Ein Flüstern der Vergangenheit

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Ein Flüstern der Vergangenheit
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Ein Flüstern der Vergangenheit

Söhrekrimi

Der zweite Fall mit Eduard Steingraf

Jürgen Brandt

Impressum

Copyright: © 2016 - Jürgen Brandt

Umschlagsgestaltung: © 2016 - Jürgen Brandt

Verlag: Jürgen Brandt

Schlade 1

34320 Söhrewald

Soehrekrimi@gmx-topmail.de

Druck: epubli ein Service der neopubli GmbH, Berlin

Dieses Buch ist meiner Familie und

meinen Freunden gewidmet,

die mir stets Mut gemacht haben

weiterzuschreiben.

0. Es war einmal

Ihr zierlicher Körper liegt reglos auf dem sorgfältig errichteten Holzstoß. Die geschundene Haut ist blasser denn je und kein Atemzug lässt ihre Brust erbeben. Niemals wieder würde dies geschehen! Die zahlreichen, tiefen Wunden haben endgültig aufgehört zu bluten. Mit zitternder Hand greift sich ihr Mann eine der Fackeln und entzündet das mit Baumharz getränkte Holz. Sein erstarrtes Gesicht scheint im Widerschein des schnell entflammten Scheiterhaufens zu einer grausamen Fratze zu mutieren.

1. Hitzewelle

Seit Wochen hatten wir keinen interessanten Fall mehr. Schon wieder eine Zeit der Dürre. Die Kriminellen scheinen eine Sommerpause einlegen zu wollen. Bei weit über dreißig Grad im Schatten ist im Prinzip nichts dagegen einzuwenden. Die Einwohner von Kassel und Umgebung werden es sogar sehr begrüßen. Aber ich habe als Kommissar ein wenig Angst, meinen Spürsinn zu verlieren. Sozusagen, dass der entsprechende Teil meines Gehirns austrocknet.

Mich würde bei diesen extremen Temperaturen nicht wundern, wenn Verbrecher bei uns anklopfen und um eine klimatisierte Zelle betteln würden. Nur haben wir diese genauso wenig wie klimatisierte Büros. – Ich glaube, diese Hitze bringt mich noch um den letzten Funken menschlichen Verstandes.

Mein Partner hingegen nutzt die ereignislose Zeit zum intensiven Ausruhen. Er nennt es –Extremrelaxing-! Die Rückenlehne seines klapprigen Bürostuhles ist gefährlich weit nach hinten gekippt und die Füße, inklusive abgelaufener Schuhe, auf dem überfüllten Schreibtisch abgelegt. Die müden Augen sind geschlossen und sein üppiger Bauch hebt und senkt sich unter seinen gleichmäßigen Atemzügen.

Das Aufregendste in den letzten Monaten war der Tatbestand, dass unsere Jo einen vollwertigen Schreibtisch in unser kleines Büro gequetscht bekam. Karl Oberschunke, unser fleißiger Haus- und Hoftechniker, hat sein Möglichstes getan, um dies halbwegs gut zu bewerkstelligen.

Ich rieche noch bis heute seinen intensiven Schweißgeruch, obwohl es bereits zehn Tage her ist, seitdem er die Möbel quer durch den Raum rücken musste. So durchdringend, stechend und definitiv ekelerregend, wie es sich niemand jemals vorstellen kann. Eigentlich sollte der Gestank seit Tagen fort sein. Leider bin ich mir da noch nicht so sicher. Da müssen wir eben durch.

Nun sitzen wir drei uns Aug in Aug gegenüber. Zumindest soweit man dies bei drei Personen, die in einer Art von Dreieck sitzen, sagen kann.

Jo scheint sich in ihr Schicksal ein wenig ergeben zu haben. Denn sie schimpft immer seltener über das winzige Kuhdorf Kassel, um ihre Worte zu benutzen. Auch das verklärte Schwärmen über ihre Traumstadt Berlin hören wir höchstens noch zwanzig Mal am Tag. Es war vor ein paar Wochen noch viel, viel öfters.

