SAOMAI

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Neill wand sich in einem apokalyptischen Traum. Die gespaltene Zunge einer Riesenechse schnellte ihm aus dem Dschungeldickicht entgegen, durch das er und Saomai sich barfuß kämpften. Das Tier hatte sie gewittert, gab ein furchterregendes Brüllen von sich und richtete sich auf baumstammdicken Beinen fast mannshoch auf. Wie ein ledriges Kettenhemd hing die Haut an dem grauen Steinzeitgiganten.

„Die fressen nur Aas“, sagte Neill beschwichtigend zu Saomai, blieb jedoch unschlüssig stehen, als sich der Waran vollends aus dem Gebüsch schob. Mit nur einem Schritt seiner seltsam angewinkelten Vorderläufe war das Tier bereits bedrohlich nähergekommen. Neill fasste hinter sich, doch Saomai war nicht da. Dann sah er sie mit verschränkten Armen einige Meter oberhalb der Böschung stehen. Ihre geheimnisvollen Augen musterten ihn kalt. Wie ein Zuschauer, der auf der Tribüne ein sich anbahnendes Duell verfolgte, und dem es egal war, wer als Sieger daraus hervorging. Die Kreatur vor ihm scharrte mit den Krallen im Untergrund, senkte den Kopf und stampfte mit ungelenken Bewegungen auf Neill zu. Dabei riss sie das krokodilähnliche Maul zu einem gigantischen Schlund auf. Verwesungsgeruch stach Neill entgegen und ließ ihn fast ohnmächtig werden. Neben sich hörte er Saomai lachen. Noch bevor er sich darüber wundern konnte, war die Echse über ihm. Im Angesicht des Todes kam endlich Bewegung in Neill. Er erinnerte sich der jahrelang einstudierten Techniken des Jiu Jitsu und rollte wie ein Ball über die linke Schulter ab. Der Luftzug des zuschnappenden Mauls streifte seinen Arm und erneut glaubte Neill, dem bestialischen Gestank, der herausströmte, erliegen zu müssen. Dann brachte ihn sein Schwung neben der massigen Schulter seines Gegners wieder zum Stehen. Saomai klatschte kreischend vor Begeisterung in die Hände. Was war nur mit ihr los? Das hier war doch kein Spiel!

Neill überlegte fieberhaft, welcher Körperteil dieses gepanzerten Brockens am empfindlichsten sein mochte. An die Augen war kein Herankommen. Zu groß war die Gefahr eines tödlichen Bisses. Wo sind wir besonders verwundbar, fragte er sich und kannte im selben Augenblick die Antwort: Der Hals. Seine Position war günstig, auch weil das Vieh sich gerade anschickte, eine behäbige Drehung um die eigene Achse vorzunehmen. Mit aller Kraft riss Neill den linken Arm nach oben, um dem Biest seine Handkante in die Luftröhre zu schlagen. Die klauenartigen Krallen der Echse schossen zeitgleich nach vorn. Als sie seine Hand fast durchtrennten, wurde ihm schwarz vor Augen.

Er erwachte, weil jemand seinen Namen rief. Es klang kilometerweit entfernt. War das Saomai? Dann war es wieder leise und Neill drohte in die Dunkelheit zurückgleiten, die eisig nach ihm griff. Da hörte er es erneut.

„Neill! Neill! Bist du hier?“

Dieses Mal näher. Jetzt erkannte er sie ganz deutlich, auch wenn Panik ihre Stimme verzerrte. Ja, das war Saomai!

Augenblicklich begann die Kälte zu weichen. Bewegen konnte er sich dennoch nicht. Ein Gefühl, als wären ihm die Gliedmaßen eingeschlafen, hielt ihn gefangen. Träge öffnete er die Augen und blinzelte in die gleißende Sonne. Wo war er? Ein verwittertes Trümmerfeld lag vor ihm, durch das er schemenhaft Saomai auf sich zukommen sah. Wieso lief sie denn so komisch? Sie kniete nieder und schlang die Arme um ihn. Murmelte unverständliche Worte. Beim Klang ihrer Stimme fiel Neill der Kampf gegen die Echse wieder ein. Und Saomais seltsames Verhalten! Er musste sie später danach fragen. Nicht vergessen, nahm er sich vor, dann wurde es wieder dunkel um ihn.

