SAOMAI

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SAOMAI

Erotikthriller

June A. Miller


Das Knarren der schweren Eingangstür ließ Annan Thanom aufatmen. Wie immer, wenn seine Tochter von ihrem Spätdienst im Krankenhaus heimkam, hatte er besorgt ihre Rückkehr erwartet. Ein leises Schleifen über Steinfliesen ließ ihn noch einmal in Richtung Flur horchen. Wieso ging sie denn in den Keller? Ihr erster Weg führte normalerweise in die Wohnstube, wo sie Annan meist lesend auf der Couch vorfand. Jetzt ächzte die Tür zum Vorratsraum. Die Geräusche im Haus verwunderten ihn. Zumal eines fehlte: das Klackern ihrer Absätze. Seine Tochter liebte hohe Schuhe und zog sie nicht einmal im Haus aus. Heute jedoch schlich sie umher, als sollte er sie nicht hören.

Über die Schulter rief er ihren Namen. Keine Antwort. Wahrscheinlich hatte sie diese Knöpfe im Ohr, aus denen pausenlos Musik tönte. Annan seufzte und nahm den ziegeldicken Medizinschmöker zur Hand, den er eben beiseite gelegt hatte. Er hob das Buch auf seinen Schoß und schlug es im hinteren Drittel auf. Ungeduldig blätterte er zurück. Ein Zettel ragte lose zwischen den Buchseiten hervor. Mit spitzen Fingern zog er daran und betrachtete ihn voller Unbehagen. Drei Worte waren mit flüchtiger Hand auf das Papier geworfen. Für Annan Thanom bedeuteten sie sein Leben.

Zum wohl zwanzigsten Mal an diesem Abend verglich er die kantigen Buchstaben mit der Unterschrift eines Schriftstücks, das neben ihm auf dem Sofa lag. Ein dunkler Schatten glitt über sein gutmütiges Gesicht.

Erst der sonore Gong einer antiken Pendeluhr riss ihn aus seinen Grübeleien. Halb zwölf schon! Annan ließ das Buch zuklappen. Wo sie nur blieb? Sie hatte ihm noch immer nicht ‚Guten Abend‘ gesagt.

Ein Scheppern im Flur ließ ihn zusammenfahren. War sie etwa gegen die große Bodenvase gestoßen? Die stand ja nun schon ewig da!

Er stutzte, als er mit einem Mal begriff: Da draußen im Flur, das war nicht seine Tochter! Sein Kopf ruckte hoch, seine Sinnesorgane spannten ihre Membranen und jedes einzelne Härchen seines Körpers meldete wie ein Seismograph Gefahr.

Annan lauschte. Doch über dem Rauschen in seinen Ohren vernahm er kein weiteres Geräusch. Hastig legte er Brief und Zettel in das Buch zurück und bedeckte es unter einem Sofakissen. Er blickte sich im Zimmer um, als betrachte er es zum letzten Mal. Dann stemmte er sich aus dem tiefen Ledersofa hoch, bereit sich dem zu stellen, was ihn erwartete. Ein Luftzug streifte Annans Rücken.

Im selben Augenblick schoss ihm ein Brennen in die Seite, als würde ihm kochendes Wasser injiziert. Er jaulte auf und presste eine Hand auf die schmerzende Stelle in seinem Rücken. Sie fühlte sich warm und feucht an und seltsam klebrig. Seine Chirurgenhände ertasteten ein Loch, wo unversehrtes Fleisch hätte sein sollen. Wie durch Watte vernahm er ein Pfeifen, das er zunächst nicht deuten konnte. Doch zusammen mit der Wunde in seinem Rücken machte es Sinn.

Er war angeschossen worden!

Zitternd griff Annan nach der Sofalehne, stützte sich keuchend darauf, während sein Verstand fieberhaft nach einem Ausweg suchte. Zu seinen Füßen breitete sich eine glänzende Lache aus und ihm dämmerte mit eisigem Entsetzen, dass es Blut war. Sein Blut.

Die Götter stehen mir bei, betete er.

Ein zweiter Schlag katapultierte ihn nach vorn und ließ ihn wie einen gefällten Baum in den hölzernen Couchtisch krachen. Das Brennen weitete sich auf seine Brust aus, das seltsame Pfeifen gellte zum zweiten Mal in seinen Ohren. Bevor ihn tiefschwarze Finsternis umfing, galt Annan Thanoms letzter Gedanke seiner Tochter. Saomai.

