Buch lesen: «Ein Lebenstraum», Seite 6

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Vierzehntes Kapitel.

»Stehen Sie auf, liebes Kind«, sagte die Alte, Leonoren die Hand auf die Stirn legend, und diese schrak empor und blickte verwundert in das fremde Gesicht.

»Es ist mir immer leid, ein so junges, müdes Ding zu wecken, aber es geht schon nicht anders. Sie können im Bette des Fräuleins nicht die Nacht über bleiben und zudem wird Speise Ihnen guttun. Ziehen Sie sich rasch etwas über, dort steht Ihr Kofferchen, das der Herr Justizrat hier gelassen, eilen Sie, Herzchen, ich muss des Fräuleins Zimmer und Bett für die Nacht einrichten.«

Das waren die ersten Worte, die der schlaftrunkenen Leonore in die Ohren tönten und sie zum Bewusstsein ihres Kummers und ihrer Verlassenheit zurückriefen. Aber wie traurig das junge Mädchen auch sein mochte, es war nichts desto weniger unleugbar, dass sie einen recht tüchtigen Hunger verspürte, denn das späte Mittagsbrot der vornehmen Familie hatte sie verschlafen. Die Alte sah ihr beim Essen mit dem freundlichsten Gesichte von der Welt zu und sagte endlich:

»Ja, ja, in den Jahren schmeckt’s; wenn Sie aber satt sind, so kommen Sie gleich mit mir, ich zeige Ihnen Ihr Stübchen, Ich bin hier Beschließerin, mein liebes Kind, und sorge seit zweiundfünfzig Jahren für das Haus. Ich war so jung wie Sie, als ich hierher kam, und wie ich Sie so da liegen sah, so jung, hübsch und unschuldig, da ist mir der Gedanke durch den Kopf gegangen, der Himmel, der mir eine Tochter versagt, hätte Sie zu meiner Nachfolgerin bestimmt. – Nun, wenn Sie satt sind, kommen Sie hübsch mit mir.«

»Darf ich mich nicht dem Fräulein empfehlen?«

»Nicht doch, das Fräulein ist noch unten in der Gesellschaft, doch muss sie, wenn sie heraufkommt, alles in Ordnung finden, sie bleibt selten, bis alles vorüber, manchmal ist sie keine fünf Minuten unten und den ganzen übrigen Tag schreibt sie entweder, oder liest, oder geht zu Kranken und Armen. Sie ist grausam gelehrt und schrecklich gut, liebes Kind, und macht sich mit jedermann gemein, Stolz kennt sie gar nicht, sie ist eine echte Kandern, wie der gnädige Herr, Gott hab’ ihn selig, und unser Sohn Siegmund. Die Familie der gnädigen Frau ist ganz anders, die halten viel auf den Stand. – Nun, sie können es auch. Der Vater unserer Gnädigen – wir nannten ihn unter uns ›die alte Exzellenz‹ – war General-Lieutenant und Graf, und sein Vater ist Minister gewesen und seine Mutter Oberhofmeisterin, die Lollhardts sind eine grausam vornehme Familie. Und nun kommen Sie, Herzchen, Fräulein Dorothea hat befohlen, dass Sie morgen früh wieder bei ihr sind.«

Sie zündete trotz der Helle des Zimmers eine Ampel an, die an der Decke hing, und ging dann raschen Schrittes voraus durch lange hallende Gänge und eine Menge glänzender Zimmer. Das letzte derselben war ein Saal von riesigen Dimensionen. Die Wände waren buchstäblich bedeckt mit Bildern, die alle nur Personen teils männlichen, teils weiblichen Geschlechtes vorstellten. Die Kleidung war verschieden und gehörte sichtlich auch verschiedenen Zeitepochen an, die Gesichter aber hatten meistens Ähnlichkeit miteinander und besonders wiederholten sich die großen nachtschwarzen Augen. – Leonore war unter den Ahnenbildern Siegmunds. Mit klopfendem Herzen schritt sie zwischen ihnen dahin und heftete ihre Augen bald auf dieses, bald auf jenes ihr besonders auffallende Gesicht.

»Das sind alles Lollhardts«, sagte die Beschließerin, mit der Hand auf die Bilder deutend, »sie sind verwandt mit den Kanderns, schon von Uralters her, sonst hätte der selige Herr schwerlich die reiche Erbin bekommen; denn sehen Sie, Kindchen, obwohl von erbärmlich vornehmer Familie, war er doch nur ein armer Husaren-Lieutenant und ihm gehörte nichts als das Gütchen in Wilkowischken, das jetzt mein Ältester bewirtschaftet. Das ist ein kapitaler Landwirt, er hält die ganze Geschichte hier zusammen; denn unser Sohn Siegmund, müssen Sie wissen, wenn er auch gerade nicht dem Vater nachschlägt, der sich aus der Wirtschaft wenig machte, ist doch noch jung und viel auf Reisen, und dann ist er auch mörderlich gelehrt, und die Gelehrsamkeit will sich mit der Wirtschaft bei Mann und Weib nimmer mehr vertragen.«

Unter diesem Geplauder waren die beiden eine Treppe hinabgeschritten und befanden sich in einer tiefen Parterre-Region des stattlichen Gebäudes. Hier reihte sich Zimmer an Zimmer, und in eines derselben führte Frau Rauscher Leonoren.

»Na, hierher soll ich Sie bringen, hat das Fräulein befohlen. Es ist noch immer eher ein Gast- als ein Domestiken-Zimmer. Die Predigerstöchter aus Schirwindt haben hier vor Jahren oft logiert. – Ja, das ist nun lange her!«

Die Alte seufzte, sah mit einem eigenen Blick in dem Stübchen umher, in dem es bereits zu dunkeln begann, zündete eine auf der Kommode stehende Kerze an, sagte:

»Gute Nacht, mein Kind«, und ließ Lorchen allein mit ihren Träumen und Gedanken.