Wir sind nun offiziell ein Team: Georg Engelhard, seines Zeichens Kriminaloberkommissar, Yolanda Schmidt, genannt Jo, Kommissarin sowie meine Wenigkeit, Eduard Steingraf, Kriminalhauptkommissar. Und wir sind zusammen wirklich gut. Sogar unschlagbar. Seitdem wir den Mord aufgeklärt haben, der durch dieses verfluchte BLUTGOLD verursacht wurde. Wir halten zusammen wie Pech und Schwefel. Naja, Ausnahmen bestätigen die Regel. Georg und Jo fetzen sich noch immer gelegentlich wie zwei zanksüchtige Streithähne, aber doch stets mit einer gewissen Hochachtung voreinander im Unterton. Sie haben gelernt, den anderen und seine Arbeit wertzuschätzen. Von einer innigen Freundschaft sind sie sicherlich noch weit entfernt, aber sie sind auf einem guten Weg dorthin. Zumindest hoffe ich das.

Immerhin hat sich unsere Jo inzwischen auch äußerlich etwas zu ihren Gunsten verändert. Ihre Kleidung ist zwar noch immer recht zerschlissen, aber immerhin meist frisch gewaschen. Und ihre langen, schwarzen Haare hängen ihr nicht mehr triefend fettig ins Gesicht. Wie würde mein Partner, der Zitate und Sprüche so liebt, nun sagen: „Schritt für Schritt“. Oder besser: „Steter Tropfen höhlt den Stein“. Aber egal, mal sehen, was aus unserem hässlichen Entlein noch so wird.

Das Gute an der Flaute im Job ist, dass ich tatsächlich mehr als pünktlich nach Hause komme. Um genau zu sein, eine Stunde bevor ich eigentlich Feierabend habe. Dies kommt sonst nur sehr selten vor. Eigentlich nie! Lieschen, meine geliebte Frau, ist auf jeden Fall begeistert, dass ich mehr Zeit für sie habe. Und für die Hausarbeit. Und für die Arbeit im Garten. Außerdem darf ich noch eine halb verfaulte Palme aus dem Wohnzimmer entfernen. Schade darum, denn wir hatten das gute Stück bereits seit Jahrzehnten. Lisbeths lakonischer Kommentar: „Besser die Palme verfault, als unsere Liebe.“ Womit sie natürlich einhundert Prozent Recht hat. Aber alles zusammengenommen heißt es für mich: Arbeit, Arbeit, Arbeit und danach noch mehr Arbeit.

Da es heute schön sonnig und trocken ist, wird zuerst der Rasen gemäht. Warum muss der auch nur so schnell wachsen? Gibt es kein langsam wachsendes Gras? So, dass man nur ein- bis zweimal im Jahr mähen müsste? Das wäre mal eine super Erfindung. Danach entferne ich auf der Terrasse und den Wegen noch Unkraut. Das wächst sogar noch schneller als unser Rasen. Blödes Zeug!

Aber bevor ich noch weitere Aufträge von meiner Frau erhalten kann, kommt zum Glück mein geliebtes Töchterchen aus der Uni überraschend nach Hause. Sekunden später sitzen wir gemütlich auf unserer Terrasse und tratschen über dies und das. Wen juckt jetzt noch das Unkraut? Bei dieser enormen Hitze körperlich zu arbeiten soll sowieso ungesund sein. Und wer weiß, wie hoch heute die Ozon-Werte sind.

Nach einiger Zeit feure ich unseren Grill an und werfe ein paar Würstchen auf den Rost über die heiß strahlende Glut. Bereits wenige Minuten später beginnt der leckere Duft frisch zubereiteten Grillgutes in unsere Nasen zu steigen. Schlagartig bekomme ich gewaltigen Hunger. Mein Lieschen steht derweil in unserer Küche und zaubert einen leckeren Gurkensalat.

„Pass auf deine Fingerchen auf, sie sind schon so kurz“, flachse ich mit meiner geliebten Frau.

„Pass du nur auf, dass dein kleines Bäuchlein am Grill nicht ankokelt“, stichelt sie zurück.

„Was sich liebt, das neckt sich!“, kommentiert Julia unsere Unterhaltung, während sie den Tisch auf der Terrasse deckt.

Ich liebe meine Feierabende. So gesehen darf es beruflich gerne noch eine ganze Weile ruhig bleiben. Ein beschauliches Leben kann auch sehr schön sein. - Zumindest für einige Zeit.