****

Ein Dutzend Männerköpfe flog hoch, als sie aus dem kuppelförmigen Eingangsportal der „Sky Bar“ ins Freie trat. Die darunter liegende Terrasse war zum Bersten voll mit gestylten Menschen. Saomai verharrte kurz, um in der Menge nach dem einen bekannten Gesicht zu suchen. Die Herren musterten sie wie Freiwild und sie bereute, das knappe Etuikleid gewählt zu haben. Von da unten konnten sie ihr vermutlich bis aufs Höschen sehen. In der Ferne hob sich eine kleine Damenhand. Strassbesetzte Armreifen sprühten Funken, ein wilder Rotschopf reckte sich in die Höhe. Chandra. Saomai rüstete sich für den Abstieg auf der zum Catwalk erleuchteten Freitreppe. Unsicher setzte sie einen Fuß vor den anderen. Die Finger ihrer linken Hand tasteten nach einem Handlauf, fanden jedoch nur raues Mauerwerk. In leiser Verzweiflung hob sie den Blick. Und verstand, warum Chandra diese Bar gewählt hatte! Es war, als spielten einem hier oben, dreiundsechzig Stockwerke über dem nächtlichen Bangkok, die Sinne einen Streich. Als schritte man auf einem Lichtstrahl hinunter auf die Stadt. Nur dass Saomai nicht das Gefühl hatte, zu schreiten. Ihr vernarbter Fuß schmerzte in dem viel zu hohen Pump und sie spürte, wie sich die Blicke der Männer darauf hefteten. Schon wandten sich einige der Herren ab. Es interessierte sie nicht.

Unten angekommen, kämpfte sich Saomai durch die Cocktails schlürfende Menge, die träge zu den Rhythmen schwerer Club Beats wogte. Endlich erreichte sie ihre Freundin und ließ sich ihr gegenüber in einen Loungesessel fallen.

„Hallo meine Liebe.“

„Hallo“, antwortete Saomai schwach.

Ihr Tisch lag an der äußersten Ecke der Dachterrasse, flankiert von einem gläsernen Geländer, dahinter der Abgrund. In diesem Teil der Bar war es ruhiger, die Musik drang gedämpft herüber. Chandras kreisrundes Thaigesicht mit den stoppelkurzen Haaren tanzte vor Saomai wie ein roter Vollmond über nachtdunklem Meer.

Muss an den Schmerztabletten liegen, dachte sie und schloss die Augen.

„Dir geht es nicht gut, was?“

Chandra klang besorgt.

„Doch, doch, es geht schon“, wehrte Saomai ab. „Es ist nur das erste Mal, dass ich ausgehe, seit…“

Sie ließ den Satz unvollendet.

Die beiden Frauen schwiegen betreten.

Schließlich räusperte sich Chandra und sagte: „Saomai, wir haben uns seit dem schrecklichen Tod deines Vaters nicht mehr gesehen. Es gibt keine Worte, die ausdrücken könnten, wie leid mir das tut!“

„Danke. Ist schon in Ordnung.“

„Nein, das ist es nicht. Lass uns nicht so tun, als könnten wir das heute Abend ausgrenzen“, insistierte sie.

„Ja, du hast vermutlich Recht.“

„Warum hast du nie zurückgerufen?“ fragte ihre Freundin eindringlich. „Ich wollte dir damals doch helfen.“

„Ich weiß“, antwortete Saomai leise. Die schmalen Schultern hoben und senkten sich. „Es ist nur so, dass mir niemand helfen konnte.“

„Das glaube ich nicht! Zumindest braucht man doch jemanden zum Reden, jemanden, der sich um einen kümmert. Du warst plötzlich ganz allein, hast keine Familie mehr. Ich wäre gern für dich da gewesen!“

Saomai sah zu Boden.

„Ja, jemand zum Reden tut schon gut.“ Gerade war es ihr aufgefallen.

„Dann lass uns jetzt reden“, sagte Chandra sanft. „Willst du mir erzählen, was damals passiert ist?“

Saomai seufzte. Sie hatte die Geschichte so oft erzählt. Der Polizei, dem Staatsanwalt, sogar der Presse. Damals, vor fast einem Jahr. Es hatte nichts genützt.

Ein Kellner nahm ihre Bestellung auf. Als er sich abwandte, legte Saomai die Stirn in Falten.

„Es war ein Dienstag“, begann sie zaghaft. „Ich hatte Spätschicht auf meiner Station und eigentlich längst Feierabend. Aber weil mich daheim um die Zeit nichts Besonderes erwartete, sah ich noch bei einem frisch operierten Patienten vorbei. Ich duschte im Krankenhaus, dann erst ging ich heim.“

Sie starrte in die Flamme der Kerze auf dem Tisch vor sich und hatte Mühe, weiter zu sprechen. Als sie es tat, war ihre Stimme brüchig.

