzug des Streits aus den Wissenschaften

Hochschule als Unternehmen

Zur Lage der Geisteswissenschaften

Wachstum als gemischtes Vergnügen

Was die Mode streng geteilt

Diskursive Klingeltöne

Der Essay als Freizeitform von Wissenschaft

Nachweise

Impressum

Fußnoten

Einleitung

WER von einer Krise des Bildungssystems spricht, muß diese Diagnose mit der Tatsache abgleichen, daß immer mehr erzogen, immer mehr geschult und nachgeschult, immer mehr bildungspolitisch angeschoben wird. Seit den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts expandiert das Bildungssystem in historisch singulärer Weise. Gab es im Jahr 1900 weltweit etwa eine halbe Million Studenten, was einem Prozent der Altersgruppe entsprach, so sind es derzeit etwa zwanzig Prozent eines Weltjahrganges. Das gilt über alle nationalen Entwicklungsstadien hinweg. Algerien beispielsweise hat heute doppelt so viele Studenten wie Deutschland um 1900, Deutschland hat heute siebzig Mal so viele wie damals, im Jahr 1900 wiederum gab es in Algerien gar keine Universität.

»Krise« kann auch nicht heißen, daß zuwenige Maßnahmen erfolgen. Kein Monat vergeht, ohne daß gute Reden gehalten, Investitionen getätigt und neue Gesetze verabschiedet werden, um durch Bildung zu sichern, was gesellschaftspolitisch erwünscht ist: Wohlstand, Aufstieg, Gerechtigkeit. Und »Krise« heißt auch nicht, daß Deutschland in den internationalen Vergleichstabellen auf unbefriedigenden Plätzen steht. Vielmehr gehören die Vergleichstabellen selbst zur Krise, weil man schlichtweg diejenigen ungebildet, oder trockener formuliert: uninformiert nennen muß, die viel auf sie geben, ohne ihre statistischen Anhänge zu lesen, denen man die Durchschnittsgröße einer finnischen Schule, die größte Einwanderergruppe in Finnland oder die finnische Jugendarbeitslosigkeit entnehmen kann. Das nämlich erst würde einen realistischen Blick auf die Vorbildlichkeit der Tabellenführer ermöglichen. Weder das bloße Geldausgeben noch die Reformdynamik oder das Auf und Ab in den Rangtabellen sagen irgend etwas über den Zustand des Bildungssystems, außer: daß es zu seinem Zustand gehört, wenn nichtssagende Kenngrößen ernst genommen werden.

Als die Bundesregierung vor sechs Jahren der sich abzeichnenden Rezession entgegenwirken wollte, waren ihr nach den Automobilen und den Straßen zuletzt auch noch die Schulen eingefallen, für die man Geld ausgeben könnte. Gewiß sind im Bildungsföderalismus dem Zentralstaat enge schulpolitische Grenzen gesetzt. Doch daß es einer tiefen Wirtschaftskrise bedurfte, um besondere Maßnahmen zur Instandsetzung von Schulgebäuden zu ergreifen, hatte gleichwohl eine eigene Aussagekraft. Wir restaurieren Schulen nicht, weil sie uns am Herz liegen und anderes als einladende Schulgebäude für ein wohlhabendes Land eine Schande wäre, sondern um die Konjunktur zu beleben. Dieser Logik zufolge würden wir eine reiche Bevölkerung einer klugen vorziehen.

Das fällt in den Bildungsdebatten unserer Tage nur darum nicht auf, weil sie es zum Gegensatz von wirtschaftlichem Wohlstand und Bildung erst gar nicht kommen lassen. Für die meisten Politiker sind Bildungsfragen ganz unmittelbar und in erster Linie Fragen des Erhalts von industriellen und dienstleistungsbezogenen Arbeitsplätzen. Wer die Jugend hat, der hat die Zukunft, hieß es einmal. Und wenn es die Wirtschaft ist, die für die Zukunft sorgt, sofern wir das Land »zukunftsfähig« machen, dann hat, wer die Bildung hat, auch die Wirtschaft. Darum hören sich Bildungsreden seit einiger Zeit so an: Zuerst wird betont, daß wir in einem rohstoffarmen Land leben. Wir haben weder Erdöl noch Gold oder Aluminium. Zwar gibt es bei näherem Nachdenken nur sehr wenige rohstoffreiche Länder, in denen man gerne leben möchte; die allermeisten sind bettelarm, verödet und in der Hand von Räuberbanden, einige wenige reine Rentiersökonomien auf der Grundlage von Öl mit schwach alphabetisierten Bevölkerungen.