Erst spät am Abend zieht ein heftiges Gewitter auf. Schnell bringen wir die Sachen ins Haus und verstauen den Rest in der Gartenlaube. Wir sind fast fertig, als die ersten großen Regentropfen herunterprasseln und sich die Luft um einige Grad abkühlt. Kaum sind wir wieder zurück im Haus, zucken sekundenlang imposante Blitze quer über den dunklen Himmel, gefolgt von einem ohrenbetäubenden Donnerschlag.

2. Hirngespinste, oder?

Und schon wieder so ein langweiliger, heißer Tag. Draußen sind es bestimmt über dreiunddreißig Grad und in unserem winzigen Büro sicherlich noch weitaus mehr. Mein Partner liegt halb in seinem Bürostuhl und döst vor sich hin. Nichtsdestotrotz bilden sich Schweißperlen auf seiner Stirn und verfangen sich hilflos in den tiefen Falten seines sonnengegerbten Gesichtes. Warum muss ich nur so gelangweilt sein, dass ich meinen Partner so genau anschaue. Auf diesen durchdringenden Anblick hätte ich gerne verzichtet.

„Nicht so laut!“, herrscht er plötzlich Jo an. Wenn er um seinen Vormittags-, Mittags- oder Nachmittagsschlaf gebracht wird, ist er manchmal echt unausstehlich.

Erst jetzt fällt mir auf, dass Jo noch intensiver und angestrengter auf ihrer Computertastatur herumhackt als gewöhnlich. Hart fliegen ihre Finger über die Tastatur. Spielt sie ihre merkwürdigen Onlinespiele nicht sonst primär mit der Maus? Julia, mein Töchterchen, hat mir schon mehrfach versucht nahezubringen, was sie da spielt. Zehnmal, hundertmal, keine Ahnung wie oft, aber es war immer wieder erfolglos. Ich sehe, wenn ich auf den Bildschirm blicke, nur ein paar merkwürdige, schrille Figuren, die hektisch über eine viel zu bunte Oberfläche wimmeln. Wie kann man sich damit stundenlang beschäftigen, ohne total meschugge zu werden?

Automatisch muss ich dabei immer an meine ersten Perry- Rhodan-Romane denken. Ich habe diese Groschenromane während meiner Jugend regelrecht verschlungen. Die größte Science-Fiction-Serie der Welt. Seit 1961 werden die Heftchen regelmäßig verlegt. Und noch heute kommt pünktlich jede Woche ein neues Heft heraus. Seit nunmehr über fünfzig Jahren! Die Heftnummer zweitausend ist bereits vor Jahren erreicht worden und in naher Zukunft wird Band dreitausend angepeilt. In den ersten Heften dieser fiktiven Zukunft musste ein extraterrestrisches Raumschiff der Arkoniden auf dem Mond notlanden. Aber niemand der ehemals hochentwickelten Rasse konnte es reparieren. Denn nahezu die gesamte Besatzung war süchtig danach, stumpfsinnig in flimmernde Bildschirme zu glotzen. Und wie gesagt, stammen diese entsprechenden Romane von 1961. Lange bevor es PCs oder gar Handys in unseren Haushalten gab. Manchmal holt tatsächlich die Realität die Science-Fiction ein.

 

„Ich arbeite!“, keift aber unsere Jo ungehalten zurück. So zickig habe ich sie lange nicht mehr erlebt.

Arbeit? Wieso Arbeit? Es gibt keinen Fall für uns! Oder doch? Eher nicht, denn ich bin der Chef des Teams! Und ich müsste es wissen. Aber bei Jo weiß nie jemand irgendwas. Sie tickt irgendwie anders als alle anderen. Ihr Gehirn muss anders verdrahtet sein. Wobei es eigentlich perfekt arbeitet. Ohne Jo hätten wir bei manch einem der vergangenen Fälle härter zu knabbern gehabt. Ist sie vielleicht eine Außerirdische? Die Hitze und meine Erinnerungen an meine alten Science-Fiction-Romane setzen mir doch mehr zu als erwartet, wie käme ich sonst auf so absurde Ideen.

„Wir haben keine Arbeit, Schnucki!“, giftet Georg gewohnt provokativ zurück.

„Bin mir nicht sicher…“, ist ihre halbherzige Antwort.