Als er zum zweiten Mal aufwachte, war es Nacht. Wieder hatte ihn ein Traum gepeinigt. Er hatte Saomai geküsst, mitten in einer Menschentraube kleiner Thailänder, die sie auf dem Bürgersteig umringten. Doch sie hatte sich weggedreht. Wie aus dem Nichts standen plötzlich fünf Männer um sie herum und Saomai hatte gelacht, als sie Neill durch die Straßen trieben. Aber das waren nur vier gewesen. Was war mit dem fünften? Er kam einfach nicht drauf. Doch die Frage bohrte sich in sein Gehirn. Auch jetzt, als er langsam zu sich kam und begriff, dass das piepende Geräusch neben ihm kein Vogelgezwitscher war, sondern ein EKG-Gerät, das seine Herzfrequenz maß. Flashbacks fluteten seinen Kopf. Erst vereinzelt, dann zusammenhängender. Er erinnerte sich an die Männer, die er beim Zurückblicken aus dem Augenwinkel bemerkt hatte. Fünf waren es gewesen, da war er sich sicher. Ein dunkelhäutiger Koloss hatte eine Flasche mit Alkohol an die Lippen gesetzt und in sich hineinlaufen lassen. Er war der einzige gewesen, der ihn später nicht verfolgt hatte. Die anderen Vier hatten ihn kurz vor dem alten Tempel in die Mangel genommen. Jetzt kam auch diese Erinnerung wieder. Der Kampf mit dem Waran war nur ein Traum gewesen! In Wirklichkeit hatte er sich gegen die Typen verteidigt. Bis der eine ein Messer zog und ihn an der Hand erwischte.

Dann waren da plötzlich andere Männer gewesen, junge Thais, und er hatte sich blutend davongeschlichen. Erschöpft schloss Neill die Augen und glitt in einen unruhigen Schlaf zurück. Wieder quälte ihn Saomais Rolle bei dem, was geschehen war. Er hörte sie sagen: „Neill, ich muss dir etwas gestehen. Ich habe dich nicht einfach nur so hierher geführt. In dieses Viertel.“ Dann lachte sie hämisch und verband seine Hand. In seinem Delirium verschwammen die Grenzen zwischen Traum und Wahrheit, zwischen dem, was war und dem, was ihm sein Unterbewusstsein vorgaukelte. Als er schweißgebadet zu sich kam, stand Howard an seinem Bett.

****

Eine Woche war vergangen, seit sich Neill selbst aus dem Krankenhaus entlassen hatte und noch immer war er zu schwach, um aufzustehen.

Tagsüber kauerte er auf dem Sofa im Salon und starrte auf die Skyline. Der Anblick hatte jeden Reiz verloren, wirkte so grau, trist und kahl wie sein eigenes Inneres. Am Abend schleppte er sich müde in sein Schlafzimmer. Unfähig einzuschlafen vor innerem Aufruhr, doch zu ermattet, um die wirren Gedanken und Träume ordnen zu können, die ihn verfolgten. Howard, der ihn aus dem Krankenhaus geholt und einen Privatarzt hatte kommen lassen, sorgte sich sehr um ihn. Neills Wohlergehen schien ihm über Gebühr am Herzen zu liegen. Mit kummervollen Augen blickte er auf seinen Chef, wann immer er ihm einen seiner englischen Spezialtees servierte. Howard hatte sogar eine Krankenschwester engagiert, die in Saomais Zimmer einzog, um sich Tag und Nacht um Neill zu kümmern.

Dass ihre Beine in viel zu knappen Hotpants steckten und ihre drallen Brüste fast aus dem Ausschnitt fielen, wenn sie sich zu ihm herunterbeugte, war Neill erst nach einigen Tagen aufgefallen. Er war zu schwach, um sich darüber zu wundern. Hatte auch keine Energie, die Notwendigkeit der Krankenschwester in Frage zu stellen. Die meiste Zeit des Tages dachte er sowieso an Saomai. Er erinnerte sich, dass sie ihm etwas gestehen wollte, just in dem Augenblick, als die Schläger aufgetaucht waren. Hatte sie denn gewusst, dass die kommen würden? Hatte sie ihn an den Fluss gelockt, wo niemand beobachten würde, was geschah? Immer noch konnte Neill die seltsamen Wachträume nicht von den tatsächlichen Geschehnissen unterscheiden. Doch tief in seinem Inneren spürte er, dass mit Saomai etwas nicht stimmte.

„Wünschen Sie einen Tee, Mr. Ferguson?“

Howards Stimme ließ ihn hochschrecken. Wieder dieser schuldvolle Dackelblick. Mit Howard war doch auch etwas nicht in Ordnung. Wieso gab er sich seit dem Vorfall so devot. Oder bildete sich Neill das nur ein?