Aber die typische Bildungsrede will ja nicht selbst Kenntnisse oder Intelligenz demonstrieren, ihr genügt es, deren Mehrung für andere in Aussicht zu stellen. Also folgert sie aus der Rohstoffarmut, daß wir nur »unsere Köpfe« haben. An dieser Stelle muß dann das Wort »investieren« fallen. Wir müssen in die Köpfe investieren, denn sonst droht unser Weltmarktabsturz.

Hier erscheint es den Bildungsrednern eindrucksvoll, die Zahl der Ingenieure zu erwähnen, die von den indischen und chinesischen Universitäten ausgebildet und demnächst gegen uns arbeiten werden. Da diese Zahlen irgendwo in der Nähe der bundesdeutschen Gesamtbevölkerung liegen, verstärkt das einen Eindruck, auf den man in der Bildungsrede später noch zurückkommen kann und der vor allem Hochschulpräsidenten im Publikum mit den Köpfen nicken läßt, den Eindruck nämlich, daß wir langfristig um eine vollständig durchpromovierte Bevölkerung kaum herumkommen werden. Gern verwendet wurde bis vor kurzem auch die Zahl der deutschen Nobelpreisträger nach 1945. Jene Zahl ist aber zuletzt, zumindest gefühltermaßen, sprunghaft angestiegen, bedauerlicherweise ohne jeden erkennbaren Zusammenhang mit Bildungsreformen. Das dürfte diese Kenngröße ein paar Jahre lang für Bildungsreden ungeeignet machen.

Je nach politischer Couleur und Amt wird an dieser Stelle der Bildungsrede dann die Abzweigung zu einer Klage darüber genommen, daß wir zuwenig in unsere Köpfe investieren. Die deutschen öffentlichen Bildungsausgaben in Prozent am Bruttoinlandsprodukt liegen beispielsweise hinter denen von Slowenien und Italien. Oder man weist umgekehrt darauf hin, was in den vergangenen Jahren schon alles zur Besserung der Bildungslage geschehen ist. So oder so fällt das Wort »Begabungsreserve«. Das kann in einem Abschnitt darüber geschehen, daß das deutsche Bildungssystem – gemeint sind hier die Schulen – zu viele Talente auf der Strecke läßt, weil es hochgradig ungerecht ist. Dafür werden wahlweise Pisa-Zahlen zitiert, Befunde über die Schullaufbahn von Kindern bildungsarmer Kreise, OECD-Vergleiche, nach denen es andernorts ganz anders zugehe, oder der aktuelle Anteil von Arbeiterkindern an der Studentenschaft.

Hat man auf diese Weise einen hohen Handlungsbedarf nachgewiesen, bleibt noch, ihm die Richtung zu weisen. Das ist nun nicht mehr schwer, denn Zahlen, die zu gering sind, rufen zu ihrer Erhöhung auf: Wir brauchen mehr Abiturienten und mehr Studenten. Derzeit sind gut vierzig Prozent eines Jahrganges studienberechtigt, gut dreißig Prozent studieren. Setzen wir uns also zum Ziel, diese Anteile um, sagen wir: zehn Prozent zu steigern. Man könnte auch fünf Prozent sagen oder fünfzehn. Es liegt an den Zahlen nur, daß sie wachsen, so wie auch niemand fragt, was genau in Slowenien und Italien mit den höheren Anteilen des Bildungsetats am Sozialprodukt denn geschieht oder wie sich die Chancen eines deutschen Realschülers, Beschäftigung zu finden, zu denen eines finnischen Abiturienten verhalten.

 

Abiturienten sind außerdem meist Gymnasiasten, und Gymnasiasten sind Schüler, die nicht auf der Haupt- oder Realschule sind. Setzen wir uns also das Ziel, erst die Haupt- und dann die Realschule abzuschaffen, das dürfte die Zahl der Abiturienten erheblich erhöhen. So lautet an dieser Stelle die sozialdemokratische Redevariante. Bei ihr ist allerdings – Achtung, Wahlkampf! – nicht von »Abschaffung des Gymnasiums« zu sprechen, sondern von »Länger gemeinsam lernen«. Christdemokraten halten davon weniger, weshalb ihnen aber nur bleibt, eine Erhöhung der Bildungsquote durch Herabsetzung der Leistungsanforderungen zu erwirken. Denn wo sonst soll sie herkommen, die effiziente Bildungsvermehrung? Wenn an Hamburger Realschulen ein Schüler, der in einer Klassenarbeit die Hälfte der gestellten Fragen beantworten kann, inzwischen eine Zwei erhält – es gab Zeiten, da reichte dies in jeder Schulform gerade mal so eben für ein »ausreichend« –, dann ist das Hinweis auf die auch beim Abitur erforderlichen Maßnahmen. An den Hochschulen wird bereits seit einiger Zeit so verfahren.