Und genau hier werde ich schlagartig wieder munter. Erstens: Wieso meint sie, an etwas arbeiten zu müssen, wenn wir keinen Fall haben? Zweitens: Was ist so merkwürdig, dass sie sogar Georg gegenüber zugibt, dass sie sich bei etwas nicht sicher ist. Und drittens: Wieso weiß ich mal wieder von nichts?

„Stopp!“, schreite ich deshalb energischer als geplant ein. „Jo, was tust du und wenn ja, warum? Oder anders ausgedrückt: Warum tust du was? Ach, Mist, du weißt schon, was ich meine!“ Wie gesagt, mein Hirn scheint total ausgetrocknet zu sein. Der Hitze und der Langeweile sei Dank.

„Eigentlich nichts….“, erwidert sie leise.

Nun bin ich endgültig hellwach. „Wir sind ein Team und wir arbeiten zusammen!“, beginne ich entschlossen. „Außerdem bin ich noch immer dein Chef!“ Warum klingt das nicht so überzeugend, wie ich es gerne gehabt hätte?

„Da gab es ein paar merkwürdige Einbrüche in der Region“, beginnt sie.

„Habe ich auch gehört“, ergänzt Georg gelangweilt. „Da ist bereits ein anderes Team dran. Die Beute war bisher immer sehr überschaubar und die Versicherung zahlte in allen Fällen ohne Murren. Kein Fall für uns.“

„Ja, aber…“, will Jo unterbrechen.

„Das ist nach Aussage der Kollegen eine schlecht organisierte Diebesbande.“

„Ja, aber…“, versucht Jo es erneut.

„Das sind sicherlich ReWos. Reisende Wohnungseinbrecher. Vor der steigenden Anzahl solcher Banden warnt doch seit Jahren unser ehrenwerter Herr Innenminister. Allerdings ohne uns, der Polizei, mehr Gelder für die Vorbeugung und Aufklärung zu bewilligen. Viele Worte und keine Taten sind in der Politik anscheinend üblich und bleiben parteienübergreifend erhalten. Die Einbrecherbande wird hingegen sicherlich bald in die nächste Region weiterziehen. Wahrscheinlich bevor wir sie erwischen können. Wie fast immer in diesen Fällen.“

„Ja, aber…“

„Kein –aber-, Jo. Nochmal: Das ist kein Fall für uns. Mit so einem Kleinkram geben wir uns nicht ab. Außerdem sind, wie bereits erwähnt, Kollegen am Fall dran. Lehn´ dich zurück, entspann dich oder spiel dein komisches Spiel weiter. Aber klickere nicht so hektisch auf der Tastatur `rum und störe mich bitte nicht beim Denken.“

„Ha! Denken ist gut. Du pennst doch einfach nur…“, Jo wird schon etwas energischer und somit auch lauter.

„Stopp!“, schreite ich ein, bevor sich die beiden mit ihren gegenseitigen Sticheleien weiter aufschaukeln können. „Jo, simple Einbrüche sind nicht unser Ding!“

Ehe ich weitersprechen kann, wird mein Gedankenfluss von einer intensiven Duftwolke irgendeines Parfums unterbrochen, die unerbittlich in meine Nase eindringt. Unsere Eiserne Lady ist da. Den Blicken meiner beiden Kollegen nach steht sie direkt hinter mir. Wo kommt unsere werte Chefin plötzlich her? Die hitzige Diskussion muss unsere Kommissariatsleiterin, Margarethe Thätmeyer, angelockt haben.

„Hauptkommissar Steingraf, worum geht es bei dem Meinungsaustausch in Ihrem Team? Hat es unter Umständen etwas mit Ihrer Arbeit zu tun? Das wäre mal etwas Neues.“

„Wir erörtern gerade, ob wir uns um die Serie einfacher Einbrüche kümmern sollen.“

„Sind da nicht bereits ihre Kollegen dran?“

„Sag´ ich doch!“, blafft Georg dazwischen, nur um sofort unter dem maßregelnden Blick unserer Chefin ein „Entschuldigung!“ nachzureichen.

„Wieso sollte dies etwas für Ihr Team sein? Wie kommen Sie auf diese Idee?“, hakt sie sofort nach.