„Ich habe mir richtig Zeit gelassen, verstehst du? Wäre ich eine halbe Stunde früher zu Hause gewesen, wäre mein Vater vielleicht noch am Leben!“

Chandra hatte ihre Hand genommen, streichelte mit dem Daumen darüber.

„Als ich fast da war, sah ich zwei Männer aus unserem Haus kommen. Dunkle Kleidung, den Blick gesenkt, als ob sie niemand erkennen sollte. Der hintere steckte sich irgendetwas in den Hosenbund. Erst später habe ich begriffen, dass es eine Pistole war. Die Situation kam mir so unheimlich vor, dass ich blind vor Sorge loslief. Im selben Augenblick sprangen sie in ein Auto. So ein schwerer Geländewagen. Der Motor muss die ganze Zeit gelaufen sein, sonst hätten sie nicht so schnell losfahren können“, sie schluckte schwer, „und ich wäre nicht in das Auto gerannt.“

Bei der Erinnerung an den Aufprall fröstelte sie trotz der tropischen Nachthitze. Die feine Narbe über ihrem linken Auge zuckte.

„Mein rechter Fuß kam unter den Reifen und mit dem Gesicht schlug ich gegen die Fahrertür.“

Chandra sah sie entsetzt an.

„Und dann?“, fragte sie behutsam, weil sie spürte, dass Saomai die Geschichte trotz aller Qual zu Ende erzählen musste.

Der Kellner brachte ihre Getränke. Saomai nahm einen Schluck Martini, bevor sie weitersprach.

„Ich war wohl bewusstlos. Jedenfalls standen Menschen um mich herum, als ich zu mir kam. Ich zeigte auf unser Haus und rief: „Mein Vater! Mein Vater!“, aber die Leute verstanden nicht, was ich meinte. Sie dachten wohl, ich hätte einen Schock. Ich wollte aufstehen, aber mein Fuß... Die Schmerzen habe ich gar nicht gespürt. Ich konnte nur einfach nicht stehen. Eine Frau hielt mich schließlich am Boden fest und sagte, der Krankenwagen sei unterwegs. Erst als meine Kollegen eintrafen, hat mir endlich jemand zugehört.“

„Oh Gott, wie furchtbar!“, rief Chandra voller Mitgefühl.

„Ja, zumal das wichtige Minuten waren.“

 

Saomais Stimme verebbte zu einem Flüstern. „Mein Vater ist nicht an den Schüssen in seinen Rücken gestorben. Er ist daran verblutet!“

Tränen rannen über ihr schönes Gesicht. Auch Chandra konnte ihre nicht zurückhalten. Schweigend saßen sie da und hielten einander an den Händen.

„Ist“, Chandra korrigierte sich, „sind die Täter gefasst worden?

„Nein.“

„Hast du die Männer denn nicht beschreiben können? Es gab doch bestimmt Verdächtige, eine Gegenüberstellung?“

„Ich hab‘ der Polizei sehr konkrete Hinweise gegeben“, sagte Saomai und ihre schwarzen Augen blitzten, „sie haben sie ignoriert.“

„Wieso ignoriert?“ Chandra konnte nicht glauben, was sie da hörte.

„Mein Vater hatte Morddrohungen erhalten und es war klar, von wem die kamen. Ein Immobilienhai, der sich schon das halbe Altstadtviertel unter den Nagel gerissen hatte, und dem nur noch das Krankenhaus fehlte, setzte uns zu.“

Chandra sah sie fragend an.

„Mein Pa war Direktor des Memorial Hospitals, in dem ich die Kinderstation leite. Die städtische Verwaltung gab viel auf seine Meinung. Er sprach sich gegen den Verkauf, und damit den Abriss des Krankenhauses aus, und sie folgten seinem Rat.“

„Wie mutig von deinem Vater. Ich meine, eine Morddrohung ignoriert man ja nicht einfach!“

„Wir waren natürlich besorgt deshalb. Trotzdem waren wir uns einig, nicht nachzugeben. Du kennst das Viertel – es ist noch so ursprünglich. Das darf nicht einfach platt gemacht werden! In unsere Klinik kommen viele Arme, die woanders nicht behandelt werden. Daraus wollen die eine Wellness-Farm machen!“

Saomai hatte sich in Rage geredet. Etwas ruhiger fuhr sie fort: „Das ganze Bauprojekt hing wohl an dem Krankenhaus. Und damit am Widerstand meines Vaters.“

Chandra sah sie eindringlich an. „Wenn es diese Drohungen gab, ist die Polizei denen doch bestimmt nachgegangen?“

Saomai wurde starr und drückte den Rücken durch.