Wir brauchen, sagt die Bildungsrede schließlich, »mehr Bildungsbeteiligung«. Zugleich sollen aber auch alle Bildungsbeteiligten sich schneller bilden. Deshalb wurde flächendeckend die achtjährige Gymnasialzeit eingeführt, es war ja »Luft im System«; in demselben System, das zunehmend studierunfähige Absolventen hervorbringt, denen von den Hochschulen – ebenfalls in kürzerer Zeit und darum ebenfalls unter Entwertung der Abschlüsse – das Prozentrechnen und das Bücherlesen beigebracht werden müssen. Und sie sollen natürlich in der kürzeren Zeit auch mehr von dem lernen, was sie für die Globalisierung wirklich brauchen: Wirtschaftskenntnisse, Chinesisch oder Spanisch, Medienkompetenz, Gesundheitskunde, Teamfähigkeit, Präsentationstechniken, Ethik. Natürlich sind auch Latein (Abendland), Musik und Tanz (der ganze Mensch), Mathematik (Ingenieursbedarf) und Biologie (Gentechnik) »wichtiger denn je«. Mehr Stoffe, schneller, für immer größere Kreise, bei konstanten Ausgaben – nun, es sind Wertereden, die keine Rücksicht auf Knappheiten oder den Verstand nehmen müssen.

Machen wir es kurz: Der beste Indikator für die Krise des Bildungssystems sind die Reden, die zu seinem Wachstum aufrufen. Denn sie zeigen nicht nur einen Mangel an Kenntnissen und Logik bei denen, die sie halten. Sie beweisen auch, daß ihnen jegliche Anschauung von Schulen und Hochschulen fehlt.

Bildungsreden haben oft etwas Deprimierendes. Nicht nur, weil sie so undurchdacht sind, und auch nicht, weil es keine Taten gäbe, die man auf sie beziehen könnte. Leider gibt es solche Taten durchaus. Wir kennen sie unter dem Titel »Reform«, und sie sind gerade dabei, unsere Universitäten ganz sinnlosen Belastungstests auszusetzen sowie das Lehrpersonal an den Schulen zu zermürben. Die Tristesse der gängigen Bildungsrede besteht vielmehr darin, daß sie sich Bildung nur als eine Durchgangsstation zu etwas Besserem vorstellen kann: zu Wohlstand, Aufstiegsmobilität, Wettbewerbsfähigkeit.

Gewiß wäre es töricht, den Zusammenhang zwischen einer gut ausgebildeten Bevölkerung und dem Wohlstand eines Landes zu leugnen. Alle ökonomischen und soziologischen Studien, die sich damit befassen, sprechen dafür, daß Schulen und Universitäten, die funktionieren, einer Gesellschaft guttun. Aber angenommen, der Wohlstandszuwachs bliebe auch mit mehr Abiturienten und besseren Hochschulen und einer intelligenten frühkindlichen Erziehung aus, weil selbst finnische oder kanadische Bildungsverhältnisse nicht verhindert hätten, daß die Lehman-Bank den Bach heruntergeht. Angenommen, man studierte und stiege trotzdem nicht auf. Wäre Erziehung dann gescheitert? Hätten wir uns dann die Kosten und die Zeit für Bildung lieber erspart? Das Elend der Bildungsdebatte liegt in der Unfähigkeit, die Schule als Schule und die Universität als Universität wertzuschätzen: ihre Anforderungen, ihren Eigensinn, ihre guten Traditionen.

Das reicht bis in elementare Einstellungen hinein. Wer heute ein Kinderspiel erwirbt, muß damit rechnen, daß auf der Packung gut sichtbar festgehalten ist, das Spiel fördere die »Feinmotorik«, die »Auge-Hand-Koordination« und »das freie Spiel« des Kindes. Es handelte sich in unserem Fall um neun kleine Holzkegel samt Kugel. Solche Aufschriften dokumentieren recht gut das gegenwärtige Verhältnis zu Bildungsfragen. Ehedem Selbstverständliches wird in einen Leistungszusammenhang gebracht, der seinerseits aber wie eine Parodie von Leistung wirkt. Mitgeteilt wird, das Spiel fördere das Spielen. Wie überhaupt alles, was das Kind angeht, so haben auch Spiele es zu fördern: seine Fähigkeiten, wahlweise auch sein Gehirn oder seine Chancen. Nicht nur das Kegeln, sondern jegliche Form von Bildung wird dabei betrachtet wie ein Mittel, das dem Nachwuchs zur Stärkung verabfolgt wird und zuvor auf seinen Vitamingehalt zu prüfen ist.