Ich kann nur mit den Schultern zucken und schaue fragend zu Jo. Ich hoffe, das gewaltige Donnerwetter unserer Chefin, das in wenigen Sekunden unausweichlich Jo treffen wird, ist nicht allzu gewaltig. Unsere Eiserne Lady mag es überhaupt nicht, wenn ihre Anordnungen und Teamaufteilungen in Frage gestellt werden.

„Ich habe da so eine Ahnung“, ist der einzige Kommentar seitens Jo. Etwas mager als Argument. Von unserer Jo hätte ich da wirklich mehr erwartet. Eine Ahnung ist eine wirklich sehr dünne Begründung. Unsere Chefin mag Ahnungen überhaupt nicht. Sie steht da mehr auf knallharte Fakten, verlässliche Hinweise und Beweise. Dies mussten wir alle in den letzten Jahren erleben und spüren.

„OK. Die Ermittlung bezüglich der Wohnungseinbrüche wird nun von Ihrem Team geleitet. Hauptkommissar Steingraf, wie gehen Sie vor?“, verlautbart unsere Chefin schlicht.

Ich benötige mehrere Sekunden, um wieder zu mir zu kommen. Ist dies die Aussage unserer Chefin? Und vielleicht sollte ich meinen Mund, der vor Überraschung offen steht, wieder schließen. Und meinen verpeilten Gesichtsausdruck sollte ich auch wieder ablegen. Sah ich etwa bis eben genauso dämlich aus wie mein Freund Georg? Dessen Kinnlade ist zumindest noch immer heruntergeklappt.

„Äh, ja“, stammle ich los. „Reiß dich zusammen, Ede!“, flüstere ich mir selber zu, um wieder laut von mir zu geben: „Wir werden die Betroffenen bei Bedarf erneut befragen, potentielle Querverweise und Gemeinsamkeiten herausarbeiten und sicherlich einen Ansatz zur Dingfestmachung der Täter herausfinden!“ Was für einen Schwachsinn erzähle ich da? Und warum kommt mein Gedanke „Warum?“ mir laut über die Lippen?

„Kommissarin Schmidt hat in den letzten Monaten mehrfach durch ihre Intuition zu der Lösung von Fällen beigetragen, oder, Herr Kommissar Steingraf?“

Ich kann nur noch stupide nicken. Und natürlich hat sie mit ihrer Aussage auch noch Recht.

„Folglich ermitteln Sie hier!“, und schon rauscht sie in ihrem viel zu bunten Rüschenkleid um die Ecke. Das Klimpern ihrer dutzenden Ketten ist aber noch länger zu hören. Die Duftwolke ihres Parfums wird aber sicherlich noch über eine Stunde in unserem Büro hängen.

Ich benötige weitere drei Minuten, bis ich wieder vollständig zu mir komme. Und ich bin stolz darauf! Denn Georg bleibt noch ganze vier Minuten und sechsundzwanzig Sekunden länger mit offenem Mund an seinem Schreibtisch sitzen. Ich habe es mit meiner Armbanduhr gestoppt.

„Jo, wieso?“, bekomme ich als nächstes heraus.

„Der oder die Einbrecher erbeuteten immer nur Kleinkram, während hingegen wertvolle Gegenstände meist liegengelassen wurden. Die Häuser lagen oft nicht an verkehrsgünstigen Stellen. Welcher vernünftige Dieb bricht am Ende einer verkehrsberuhigten Sackgasse in ein altes, heruntergekommenes Haus eines Arbeitslosen ein? Außerdem geht der Dieb stets mit brachialer Gewalt vor. Meist hat er schlicht eine Balkon- oder Terrassentür oder ein Fenster mit einem Ziegelstein eingeschlagen und ist dort hinein.“

„Und? Das bedeutet?“, frage ich ratlos.

„Keine Ahnung“, ist Jo' s schlichte Antwort.

3. Zu spät!

Dieses Ding mit den Einbrüchen ist zugegeben ein Rätsel. Über die ganze Umgebung verteilt erfolgen derlei merkwürdige, stümperhafte Diebstähle. Gemeldet wurden bisher unter anderem Vorfälle in Quentel, St. Ottilien, Liebenau, Wellerode, Wattenbach und Eiterhagen. Aber einen Zusammenhang konnten wir bisher nicht feststellen. Die Opfer arbeiten in unterschiedlichen Firmen und gehören verschiedenen gesellschaftlichen Schichten an, vom Arbeitslosen, der keinen Euro besitzt, bis hin zum CIO eines großen, lokalen Unternehmens. Und selbst bei den reichsten Opfern wurden meist wenige Dinge gestohlen. Mal ein einfaches Handy oder ein alter Laptop, bei anderen eine hässliche Vase oder eine Statue. Und das, obwohl weitere, teilweise extrem wertvolle Dinge offen herumlagen. Einmal hatten die Räuber sogar eine prall gefüllte Geldbörse schlicht liegen lassen.