„Lass uns von etwas anderem sprechen, o.k.?“

„Ja“, antwortete Chandra überrascht, „natürlich.“

„Erzähl mir von deinem Massage-Salon“, bat Saomai. „Wie läuft das Geschäft?“

Ihre Studienfreundin hatte sich vor eineinhalb Jahren aus der Medizin verabschiedet, um endlich Geld zu verdienen, wie sie spaßeshalber sagte.

„Sehr gut“, begann Chandra zögernd. Dann ließ sie sich auf den Themenwechsel ein. „Die Miete ist zwar horrend, aber das ist nun mal so im Business District. Dafür gibt es dort ein zahlungswilliges Klientel.“

Sie rieb Zeigefinger und Daumen der rechten Hand aneinander und grinste.

„Seit der Eröffnung vom ‚Delight Massage Club‘ habe ich 20 neue Thai-Masseurinnen eingestellt und schon dreimal neue Räume hinzugemietet.“

„Dann musst du gar nicht mehr selbst ran?“, fragte Saomai lachend.

Sie hatte ihre Freundin anfangs damit geneckt, dass Männer in einem Club mit diesem Namen wohl mehr erwarteten, als ‚nur‘ eine Massage.

„Nein“, Chandra lachte ebenfalls, „ich manage nur noch. Und was das angeht, gibt es eine klare Regel bei uns: no happy ending!“

„Das ist gut“, gab Saomai zurück. Sie behandelte fast täglich Thaimädchen und -jungen, oft noch Kinder, die von Freiern missbraucht wurden, und war froh zu hören, dass Chandra so etwas nicht duldete.

„Ich habe übrigens ziemlich prominentes Publikum“, erklärte ihre Freundin stolz.

„Echt? Erzähl!“

„Den Innenminister zum Beispiel und ein paar Abkömmlinge der Königsfamilie.“

„Wow!“ Saomai war ehrlich beeindruckt. Sie überlegte kurz. „Deine Klientel tummelt sich bestimmt auch in Nobelclubs wie diesem, oder?“

Chandra sah sich suchend auf der Dachterrasse um und nickte.

„Siehst du da hinten das indische Paar?“ Sie deutete mit dem Kinn nach links. „Er ist Schauspieler und in Indien eine Berühmtheit. Kommt fast jede Woche zur Massage.“

Saomai reckte den Hals.

„Oder die zwei Männer an dem Tisch vor der Bar.“

Chandra zeigte in die entgegengesetzte Richtung.

„Der Linke, das ist Neill Ferguson, stinkreich. Ihm gehört das Penthouse über meinem Club. Hat jeden Dienstag und Donnerstag einen festen Termin.“

Saomai hatte aufgehorcht, als der Name fiel. Neill Ferguson war der größte Baulöwe der Stadt. Und, wie sie aus der Presse wusste, ein Geschäftspartner des Mannes, den sie für den Mörder ihres Vaters hielt. Sie machte Ferguson an einem der Tische vor der illuminierten Bar aus. Neugierig musterte Saomai ihn. Das kantige Kinn ließ auf Amerikaner tippen. Dabei war er Norweger, wie sie gelesen hatte. Sein Haar trug er leicht nach hinten gegelt. Wohl um die Locken zu bändigen, die ihm dennoch zurück in die Stirn fielen. Besonders auffallend waren seine breiten Schultern. Vielleicht war er Schwimmer. Oder Rugby-Spieler? Er wirkte zurückhaltend, sprach ohne übertriebene Geste mit seinem Gegenüber. Mehr konnte Saomai von ihrem Platz aus nicht erkennen. Es war merkwürdig, Ferguson in natura zu sehen. Saomai hatte in den letzten Monaten jeden Zeitungsbericht über ihn und seinen Partner verschlungen, ausgeschnitten, abgeheftet.

Die Erinnerung an die Geschehnisse vor einem Jahr krampfte ihr den Magen zusammen. Sie schlang fröstelnd die Arme um ihren Körper.

„Saomai, ist alles in Ordnung?“

„Ja, geht schon“, wehrte sie ab.

Dann kam ihr ein Gedanke, der sie kerzengerade werden ließ.

„Du kennst nicht zufällig einen Lamom Benjawan?“

****

„Chandra? Hi, hier ist Saomai.“

„Hallo meine Liebe. Schön, dass du anrufst! Bist du gut nach Haus gekommen?“

„Ja, danke. Alles bestens“, log Saomai.

Tatsächlich fühlte sie sich elend. Sie hatte den Cocktail aus Martinis und Schmerztabletten nicht vertragen und sich zweimal übergeben. Als Ärztin hätte sie es besser wissen müssen! Die schlaflose Nacht hatte aber auch ein Gutes gehabt.