„Danke Howard“, murmelte er nachdenklich. „Sagen Sie, hat sich Saomai gemeldet?“

Howards Hände zitterten, als er die duftende Flüssigkeit in eine zierliche Tasse goss, clotted cream und Kandis dazugab und sie Neill überreichte.

„Bedaure, Mr. Ferguson.“

Seltsam, dachte Neill. Dass sie seit einer Woche nicht angerufen hatte, um sich nach ihm zu erkundigen, konnte er einfach nicht begreifen. Es fraß an ihm. Schließlich hatte er sich gerade erst eingestanden, wie sehr er sie mochte. Andererseits passte es ins Bild, wenn sie tatsächlich etwas mit den Schlägertypen zu tun hatte. Nur warum sollte sie ihn verprügeln lassen? Oder gar umbringen, denn dazu waren die Angreifer bereit gewesen.

Wieder grätschte Howard in seine Gedanken hinein.

„Ich mache ein paar Besorgungen für Sie, Mr. Ferguson. In einer guten Stunde sollte ich zurück sein. Aranya wird sich so lange um Sie kümmern.“

Er betonte den Namen der Krankenschwester als ließe er Raum für Spekulationen.

„Ist gut“, bemerkte Neill nebenher. Er war gedanklich schon wieder bei Saomai, versuchte sich zu erinnern, was sie gemacht hatte, nachdem er losgesprintet war, um ihre Handtasche zurückzuholen. Die Handtasche! Natürlich! Sicher war da ihr Handy drin und war nun gestohlen. Deshalb rief sie nicht an. Andererseits konnte sie einfach seine Büronummer wählen – oder herkommen! Nein, es ergab keinen Sinn, dass sich Saomai nicht meldete.

Vom Flur drangen aufgebrachte Stimmen an sein Ohr. Neill öffnete die Augen und blickte in ein weit aufklaffendes Dekolleté. Er blinzelte, bis die Orientierung zurückkam und er Aranya erkannte, die ihm mit einem Tuch die Stirn tupfte. Ihre Nähe war ihm unangenehm und er fuchtelte mit den Händen, um sie abzuwehren. Dabei schoss ein unerträglicher Schmerz durch seine linke Hand. Stöhnend verzog Neill das Gesicht.

„Sehen Sie Mr. Ferguson, das haben Sie jetzt davon“, schalt ihn die Krankenschwester. Ihre prallen Lippen verzogen sich zu etwas, das wohl ein Lächeln sein sollte. Wieder beugte sie sich über ihn und betupfte sein Gesicht. Neill glaubte, in ihrer Oberweite ersticken zu müssen. Mit der unverletzten Hand kämpfte er sich endlich frei und schob sie auf Armlänge von sich. Keine Sekunde später flog die Tür auf und Saomai stand im Türrahmen, hinter ihr der zeternde Howard. Als sie die beiden auf dem Sofa entdeckte, zuckte Saomai zusammen und blickte unsicher zwischen Neill und Aranya hin und her. Er sah ihr an, dass sie sich keinen Reim auf die Szene machen konnte, die sich ihr bot. Einen Augenblick lang dachte Neill, sie würde wortlos kehrtmachen und davonstürmen. Doch dann kam sie langsam näher. Ihm fiel auf, dass sich Saomai auf eine Krücke stützte, um ihren rechten Fuß zu entlasten. Ihren kaputten Fuß. Am Sofa angekommen, heftete sich ihr Blick auf Neill. Traurigkeit war alles, was er darin sah.

 

„Hallo Neill“, sagte sie leise und ihre Stimme unterstrich ihre Traurigkeit. „Es war wohl keine gute Idee, herzukommen.“

Ehe Neill antworten konnte, rief Howard aufgebracht dazwischen: „Mr. Ferguson, ich konnte sie nicht davon abhalten! Mrs. Saomai hat sich einfach in den Fahrstuhl gedrängt, als ich zurückkam.“

Neills Kopf dröhnte. Was sollte das bedeuten?

Wütend drehte sich Saomai zu Howard um und hieb mit der Krücke in seine Richtung.

„Sie“, zischte sie, „halten den Mund!“

Wie sprach sie denn mit seinem Sekretär? Und was meinte Howard damit, dass er sie nicht daran hindern konnte, sich in den Fahrstuhl zu drängeln? Die wirren Gedanken ließen ihn schwindelig werden. Oder lag es an den vielen Leuten im Raum, die jetzt alle auf einmal redeten?

Mit matter Stimme rief Neill: „Raus! Alle raus hier!“

Drei Augenpaare blickten ihn überrascht an. Aber wenigstens war jetzt Ruhe.

„Alle raus, außer Saomai“, widerholte Neill nun bestimmter.