Wenn Bildung als ein solches Vitamin erscheint, wird an den Schulen nicht mehr gelesen und gerechnet, weil Bücher wie Zahlen hintersinnige Objekte sind, weshalb sie die Phantasie anregen und den Verstand herausfordern, sondern weil Texte die Lesekompetenz und mathematische Aufgaben die Rechenkompetenz fördern. Das Wort »Kompetenz« bedeutete früher einmal »Zuständigkeit«, ist aber inzwischen als betriebswirtschaftlich-erziehungswissenschaftlicher Doppelbalg zum geschwollenen Ersatzbegriff für »Können« geworden. In der Folge gibt es nichts mehr, wozu man nicht kompetent gemacht werden kann: Teamkompetenz, interkulturelle Kompetenz, Konfliktkompetenz, Unterstreichkompetenz. Dies alles sind keine erfundenen Fälle, sondern Einträge in der endlosen Liste der Unterrichtsziele neuester Pädagogik.

Das Ideal des Unterrichts, vom Kindergarten bis zur Hochschule, sind dann der Methodenkurs und das Kommunikationstraining. Und tatsächlich war es der Eindruck von Beliebigkeit, den die Unterrichtsgegenstände auf viele Erziehungswissenschaftler machen, der sie zu der Ansicht führte, es komme in der Schule nicht auf die Geometrie, die Physiologie der Pflanzen oder Kleists Novellen als solche an, sondern auf »das Lernen des Lernens«. Das ist schon richtig, aber es ergibt sich eben erst als Nebeneffekt der Beschäftigung mit Sachfragen. Doch das Interesse an ihnen wird bei Lehrern wie Schülern geschwächt, wenn alle Inhalte des Unterrichts nur noch als beliebig austauschbare Hebel zur Erlangung von Lernerfahrungen betrachtet werden. Sobald Schule wie Universität den Eindruck vermitteln, die eigentlich interessanten Dinge kämen erst, wenn man ihren Hindernisparcours aus merkwürdigen Leistungsanforderungen überwunden hat, müssen sie mit nachlassender Lernbereitschaft rechnen. Irgendwann nämlich teilt sich den Schülern und Studenten der Eindruck mit, daß Schule und Studium nur einen instrumentellen Sinn haben, daß Bildung das Mittel ist, um Zertifikate zu erlangen.

Was ist Bildung stattdessen? Zunächst einmal ist sie weniger das Vermögen mitzumachen als dasjenige, einen Schritt zurückzutreten. Darin steckt, wohlverstanden, keine Polemik gegen die Berufswelt. Sondern nur eine gegen die Vorstellung, es nütze diesen Berufswelten und den Organisationen der Wirtschaft, der Politik, der Erziehung oder des Rechts ungeheuer, wenn ihr Personal nach Art von Tennisspielern agiert, bei denen das Nachdenken dem erfolgreichen Reflex im Weg stünde. Bildung ist keine Technik zur Vermeidung von Schwierigkeiten. Kleists Novellen, die Geometrie und die Physiologie der Pflanzen eignen sich vielmehr als Gegenstände des Unterrichts, weil sie voller Schwierigkeiten stecken, an denen man auch scheitern kann. Jemanden erziehen heißt, ihn mit der Fähigkeit zu begaben, sich gegenüber seiner Umwelt eigensinnig zu verhalten, um Schwierigkeiten und Möglichkeiten zu sehen, die anderen nicht auffallen. Freiheit ist, anders als es manchen Liberalen vorkommt, keine Naturausstattung, sie setzt Kenntnis ihrer Umwelt voraus. Der große Liberale John Stuart Mill nahm genau darum die Schulen von seinem Plädoyer für die Entstaatlichung der Gesellschaft aus. Wer nicht weiß, wovon er redet, kann sich auch nicht aus eigener Kraft zustimmend oder abweichend dazu verhalten. Bildung ist insofern zwar nicht Erziehung gegen die Umwelt der Bildungseinrichtungen, aber gegen die Sprüche, die aus ihr auf die Jugendlichen und die Lehrer einströmen.