„… so schön, dich zu sehen. Das machen wir ganz bald wieder“ flötete ihre Freundin ins Telefon.

Saomai hörte kaum hin. Ihr Herz pochte bei dem Gedanken daran, was sie Chandra fragen wollte.

„Weißt du was, gerade habe ich mir eine Tasche gekauft, die ich neulich schon in der Hand…“

„Kann ich dich etwas fragen, Chandra?“, unterbrach Saomai den Wortschwall ihrer Freundin.

„Äh, ja. Was denn?“

„Kannst du mich mit Neill Ferguson bekannt machen?“

Saomai hatte die Frage herausgepresst. Jetzt hörte sie, wie Chandra am anderen Ende der Leitung die Luft einsog. Sie selbst wagte keinen weiteren Atemzug.

„Warum?“, fragte Chandra.

„Er hat mir gefallen. Er ist gutaussehend, vermögend,…“

„Blödsinn!“, widersprach ihre Freundin heftig.

„Hm?“

„Das ist Blödsinn, sagte ich. Dich interessiert doch nicht sein Portemonnaie! Dich interessiert Lamom Benjawan, stimmt’s?“

Damit hatte Saomai nicht gerechnet.

„Wie kommst du denn darauf?“

„Saomai, verkauf mich nicht für dumm!“ Chandra klang jetzt ungehalten. „Gestern Abend fragst du mich ganz nebenbei nach diesem Lamom und heute willst du Neill Ferguson kennenlernen, der zufällig dessen Partner ist?“

Das Wort ‚zufällig‘ betonte sie voller Ironie.

„Woher weißt du das?“

„Ich habe ihn gegoogelt, ganz einfach!“

Das kam unerwartet. Offensichtlich konnte sie ihrer Freundin nichts vormachen. Gut, dann eben nicht. Dann würde sie die Wahrheit sagen und hoffen, dass Chandra ihr trotzdem half.

„Du hast recht“, sagte sie reumütig. Dann wurde ihre Stimme fest. „Und du musst das verstehen! Ich habe alles versucht, um zu beweisen, dass dieser Dreckskerl meinen Vater umgebracht hat. Aber er hat Freunde bei der Polizei, die ihn decken und gar nicht erst gegen ihn ermitteln. Seit Monaten frage ich mich, wie ich an ihn herankomme. Als du mir gestern Neill Ferguson gezeigt hast, war das wie ein Wink des Schicksals.“

„Spinnst du?“, fuhr Chandra aufgebracht dazwischen. „Wenn dieser Lamom tatsächlich deinen Vater ermordet hat, ist das lebensgefährlich!“

„Vielleicht“, gab Saomai matt zurück, „aber es ist die einzige Hoffnung, die ich habe.“

Chandra musste ihr einfach helfen! Sie appellierte an ihr Gewissen.

„Wenn es dein Vater wäre, würdest du das auch wagen, oder?“

Chandra stöhnte auf. Familienbande waren in Thailand heilig.

„Also gut“, gab sie schließlich nach. „Es gibt aber ein Problem.“

„Welches?“, fragte Saomai bange.

„Er ist zwar Kunde im Delight Club, aber wir gehen ja nicht zusammen aus, oder sowas. Wie soll ich euch also miteinander bekannt machen?“

„Ach“, sagte Saomai, „da hätte ich eine Idee!“

****

Saomai huschte in das Halbdunkel des Massageraums, schloss leise die Schiebetür hinter sich und lehnte mit dem Rücken gegen das kühle Tropenholz. Auf der Massagebank wartete ihr Kunde. Ihr einziger Kunde. Er war nackt.

„Namasté, Mr. Ferguson“, sagte sie und straffte die Schultern. Sie hatte den thailändischen Gruß verführerisch klingen lassen wollen. Heraus gekommen war ein heiseres Krächzen. Neill Ferguson hob den Kopf. Er scannte Saomai flüchtig, ließ die Stirn zurück auf das Laken sinken und brummte: „Du bist zu spät.“

„Zwei Minuten!“, protestierte sie, entrüstet darüber, dass ihm dies als Verspätung galt.

Fergusons Kopf ruckte erneut hoch. Dieses Mal musterte er sie ausführlicher, blieb länger als notwendig an ihrem Fußgelenk hängen und starrte ihr schließlich ins Gesicht.

„Zwei Minuten meiner Zeit solltest du dir nicht leisten.“

Sein überheblicher Ton ließ Saomais Nasenflügel erbeben. Unter Aufbietung aller Willenskraft hielt sie eine scharfe Erwiderung zurück.