Howard hob empört zu einer Widerrede an, doch Neill brachte ihn mit seinem Blick zum Schweigen.

„Raus!“, sagte er noch einmal und dieses Mal war seine Stimme ein schneidendes Schwert.

Erschrocken erhob sich nun auch Aranya von der Sofakante. Sie richtete ihr Top, warf die langen Haare in den Nacken und stolzierte auf ihren viel zu hohen Stöckelschuhen zur Tür, wobei sie Saomai verächtlich musterte. Howard trottete hinter ihr her wie ein Hund, der den Schwanz einzog.

Was für ein seltsames Gespann, schoss es Neill durch den Kopf. Dann war er mit Saomai allein. Sie hatte ihm den Rücken zugekehrt. Nun drehte sie sich um und sah ihm in die Augen. Diese Traurigkeit! Einen Augenblick lang schwiegen sie, dann sprachen beide gleichzeitig.

„Neill, ich habe mir solche Sorgen gemacht! Warum…“

„Wo bist du die ganze Zeit gewesen?“

Sie verstummten, verblüfft über das, was der jeweils andere gesagt hatte.

„Aber…“, begann Saomai, wurde jedoch von Neill unterbrochen, der sie anfuhr: „Du hast dir Sorgen gemacht? Das soll ich glauben?“

In Saomai brach sich der Frust der ganzen Woche Bahn. Im Stundentakt hatte sie angerufen, nur um von Howard abgeschmettert zu werden. Und jetzt zweifelte Neill an ihrer Anteilnahme?

„Was hat dir Howard erzählt?“, fragte sie scharf.

„Was meinst du? Was hätte er mir denn erzählen sollen?“

„Dass ich täglich zwanzig Mal angerufen habe und er mich nicht zu dir durchstellen wollte, zum Beispiel! Dass der Code für den Fahrstuhl geändert wurde und mich Howard nicht heraufgelassen hat, bis ich ihn heute einfach überrumpelt habe. Dass ich ihn angefleht habe, mit dir sprechen zu dürfen, um zu erfahren, was mit dir ist. Hast du eine Ahnung, wie es mir ging, als du einfach aus dem Krankenhaus verschwunden bist und ich seitdem keine Nachricht, keinen Anruf, einfach nichts von dir gehört habe?“

Saomai wusste nicht, ob die Tränen, die ihr über das Gesicht liefen, von der Wut auf Howard herrührten, oder von der Enttäuschung, dass sich Neill nicht die Mühe gemacht hatte, sie anzurufen.

Neill hob überrascht die Augenbrauen.

„Ich wusste nicht, dass du mich sprechen wolltest“, sagte er langsam.

„Wie, das wusstest du nicht? Hat dir Howard denn gar nichts ausgerichtet?“

Ungläubig starrte Saomai ihn an. So etwas würde Neills Sekretär doch nicht einfach tun! Er musste die Anweisung erhalten haben, dass Neill sie nicht sehen wollte. Nur warum, das hatte sie nicht verstanden. Erst als sie eben die vollbusige Schönheit in seinem Arm gesehen hatte, war es ihr klargeworden.

„Nein, das hat er nicht“, antwortete Neill nachdenklich.

Wer spielte hier eigentlich sein seltsames Spiel mit ihm, fragte er sich. Saomai? Oder Howard? Beides machte keinen Sinn für ihn. Neill entschied sich, in die Offensive zu gehen. Saomai endlich wieder vor sich zu haben und nicht zu wissen, woran er war, versetzte ihm einen bitteren Stich. Sein Körper sehnte sich nach ihrem, seine Hände wollten sich nach ihr ausstrecken. Sogar in diesem erbärmlich geschwächten Zustand erregte sie seine Begierde.

„Warum bist du hier, Saomai“, fragte er.

Sie sah ihn seltsam verletzt an.

„Warum ich hier bin? Fragst du dich das wirklich nachdem, was vor einer Woche unten am Fluss war?“

„Erklär mir doch mal, was da unten am Fluss war! Warum wir überhaupt runter an den Fluss gegangen sind, wo diese Typen so leichtes Spiel mit mir hatten!“

Saomais Augen weiteten sich, als sie verstand, worauf Neill hinaus wollte.

„Was willst du damit sagen?“

„Ich versuche, herauszufinden, was an diesem Tag passiert ist, denn an alles kann ich mich nicht erinnern. Was haben wir da unten am Fluss gewollt, Saomai? War es wirklich Zufall, dass da diese Schläger aufgetaucht sind? Ich habe die doch schon vorher gesehen. Die sind uns vom Krankenhaus gefolgt und dann lotst du mich in diesen Hinterhalt… Irgendetwas wolltest du mir da gestehen. Nur was? Dass du mich überfallen lässt? Verprügeln? Ist das das echte Leben, das ich kennenlernen sollte, ja? Vielen Dank, darauf verzichte ich.“

Er brach erschöpft ab.