Irgendwie muss ich Jo' s Intuition Recht geben. Etwas ist hier faul und entspricht keiner unserer Erfahrungen. Aber einen Ansatz finden wir trotz allem nicht. Wir arbeiten uns einen ganzen Tag durch sämtliche Fallakten. Gemeinsam schauen wir uns hunderte von Tatortfotos an. Sogar eine stichprobenartige, telefonische Befragung der Opfer ergibt nichts Neues.

Auch forensisch war und ist nichts zu holen. Keinerlei Fingerabdrücke, aber welcher Täter arbeitet heutzutage noch ohne Handschuhe? DNA und Haarproben wurden meist nicht genommen. Warum auch? Simple Einbrüche, bei denen nur Gegenstände im Wert einiger Euro gestohlen wurden, werden meist nicht so intensiv untersucht.

„Es gibt Leute, die keine Ahnung davon haben, dass sie keine Ahnung haben“, ist Georgs einziger Kommentar und nur einer seiner blöden Sprüche. Andere sind: „Ich habe keine Ahnung, aber davon eine Menge.“ oder „Wer nichts ahnt, hat auch vom Nichts wenig Ahnung.“ Allesamt sehr bedeutsam, aber trotzdem absolut nutzlos.

Auch heute Morgen sitzen wir wieder an unseren Schreibtischen und versuchen, einen neuen Ansatz zu finden. Gemütlich schlürfen wir unseren Kaffee und drehen uns mit unseren Gedanken im Kreis. Vielleicht ist Georgs Ansatz, dass alles nur eine dämliche Diebesbande war, doch der richtige. Zumal seit über einer Woche kein neuer, derartiger Fall gemeldet wurde. Sicherlich ist die Bande zu neuen Jagdgründen in einer anderen Stadt aufgebrochen.

„Jo, vielleicht solltest du dich mit dem Gedanken anfreunden, dass die Einbrüche doch schlicht Einbrüche sind. Ohne irgendwelche sonstige Beweggründe“, beginne ich sanft auf Jo einzuwirken.

„Niemals!“, ist ihre einzige Reaktion.

„Aber es gab keine weiteren Einbrüche.“

„Na und?“

Jo kann so trotzig wie meine Tochter während ihrer Pubertät sein. Aber wir vergeuden hier nur unsere Zeit. Wir haben zwar nach wie vor keinen anderen Fall, aber trotzdem.

„Wir sollten hier abbrechen. Wir haben sowieso keinen weiteren Ansatz“, spreche ich meine Gedanken laut aus.

„Nein!“

„Doch.“

„Nein!“

Ich kenne Jo inzwischen gut genug, um zu wissen, dass sie dieses Spiel im Notfall den ganzen Tag durchziehen kann. Also schlage ich einen Kompromiss vor. Hierauf hatte ich von Anfang an abgezielt: „Wir ziehen das noch bis zum Ende der Woche durch, danach hören wir auf. Einverstanden?“

„Naja.“

„Einverstanden?“, hake ich nach.

„Nur unter der Bedingung, dass wir bis dahin keine einzige neue Information erhalten.“

„Das hört sich vernünftig an. Also abgemacht.“

Gewonnen. Somit können wir uns ab nächster Woche auf einen neuen Fall stürzen. Zumindest sofern es einen geben sollte. Ansonsten ergeben wir uns wieder der Langeweile. Denn warum sollte es in diesem Fall jetzt noch entscheidende Neuigkeiten geben?

„Es gibt entscheidende Neuigkeiten in diesem Fall!“, stürmt unsere Chefin höchstpersönlich ins Zimmer. Ihr Kleid raschelt, ihre vielen Ketten und Armreifen klimpern und eine unglaublich penetrante Duftwolke Parfum umgibt sie. Ihr Gestank, pardon „Duft“, und ihre schrille, quietschende Stimme müssen meine Sinne vernebelt haben. Hat sie tatsächlich etwas von -entscheidenden Neuigkeiten- gesagt? Das kann doch nicht sein. Ratlos sinke ich in meinen Stuhl zurück.