Das läuft gar nicht gut, dachte sie alarmiert.

Das flaue Gefühl, das ihr seit Stunden den Magen zuzog, kroch höher und schnürte an ihrer Kehle. Saomai kämpfte den Impuls nieder, einfach zu gehen. Doch sie musste bleiben, musste einen guten Eindruck auf diesen Mann machen!

Reiß‘ dich zusammen, ermahnte sie sich und entgegen allem, was sie empfand, sagte sie unterwürfig: „Dann werde ich sofort beginnen, Mr. Ferguson.“

Ein Handy ertönte und sie zuckte zusammen.

Lass es nicht meins sein, dachte sie erschrocken, dann fliegst du noch in dieser Sekunde raus! Da hörte sie Ferguson in sein Mobiltelefon sprechen.

Unschlüssig, ob sie wie angekündigt mit der Massage beginnen sollte, stand Saomai im Raum.

„Was ist jetzt?“, ätzte er in ihre Richtung. „Fängst du endlich an, oder was?“

„Ja, natürlich. Entschuldigung“, stammelte sie und setzte sich in Bewegung. Sie nahm ein seidenes Tuch aus einem Sideboard und bedeckte den entblößten Hintern ihres Kunden. Dann ging sie zum unteren Ende der Massagebank und begann mit zittrigen Fingern, seine Waden zu massieren.

Das Telefonat schien sich plötzlich um sie zu drehen.

„Ach, ich habe schon wieder eine neue Thai. Die dritte in acht Wochen.“

Saomai konnte nicht verstehen, was der Gesprächspartner sagte, Fergusons Antwort jedoch war eine Frechheit.

„Nein, sicher nicht. Das ist so ein dürres Ding. Der fehlt so ziemlich alles, um gut zu sein. Wie die schon an meinen Waden rumfingert!“

Sie stoppte mitten in der Bewegung. Das Ganze war ein Fiasko! Dabei hatte sie es sich so einfach vorgestellt, Ferguson für sich zu gewinnen. Sie kannte ihre Wirkung auf Männer. Ein Lächeln, eine Massage, an die er sich noch lange erinnern würde, die unausgesprochene Aussicht auf mehr, hätten genügen sollen. Und nun gelangen ihr nicht einmal die einfachsten Handgriffe!

„Ich meld‘ mich nachher nochmal.“

Ferguson hatte aufgelegt. Mit einem Ruck drehte er sich um und richtete sich auf. Dass dabei das Tuch zu Boden glitt, schien ihn nicht zu stören. Im Gegenteil. Er blickte an sich hinunter, dann zu Saomai und fragte genervt: „Kannst du wenigstens gut blasen?“

****

Die Frage war heraus, bevor Neill darüber nachdenken konnte. Noch im selben Augenblick tat es ihm leid, zumal das Mädchen bis unter die Haarwurzeln errötete. Sie hob die Hände und machte zwei Schritte rückwärts, fort von ihm. Ein weiterer Schritt und sie stieß an die Wand hinter sich. Aus glühenden Mandelaugen blickte sie ihn an, während es hinter ihrer Stirn zu arbeiten schien. Offensichtlich war sie noch nie in einer solchen Situation gewesen. Aber war das nicht der Alltag einer Thaimasseurin in Bangkok, fragte er sich. Für den Bruchteil einer Sekunde dachte er sogar: Sie wirkt gar nicht wie eine. Etwas in ihrem Blick, in der Haltung, die sie plötzlich angenommen hatte, ließ ihn zu dem Schluss kommen, dass sie es vielmehr gewohnt war, zu führen.

 

Ihr Gesichtsausdruck changierte. Eben noch peinlich berührt, legte sie jetzt die Stirn in Falten, als würde sie sein Angebot überdenken. Neill meinte, ein spöttisches Lächeln über ihre Lippen huschen zu sehen. Ein äußerst reizvolles Lächeln.

Doch schon im nächsten Moment wechselte ihr Ausdruck erneut. Eine steile Furche zwischen den Augenbrauen verzerrte ihr eigentlich hübsches Gesicht. Neill setzte gerade an, etwas zu sagen, als sie die nächste Wandlung durchmachte. Ein Ruck ging durch ihren Körper, sie reckte das Kinn vor und sagte: „Sie sollten sich schämen, Mister Ferguson. Dies ist ein ehrenwerter Club.“

Mit erhobenem Kopf schritt sie zur Tür. Von dort maß sie ihn mit einem letzten, geringschätzenden Blick. Dann war sie in Richtung der Aufzüge verschwunden.