„Du kannst doch nicht ernsthaft glauben, dass ich etwas damit zu tun habe!“, rief Saomai aufgebracht. „Warum um alles in der Welt sollte ich denn wollen, dass dir etwas zustößt?“

Leiser fügte sie hinzu: „Kannst du dich denn nicht erinnern, dass wir einen wundervollen Nachmittag verbracht haben, Neill? Dass du mir gesagt hast, was du für mich empfindest?“

Neill wandte den Blick ab. Natürlich erinnerte er sich. Und wie sehr wünschte er, Saomai wieder in seine Arme zu schließen.

„Neill“, sagte sie eindringlich, „sieh mich an!“

Er schloss die Augen, horchte einige Sekunden in sich hinein. Als er sie wieder öffnete, sah er in ihre großen, nachtschwarzen Augen und wusste, dass sie trotz aller Geheimnisse, die sie in sich trug, die Wahrheit sprach. Er nickte.

„Komm her“, sagte er sanft und breitete die Arme aus.

Aus Saomais schönem Gesicht wich die Anspannung der vergangenen Tage. Zögernd machte sie einen Schritt auf Neill zu, nahm auf der Sofakante Platz und legte die Krücke ab.

„Was ist mit deinem Fuß?“

„Nichts Schlimmes“, sagte sie und erzählte Neill von ihrer Begegnung mit dem Inder.

„In ein paar Wochen ist das vergessen“, endete sie.

Sie hatte sich neben Neill ausgestreckt und ihren Kopf auf seiner Brust gebettet. Nun fielen ihr vor Erschöpfung die Lider zu.

Da also hatte der fünfte Halunke gesteckt! Neill lief ein kalter Schauer über den Rücken, als er sich ausmalte, was der Kerl mit Saomai angestellt hätte, wenn sie ihm nicht entkommen wäre. Sie hat Glück gehabt, dachte er dankbar und hielt sie fest umschlungen. Und Gott sei Dank hat sie nichts mit diesem Überfall zu tun.

Aber wer dann?

****

Er kauerte vornübergebeugt auf dem Betonboden eines leerstehenden Rohbaukellers. Kieselsteine bohrten wie Glassplitter in seine Schienbeine, die graue Stoffhose und der seidene Slip hingen schlaff in seinen Kniekehlen, entblößten den fahlen Hintern. Er wagte nicht, den Blick zu heben. Wagte nicht, Lamom anzusehen, der breitbeinig auf einem Schemel vor ihm hockte und voll Abscheu auf ihn herabsah.

„Du bist ein Idiot“, zischte Lamom. „Hast geglaubt, du nimmst die Dinge selbst in die Hand, ja?“

Er wartete die Antwort nicht ab.

„Wie kommt man bloß auf so einen Schwachsinn?“, schrie er. „Wie kommst DU dazu, Ferguson überfallen zu lassen? Von MEINEN Bautrupps!“

„Ich weiß nicht, wovon du sprichst“, winselte der Brite. „Ich hab‘ damit nichts zu tun!“

Der Thailänder reckte das Kinn vor und gab einem Hünen, der im Hintergrund wartete, ein Zeichen. Ein erstickter Schrei gellte durch den Keller, als die lederne Reitpeitsche niederfuhr und einen brennenden Abdruck auf dem Gesäß des Engländers hinterließ.

„Lüg mich nicht an!“

„Wirklich, ich weiß nicht, was du meinst!“

Lamom nickte erneut. Klatschend traf das Leder dieselbe Stelle, gefolgt von einem schmerzerfüllten Quieken.

„Hör auf zu jammern“, schnaubte Lamom verächtlich. „Wenn du dich nicht bald erinnerst, packt Sulak noch ganz andere Spielzeuge aus.“

Er lachte böse.

„Bitte nicht!“, winselte der Mann und zerrte an dem im Boden verankerten Eisenring, der seine Fesseln hielt.

„Bitte nicht“, bettelte er noch einmal. Dann ließ ihn die Angst vor der Bestrafung einknicken.

„Ich war’s“, gestand er mit heiserem Krächzen. „Ich war’s ja.“

Hemmungsloses Schluchzen schüttelte seinen behäbigen Körper. Geifer und Tränen liefen ihm über Gesicht und Hals, sammelten sich im Ausschnitt seines schweißnassen Hemdes.