Die alte bürgerliche Analogie von Bildung und Arbeit beruhte auf diesen Eigenschaften. Als der Begriff »Bildung« im 18. Jahrhundert prominent wurde, ging es um Erziehung zur Individualität. Gebildet sei, hieß es, wer über sich selbst nachzudenken vermöge. Der Schüler wurde als Person vorgestellt, die sich durch Lernen an Natur, Geschichte, Kunst und Sprache selbst anreichert. Kurz: Der Unterricht sollte es dem Schüler ermöglichen, herauszufinden, was alles in ihm steckt. Alles – das heißt eine ganze Welt, nicht nur eine Berufskarriere. Die Schule erzieht nicht nur zur Berufsfähigkeit, sie erzieht beispielsweise auch Staatsbürger und Familiengründer, Menschen also, die ihr Leben selbständig führen sollen, und das in einer Gesellschaft, in der viele lieber singen lassen, als selbst zu singen, in der es also Delegationsmöglichkeiten für Dinge gibt, die man besser selbst täte: Lesen, Rechnen, Schreiben, Denken.

Die Bildungskrise liegt also nicht darin, daß uns oben ein paar Pisa-Punkte fehlen, sondern daß uns unten eine Bevölkerung entsteht, die zu elementarer Selbständigkeit der Lebensführung nicht mehr in der Lage ist. Und sie liegt darin, daß wir, um Schwierigkeiten zu umgehen und Härten zu vermeiden, Bildung als etwas Leichtes, mittels didaktischer Tricks und Prüfungen, durch die man nicht fallen kann, leicht zu Erwerbendes vorstellen. Die Aversion der Gymnasiasten gegen Mathematik und die daraus folgende Abstinenz gegenüber dem Ingenieursstudium rühren aus der Kontrasterfahrung zur restlichen Schule: Warum auch sollte man etwas studieren, an dem man scheitern könnte?

Was kann in einer solchen Lage getan werden? Dreierlei drängt sich auf. Zunächst wäre es nötig, die Zeit der Reformen zu beenden. Seit Jahrzehnten werden die Bildungseinrichtungen von ihnen und einer Reformklasse heimgesucht, die im Ändern einen eigenen Beruf gefunden hat. Ein älteres Wort dafür war Beschäftigungstherapie, heute müßte man von einer Therapieselbstbeschäftigung sprechen, die zu Lasten der Intelligenz unserer Bildungseinrichtungen geht. Ihr Imperativ lautet »Ganz anders als bislang!«, was folgerichtig nach ein paar Runden zur Wiedervorlage aller älteren Modelle unter zwischenzeitlicher Entnervung sämtlicher Betroffenen und einem absurden Zeitverbrauch führt. Erst G9, dann G8, dann optional G8 oder G9. Hat schon einmal jemand ausgerechnet, wie viele Stunden an Unterricht, Lektüre sinnvoller Texte oder Experimenten im Labor uns die Reformen gekostet haben? Die Zahl dürfte weit über das hinausgehen, was für gute Bildung nötig wäre. Ja, es gibt Luft im System.

Genauso wichtig, wie sie entweichen zu lassen und das ständige Evaluieren, Strukturändern und Strukturänderungenzurücknehmen zu beenden, wäre es, damit aufzuhören, von der Bildung, den Schulen und Hochschulen zu verlangen, was sie nicht leisten können: die Abschaffung der Unterschicht etwa, die Hervorbringung des ganzen Menschen oder die vollständige Kompensation von Gleichgültigkeit gegen Bildung in vielen Milieus. Es ist widersinnig, erst den Begriff der Bildung, den Unterricht und das Studium zu entleeren, sie danach mit Aufgaben anzufüllen, die in die Zuständigkeit der Sozialpolitik, des Managementtrainings oder der Familien fallen, um ihnen zuletzt bei Nichtbewältigung dieser Aufgaben Versagen vorzuwerfen. Wir überfordern und unterfordern die Schulen und Hochschulen zugleich.

Damit aufzuhören leuchtet aber nur ein, wenn man einen Begriff von der eigenen Leistungsfähigkeit des Bildungssystems hat und ihm als Funktion zubilligt, nicht die reichere, die gerechtere, die moralischere oder die medienkompetentere Gesellschaft hervorzubringen, sondern nicht mehr und nicht weniger als wache, wahrnehmungsfähige, kenntnisreiche Bürger. Die, das wäre der Optimismus der Bildung, würden sich dann auch von einer noch so tiefen Wirtschaftskrise nicht in Frage gestellt sehen.