Jo hingegen springt auf und ist vollkommen aus dem Häuschen: „Was für Spuren gibt es? Fingerabdrücke? DNA? Videos einer Kameraüberwachung? Augenzeugen?“

„Leider nein“, entgegnet unsere Kommissariatsleiterin. „Es ist dramatischer. Bei einem heute begangenen Einbruch war der Hausbesitzer zu Hause. Er hat anscheinend den bzw. die Einbrecher überrascht und wurde getötet.“

„Tot?“, haucht Jo ungläubig und sackt blass in ihren Stuhl zurück. „Zu spät. Ich bin zu spät. Schon wieder.“

„Wieso schon wieder?“, frage ich etwas ratlos.

„Wie in Berlin…“

„Was war in Berlin?“

Aber Jo schaut nur noch mit glasigem Blick an die Decke. Als ich zu meiner Chefin schaue, erkenne ich an ihren Augen, dass sie mehr darüber weiß. Aber ich bin mir auch ebenso sicher, dass sie keine Information über Jo' s Verhalten und ihre Hintergründe preisgeben wird. Was verbirgt sich in Jo' s Vergangenheit so Dramatisches? Aber bevor ich weiter ins Grübeln gerate, holt mich die durchdringende Stimme meiner Chefin in die Gegenwart zurück.

 

„Die Spurensicherung und der Gerichtsmediziner sind bereits informiert. Und Sie machen sich auch sofort auf den Weg.“

„Haben Sie die Adresse?“, frage ich nach.

„Es wird Ihnen nicht gefallen, aber der Mord geschah in Ihrem Heimatort Wellerode.“

Schon wieder ein Schwerverbrechen dort. Dabei ist dies so ein süßes, kleines, verwunschenes Dorf in der Mitte Deutschlands.

„Und jetzt Abmarsch!“, keift sie uns an.

Klare Ansagen sind schon immer ihr Ding gewesen. Also los. Georg und ich schnappen unsere Sachen, während Jo in Gedanken versunken weiterhin auf ihrem Stuhl kauert. Dann machen wir uns eben zu zweit auf den Weg - wie früher. Wir wollen beide gerade an unserer Chefin vorbei aus dem Büro, als sie uns schrill anfährt.

„Wollen Sie nicht Ihr gesamtes Team mitnehmen, ehrenwerter Herr Hauptkommissar Steingraf?“

Wenn sie jemanden direkt mit -ehrenwerter Herr- anspricht, ist Vorsicht geboten. Außerdem betont sie jede Silbe meines Titels und meines Namens wie einen Peitschenhieb. Sie ist zwar bekannt für ihre herrische Art, aber dies ist trotzdem sehr ungewöhnlich. In all den Jahren unserer Zusammenarbeit habe ich sie nur sehr selten so aufbrausend gesehen. Aber dann bemerke ich ihre, wenn auch nur Sekundenbruchteile andauernden, besorgten Blicke in Richtung Jo. Jedes Mal huscht eine Spur von Traurigkeit über ihr Gesicht. Für einen Laien wahrscheinlich unsichtbar, aber für einen erfahrenen Profi wie mich doch zu erkennen. Was verbindet die beiden? Wieso hängt das Wohl und Weh unserer Chefin so sehr mit Jo' s Wohlbefinden zusammen?

Aber bevor ich weiter grübeln kann, erhalte ich einen tadelnden Blick von ihr. Und das ist sehr harmlos formuliert. Ihre sonst immer etwas lethargisch dreinschauenden Augen verwandeln sich schlagartig in zwei unergründlich tiefe, schwarze Schlünde, aus denen eisige Strahlen in meine Richtung gnadenlos zu schießen scheinen.

Kurzerhand schnappe ich mir Jo' s Hand und zerre das Mädchen mit mir aus dem Büro. Schritt für Schritt schleife ich sie hinter mir her in Richtung unserer Parkplätze. Meine Kollegin ist so apathisch, dass sie sich noch nicht einmal wehrt. Ansonsten hätte sie mir sicherlich schon längst eine gehörige Abreibung verpasst.