„Was warst du?“

Lamoms Stimme war ein unheilvolles Flüstern im Nacken seines Opfers.

„Ich hab Ferguson und Miss Saomai überfallen lassen“, stammelte der Engländer und holte eilig Luft, um eine Erklärung folgen zu lassen. „Ich dachte, dann hat er genug von ihr.“

Die Peitsche surrte ein drittes Mal auf ihn herab, ließ die Haut aufplatzen.

„A-a-a-a-h-h-h!“

„Du bist so erbärmlich“, fauchte Lamom ungerührt. „Und ebenso dämlich! Hast geglaubt, das ist clever, hm? WAR ES ABER NICHT!“

Seine Wutschreie hallten an den nackten Wänden wider.

„Ferguson glaubt nämlich, dass er einen der Typen erkannt hat. Von der Großbaustelle im Westend!“

Die Luft erzitterte, als Sulak noch einmal zuschlug. Das schmale Leder traf zum vierten Mal sein Ziel, gefolgt von einem unmenschlichen Wimmern.

Lamom war noch immer in Rage.

„Aber das ist ja noch nicht alles! Du musstest ja auch noch den Strategen spielen und die kleine Thaischlampe nicht mehr zu ihm lassen. Dass er dich dafür nicht rausgeschmissen hat, grenzt an ein Wunder!“

„Das habe ich Miss Saomai zu verdanken.“

Die Worte waren kaum zu hören gewesen.

„Ach wie rührselig“, äffte Lamom mit fiepsiger Stimme nach, um im nächsten Moment loszubrüllen: „Wenn er dich gefeuert hätte, wärst du nutzlos für mich. Kapierst du das? Weißt du, was ich mit deinem kleinen Video mache, wenn du nutzlos für mich wirst? Das geht dann an meine Freunde bei der Polizei und du wanderst ins Bang-Kwang-Gefängnis, wo dein schlaffer Arsch die nächsten zehn Jahre von Drogendealern und Massenmördern durchgevögelt wird!“

Heulend wand sich der Mann vor ihm.

„Howard, Howard“, sagte Lamom mit gespieltem Bedauern, „Ich fürchte, ich muss dir eine Lektion erteilen.“

Er wurde ernst.

„Ich lasse dich jetzt mit Sulak allein. Er weiß, wie man Gehorsam beibringt. Damit das nicht noch mal passiert!“

Mit mitleidlosem Lachen erhob sich Lamom und blieb vor dem am Boden knienden Engländer stehen, dessen rotverweintes Gesicht seinen Schritt berührte.

Der winselte und stöhnte und wand sich.

„Hör auf zu jammern und zeig ein wenig Dankbarkeit gegenüber deinem Herrn!“

Howard nickte wie eine willenlose Marionette, deren Fäden der über ihm stehende Lamom in Händen hielt. Seine Stirn rieb dabei gegen dessen Genitalien. Als er um Gnade bittend zu ihm aufsah, gab Lamom dem Hünen ein Zeichen. Sulak öffnete einen silbernen Koffer und begann sein sadistisches Spiel.

****

Im Umkleideraum des Memorial Hospital genoss Saomai die heiße Dusche nach einem anstrengenden Tag. Langsam machte ihr unsteter Lebenswandel ihr zu schaffen. Seit sie mit Neill liiert war, stand sie jeden Morgen um sechs Uhr auf. Um sechs Uhr vierzig nahm sie den Bus, der sie aus dem Bankenviertel, in dem sein Apartment lag, in den Westen der Stadt brachte. In der Silom Road stieg sie um bis nach Chinatown. Von dort war es noch ein kurzer Abstecher per Expressboot bis zum Krankenhaus. Es lag etwas abseits der von Touristen überlaufenen Altstadt. Kurz vor halb acht kam sie hier an, fuhr hinauf in die Kinderabteilung im zehnten Stock und schlüpfte in ihren weißen Kittel und Gesundheitsschuhe. Sie nahm ihr Stethoskop und das unverzichtbare Diktiergerät aus ihrem Spind und wappnete sich für eine anstrengende Zwölf-Stunden-Schicht. An einem normalen Tag versorgte sie vierzig bis fünfzig ihrer kleinen Patienten. Heute waren es deutlich mehr gewesen. Hinzu kam die Operation von Nang, einem vietnamesischen Mädchen, das mit Verdacht auf Nierenversagen eingeliefert worden war. Wie viele ausländische Patienten war auch Nang nicht krankenversichert. Ihre Eltern waren Einwanderer, die Familie hauste vermutlich in einem der Slums am Stadtrand von Bangkok. Eine Versicherung zählte nicht zu den Dingen, die sie sich leisten konnten. Deshalb stand Nang keine Niere aus dem Pool der staatlichen Spenderorgane zu. Saomai hatte heftig mit Direktor Wong gestritten, weil er darauf bestand, dass sie die Formalien einhielt. Lieber ließ er ein kleines Mädchen sterben! Am Ende hatte Saomai zwei Tage lang mit sämtlichen Medizinern telefoniert, die sie aus ihrem Studium und von internationalen Ärztekongressen kannte. Sogar einen Freund ihres verstorbenen Vaters in New York hatte sie angerufen. Gestern Abend war endlich die passende Niere eingetroffen. Der Eingriff, den sie gleich heute früh mit zwei Ärztekollegen durchgeführt hatte, war gut verlaufen. Seitdem war Nang stabil gewesen, befand sich aber in einem Dämmerzustand, der Saomai beunruhigte. Sie wollte noch einmal nach der Kleinen sehen.