In seinem Apartment blieb Neill vor den Panoramafenstern des Wohnzimmers stehen und blickte nachdenklich hinaus.

Was war da gerade passiert? fragte er sich. Er war an sich ein zurückhaltender Typ. Was also hatte ihn zu dieser unmöglichen Frage gegenüber seiner neuen Masseurin veranlasst?

Es hatte eine eigenartige Spannung in der Luft gelegen, von dem Moment an, als sie den Raum betreten hatte. Sie war hereingehuscht und hatte sich an die Tür gelehnt, als müsse sie sich gegen ihn wappnen. Ihr Blick hatte etwas Berechnendes gehabt, gleichzeitig war sie total verunsichert. Neill war sauer gewesen, wie stümperhaft die junge Frau ihn bedient hatte. Aber das rechtfertigte nicht, dass er sie so brüskierte! Ihre Antwort hatte ihm jedenfalls imponiert. Und überhaupt hatte diese Thai etwas in ihm angerührt. Er spürte wie es in seinen Lenden zu Pochen begann, als er sich die Situation noch einmal ins Gedächtnis rief. Ihre Augen, in denen eine gewisse Traurigkeit lag – und so viel Feuer! Und dann ihre seltsame Reaktion auf seine Frage! Einen Augenblick lang war Neill sicher gewesen, sie würde es tun. War es nur Stolz gewesen, der sie davon abgehalten hatte?

Chandra, die Clubchefin, hatte schließlich die Massage durchgeführt. Er kannte sie, seit es ihren Club gab.

„Was war da gerade los, Neill?“, hatte sie ohne Umschweife gefragt.

„Seit wann stellst du solche Anfängerinnen ein?“, hatte er anstelle einer Antwort entgegnet.

„Anfänger worin?“, fragte sie unverständig. „Saomai ist eine Meisterin der Thai-Massage! Und nicht nur darin.“

Neill wurde das Gefühl nicht los, dass Chandra ihm diese Saomai aufschwatzen wollte.

„Du solltest sie wiedersehen!“, hatte sie beim Hinausgehen gesagt, war stehengeblieben und hatte ihn mit ihrem Blick durchbohrt.

Vielleicht mache ich das, dachte er nun und lächelte.

****

Saomais Mobiltelefon vibrierte in der Tasche ihres Arztkittels, als sie gerade mit einem Kollegen die Behandlung einer Patientin besprach. Normalerweise nahm sie im Dienst keine privaten Anrufe entgegen, doch als im Display Chandras Name aufleuchtete, sah sie Dr. Nadee entschuldigend an und stellte sich einige Schritte abseits.

„Hallo Chandra“, sagte sie, erleichtert über den Anruf der Freundin.

Sie musste unbedingt mit ihr über den verpatzten Termin mit Neill Ferguson sprechen. Vielleicht konnten sie sich am Abend treffen.

„Hallo Saomai. Störe ich?“

„Nein, nein, es geht schon. Gut, dass du zurückrufst. Ich habe dich die ganzen Tage nicht erreicht und dachte, du bist sauer auf mich?“

„Ach, ich hatte mein Handy verlegt und heute fiel mir endlich ein, wo. Beim Shoppen, stell dir vor! Sowas Blödes!“, lachte Chandra. Dann kam sie auf Saomais Frage zurück. „Worüber sollte ich denn sauer sein, Liebes?“

„Na, weil ich mich bei Neill Ferguson so dämlich angestellt habe! Ich hoffe, ich habe ihn nicht verprellt? Er ist dein Stammkunde und ich habe mich total unprofessionell verhalten!“

Saomai war ganz außer sich. Der Frust über ihren verpfuschten Auftritt im Delight Club nagte seit Tagen an ihr. Das hatte sie gründlich versaut!

Noch eine Gelegenheit würde sich kaum bieten, Lamoms Partner kennenzulernen. Chandra konnte sie jedenfalls nicht noch einmal um Unterstützung bitten. Umso verblüffter war sie über deren Antwort.

„Deshalb rufe ich eigentlich an. Stell dir vor: Gerade habe ich meine Mailbox abgehört und da war eine Nachricht von Neill drauf.“

„Was denn für eine Nachricht?“, fragte Saomai mit klopfendem Herzen und umklammerte ihr Mobiltelefon mit beiden Händen.

„Er will dich sehen. Heute Abend. In seinem Penthouse.“

„Was sagst du da?“, rief Soamai laut und winkte entschuldigend, als sie Nadees alarmierten Blick bemerkte.