 

Als sie sich gerade die Haare trocken rieb, betrat Tuk den Umkleideraum. Seit dem Vorfall vor sechs Wochen wich ihr die Krankenschwester kaum von der Seite, wenn sie dieselbe Schicht teilten. Sorgsam achtete sie darauf, dass Saomai ihrem verheilenden Fuß genügend Pausen gönnte. Saomai war dem kleinen Energiebündel dankbar für ihre Fürsorge und lächelte sie herzlich an.

„Was gibt es denn, Tuk?“

Spitzbübisch hielt Tuk ein kleines Fläschchen in die Höhe.

„Ich glaube, Sie haben das hier stehenlassen, Dr. Saomai!“

„Ach, der Schlangenwein von Nangs Mutter!“, erwiderte Saomai schmunzelnd. „Den darf ich natürlich nicht vergessen! Stell ihn doch bitte zu meinen Sachen!

Tuk sah ihr forschend ins Gesicht. Dann setzte sie das Fläschchen ab, lächelte Saomai zu und ging zur Tür. Dort drehte sie sich noch einmal um.

„Dann geht es Ihrem Freund also besser?“, fragte sie neugierig.

„Wie meinst du das, Tuk?“

„Na, wenn Sie doch den Schlangenwein brauchen!“

„Ach so. Ja, also weißt du“, murmelte Saomai ausweichend.

Sie konnte Tuk unmöglich erzählen, wie sie zu Neill stand. Da war ja nichts – außer, dass sie jede Nacht miteinander schliefen. Aber er war nicht ihr Freund. Oder zumindest kein Mann, von dem sie in diesem Sinne hätte sprechen können. Ihr Verhältnis war nach wie vor eine Vereinbarung.

Während sie noch nach einer Antwort suchte, hatte Tuk den Raum längst verlassen. Nachdenklich ließ sich Saomai auf die Bank vor ihrem Spind nieder. Was war Neill eigentlich für sie?

In erster Linie der Mensch, der sie zu Lamom Benjawan führen sollte. Sie musste sich allerdings eingestehen, dass das längst nicht mehr der Grund war, warum sie jeden Abend zu ihm fuhr. Rache war seit dem Mord an ihrem Vater ihr Antrieb gewesen. Doch in den letzten Monaten hatte sie das oft genug einfach vergessen. Sie genoss Neills Gesellschaft. Der Sex mit ihm war fantastisch. Eigentlich war es das Beste, was sie je erlebt hatte. Immer noch überraschte er sie jeden Abend mit Liebesspielen, die unglaublich zärtlich waren – und zugleich unendlich verrucht. Wenn sie nur daran dachte, wie er sie letzte Nacht… Aber das allein war es nicht! Er war scharfsinnig und amüsant. Neben ihrem Vater war er der erste wirklich interessante Mann in ihrem Leben. Sie bedauerte sehr, dass sie ihm einen wesentlichen Teil ihrer Geschichte vorenthalten musste. Dass sie ihn vielmehr belog. Aber wie sollte sie ihm jetzt noch gestehen, dass sie eigentlich Ärztin war und keine Masseurin?

Nach dem Überfall hätte sie es ihm beichten müssen, das wusste sie. Doch wieder hatte sie die Gelegenheit verstreichen lassen. Die Lüge lastete schwer auf ihr und ihr fiel nichts ein, wie sie sich Neill jetzt noch offenbaren konnte, ohne zu riskieren, dass er sie als Schwindlerin hinauswarf. Und das, wo sich noch immer keine Gelegenheit geboten hatte, Lamom Benjawan zu begegnen! Saomai fragte sich, wie Neill mit diesem Fiesling Geschäfte machen konnte. Er musste doch spüren, dass sein Partner über Leichen ging. Das sah man dessen eiskaltem Blick ja förmlich an! Ahnte Neill wirklich nichts? Oder wollte sie das nur glauben?

Betrübt über den Zweifel, der wie ein Funke in ihr züngelte, aber auch darüber, dass sie Neill nicht von der glücklichen Rettung der kleinen Nang würde berichten können, begann Saomai, sich anzuziehen. Ihr Blick fiel auf das kleine Fläschchen. Schlangenwein. Nangs Eltern hatten die Operation natürlich nicht bezahlen können. Doch wie die meisten mittellosen Menschen gaben sie, was sie besaßen. Schlangenwein galt vielen Asiaten als Aphrodisiakum – eine Kostbarkeit. Was hatte Nangs Mutter noch gesagt, als sie es ihr übergab?

„Du machen deine Mann davon trinken. Dann haben viele, viele Freude!“

Dabei hatte sie fröhlich gekichert.

Saomai hatte protestiert und behauptet, dass sie gar keine Verwendung hätte. Doch Mutter Nang sah ihr wissend in die Augen und flüsterte: „Macht gute Sex noch besser.“

Also hatte Saomai das Fläschchen angenommen. Sie hatte keine Ahnung, wo sie es im Laufe des Tages stehen gelassen hatte, aber nachdem es ihr Tuk nun nachgetragen hatte, sollte es wohl zum Einsatz kommen. Nicht, dass sie als Ärztin an die erregende Wirkung von in Wein eingelegten Schlangen glaubte! Aber bei dem Gedanken, es Neill heimlich in den Drink zu geben und abzuwarten, was passierte, spürte sie ein wohliges Kribbeln. Schnell zog sie sich an, verschloss ihre Instrumente, warf Arztkittel, Socken und die weiße Hose in einen Schacht, der in der Reinigung mündete und hastete über den Flur.

Nangs EKG-Gerät ließ gleichmäßige Herztöne vernehmen und auch die Anzeigen auf dem Monitor über ihrem Bett gaben keinen Grund zur Besorgnis. Saomai strich dem schlafenden Mädchen über die Wange, fühlte die Temperatur ihrer Stirn. Dann verließ sie beruhigt das kleine Zimmer. Erst im Hinausgehen bemerkte sie Nangs Mutter, die im Halbdunkel auf einem Besucherstuhl kauerte. Sie nickte ihr freundlich zu, flüsterte „Gute Nacht“ und erhielt zur Antwort ein dankbares, zahnloses Lächeln.

Auf dem Heimweg döste Saomai immer wieder ein. Draußen war es bereits dunkel und sie war hundemüde. Doch je näher sie dem Bankenviertel kam, umso mehr regte sich ihre Phantasie. Sie würde Neill einen Drink mixen und sich dann in ihr Zimmer zurückziehen. Dort würde sie abwarten, wie lange es dauerte, bis er es nicht mehr aushielt. Bei der Vorstellung, ihn mit hart geschwollenem Glied vor ihrer Tür aufzulesen, in ihr Zimmer zu ziehen und sich von ihm nehmen zu lassen, wurde sie fast fiebrig. Endlich stoppte der Bus und sie stieg aus. Noch fünfzig Schritte bis zum Eingang des gläsernen Wolkenkratzers, dreiunddreißig Sekunden, bis der Fahrstuhl sie ins siebzigste Stockwerk katapultierte und weitere zwanzig Sekunden, bis sie Tasche, Schuhe und ihr Halstuch im Garderobenschrank verstaut hatte. Dann endlich betrat sie das Wohnzimmer. Neill saß auf dem Sofa und blickte hinunter auf die beleuchtete Stadt. Er wandte den Kopf, sah sie an und lächelte.

„Schön, dass du da bist“, sagte er mit einer Stimme, die verriet, dass er es genau so meinte.

Er stand auf.

„Gerade wollte ich mir einen Drink machen. Möchtest du auch einen?“

Saomai dankte den Göttern und antwortete hastig: „Bleib sitzen, ich mache das schnell.“

„Aber du siehst müde aus. Setz dich her, ich übernehme das.“

Schon kam er auf sie zu. Saomai lief ihm entgegen, drückte ihn sanft zurück auf das Sofa und beharrte darauf, dass er blieb, wo er war. Neill nahm ihre Hand und hielt sie für einen Moment in seiner. Bevor er sie freigab, streifte er mit den Lippen die Innenseite ihres Handgelenks.

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