„Ja, kein Scherz! Er hat was von einem Missverständnis gesagt, und dass ich dich heute nach Dienstschluss zu ihm schicken soll.“

„Das ist ja“, flüsterte Saomai atemlos, „das ist großartig! Danke Chandra!“

Sie legte auf und starrte an die gegenüberliegende Wand. Neill Ferguson lud sie in sein Penthouse. Plötzlich wurden ihr die Beine weich.

Drei Stunden später kündigte ein leises Summen die Ankunft des Fahrstuhls in Neills Apartment an. Ein Blick in die Überwachungskamera verriet ihm, dass es die Thai war. Üblicherweise konnte er seine Besucher dabei beobachten, wie sie sich im Fahrstuhlspiegel herrichteten, manche bleckten die Zähne, andere – vor allem Frauen – kontrollierten ihr Make-Up. Die meisten wirkten nervös. Nicht so diese. Sie stand aufrecht in der Mitte des Aufzugs und blickte geradeaus auf die Tür. Zu seiner eigenen Verwunderung überprüfte nun Neill sein Aussehen in dem spiegelnden Monitor auf seinem Schreibtisch. Gut soweit, dachte er. Die braunen Locken waren einigermaßen unter Kontrolle. Krawatte und Sakko des Tages hatte er gegen ein lässiges Shirt und eine graue Stoffhose eingetauscht. Die nackten Füße steckten in wildledernen Mokassins. Er fühlte sich leicht erregt bei dem Gedanken daran, was der Abend mit sich bringen könnte.

Die Fahrstuhltür öffnete sich und Saomai betrat die Suite.

Sie ist keine Masseurin, schoss es Neill schon zum zweiten Mal durch den Kopf. Selbstsicher schritt sie auf ihn zu. Aus einem knallengen Ledermini ragten lange, schlanke Beine, die in geschnürten High-Heels endeten. Unter ihrem Massagekittel hätte Neill im Leben nicht so etwas erwartet und auch ihre Haare trug sie heute offen. Pechschwarz und seidenglänzend flossen sie über ihre linke Schulter nach vorn. Die ebenso schwarzen Augen blickten ihn herausfordernd an. Einen Augenblick lang war Neill unsicher, ob sein Plan aufgehen würde. Da lächelte ihr verführerisch rot gemalter Mund und er wusste, dass es noch viel besser kommen würde.

„Namasté, Mr. Ferguson“, sagte Saomai, legte die Handflächen vor der Brust aneinander und neigte leicht den Kopf. Ihre Stimme hatte einen angenehm dunklen Ton, nicht das Krächzen von neulich, das ihn so genervt hatte. Neill kannte die Facetten des thailändischen Grußes. Dieser verriet ihm, dass sie sich nicht unterlegen fühlte. Schade, dachte er, das wäre noch reizvoller.

„Namasté“, erwiderte er ihren Gruß auf dieselbe Weise.

Es funktioniert, dachte Saomai erleichtert. Er ist überrascht. Und was noch wichtiger war: Neill Ferguson war interessiert.

Er betrachtete sie von Kopf bis Fuß. Doch anders als ein paar Tage zuvor tat er es nun mit offensichtlichem Genuss. Seine Augen erforschten ihr Gesicht, registrierten die durchscheinende Narbe über ihrer linken Braue und ihre vollen Lippen, blieben an ihrem schlanken Hals haften und wanderten von dort zum Ausschnitt ihres schwarzen Tops. Sein Blick glitt weiter die schmale Taille entlang und schließlich ihre Beine hinab bis zu den Fesseln. Einen Augenblick lang fühlte Saomai sich unbehaglich. Ihr kaputtes Fußgelenk konnte ihm bei dieser eingehenden Musterung kaum entgehen. Da halfen auch die Satinschnüre nicht, die sich ihre zierlichen Fesseln hinaufschlangen, um die Vernarbungen zu verdecken.

Doch Saomai ließ ihn gewähren. Auch sie musterte Neill neugierig. Aus der Zeitung kannte sie ihn nur im Anzug. Als er vor ihr im Massageraum gelegen hatte, war sie zu aufgeregt gewesen, um ihn sich genauer anzusehen. Nun war Zeit dafür. Das enge T-Shirt betonte die breiten Schultern, die ihr schon in der Sky Bar aufgefallen waren. Seine Taille war schmal wie die eines Schwimmers. Kein Bauchansatz, keine Hüftringe. Wenn dieser Körper hielt, was er angezogen versprach, hatte er trotz seiner 43 Jahre ein Sixpack! Sie schluckte trocken und setzte ihre Beobachtung fort. Ferguson war größer, als sie erwartet hatte. Das gefiel ihr, denn mit einem Meter fünfundsiebzig überragte Saomai die meisten Männer.