Es war ein freundliches, einfach möbliertes Stübchen, dessen Einrichtung das hierher verschlagene junge Mädchen sich nun betrachtete. Das Gerät von Eichenholz, spiegelblank gebohnt, gehörte einer Mode längst vergangener Zeit an. Ein weiß überdecktes Bett stand an der einen Wand, an der außerdem noch ein großer, altmodischer Kleiderschrank Platz fand. Die Fenster, welche nach dem Park hinaus sahen, hatten Gardinen von weißgrundigem Kattun, auf den blaue Kronen gedruckt waren. Wie altmodisch das Muster auch sein mochte, sah es doch sauber und ganz hübsch aus. An einer zweiten Wand befand sich eine Kommode, die man auch, da sie einen mit Tuch beschlagenen Auszug hatte, als Schreibtisch benützen konnte. Ein Waschtisch mit einfacher Einrichtung stand hinter dem großen, braunen Ofen. Ein kleines Schränkchen, etwa zu Büchern und dergleichen, fand sich auch noch im Zimmer, dessen Möblement durch sechs schwere eichene Stühle mit Einlagekissen, die mit Moor überzogen waren, vervollständigt wurde.

Leonore fühlte sich wohl und behaglich in diesem Raume. Sie konnte sich selbst kaum sagen, woran es lag, dass ein Geist des Friedens und der Gemütlichkeit über sie kam. Sie packte ihren Koffer aus, den ein junges, ländlich aussehendes Mädchen ihr gebracht hatte, räumte ihre wenigen Sachen in die riesigen Behälter, öffnete dann ein Fenster und setzte sich daran nieder, die Landabendluft zu genießen, die von Blumenduft durchwürzt zu ihr herein wehte.

So saß sie lange. Der Mond ging auf und ergoss sein silbernes Licht durch den blühenden Park, die Schwarzwälder Uhr an der Wand schlug Mitternacht und das ganze Haus schien in tiefer Ruhe zu liegen, ehe Leonore sich auskleidete und mit dem Nachtgebet auf den Lippen entschlief.


Fünfzehntes Kapitel.

Dorothea von Kandern war, als Leonore aus ihrem Zimmer geführt wurde, sehr bald in dasselbe zurückgekehrt und ging wohl eine Stunde lang in sichtbarer Aufregung auf und ab, dann öffnete sie ihr Schreibepult, stützte eine lange Weile noch den Kopf in die Hand und begann zu schreiben. Der Brief war an Leonorens Vater bestimmt und lautete, wie folgt:

»Mein lieber Arnold!

Wenn Sie meine Schriftzüge vergessen haben in der langen Reihe von Jahren, da Sie sie nicht gesehen, so sage ich Ihnen hier gleich in den ersten Zeilen, es ist Dorothea von Kandern, Ihre alte Freundin, welche Ihnen schreibt. Was Sie auch erlebt haben mögen, in Glück oder Leid, vergessen haben Sie mich doch wohl nicht ganz, man vergisst nicht diejenigen, die die wichtigsten Lebenskatastrophen mit uns durchmachten.

Es sind jetzt siebzehn Jahre, dass wir nichts voneinander gehört haben, meine Teilnahme für Sie ist aber noch ebenso groß, als sie war, da ich Ihnen die Hand zum Abschiede reichte und Ihnen versprach, das Möglichste zu tun, um Sie mit Ihrer Familie auszusöhnen. Ich habe nichts für Sie tun können, seltsamer Weise aber setzt das Geschick mich in den Stand, Ihrem Kinde die Liebe und Teilnahme zu betätigen, die ich für Sie empfand.

Leonore, Ihre Leonore ist seit vierundzwanzig Stunden bei mir.

Ich weiß nicht, was Sie bewegen konnte, sich von dem Mädchen zu trennen. Ist es Armut? Sind Sie so bedeutend krank, dass Sie Ihren Tod erwarten, Ihr Kind noch vor demselben den Verwandten zum Schutze übergeben wollten?

In den Händen des Justizrates Delbruck, Ihres Schwagers, ist Leonore sehr übel geborgen. Delbruck ist ein herz- und gewissenloser Mensch, ein alternder Wüstling – damit ist alles gesagt. Ihre sechszehnjährige Tochter hat sich vor einer Nichtswürdigkeit flüchten müssen, der Zufall wollte, dass Dobezutkas Tochter sie im Walde fand. Jetzt ist Leonore bei mir und soll bei mir bleiben, bis Sie über Ihr Kind verfügen. Dass ich Leonore im Hause meiner Schwägerin nicht wie das Kind eines Freundes behandeln kann, darf ich Ihnen nicht auseinandersetzen. Sie bleibt daher hier als meine Kammerjungfer, Gesellschafterin, kurz als zu meiner Bedienung und Bequemlichkeit gehörig.

Meine Schwägerin hat ohnedies einigen Grund, das junge Mädchen nicht in ihrer nächsten Umgebung dulden zu wollen. Sie gefällt nämlich durch ihre jugendliche Einfachheit dem einzigen Sohne meines Bruders; nun können Sie aber denken, dass seine Mutter nichts mehr fürchtet, als die Möglichkeit, dass Siegmund die Wege seines Vaters gehen möchte.

Lassen wir die Vergangenheit, sie war für uns alle schmerzlich, wohl uns, wenn Schmerz und Liebe, wenn Glück und Entsagung zu unserer Ausbildung, zu unserer Veredlung beigetragen, wenn das Leben das Götterbild des eigenen Ichs bei jedem von uns zur Vollendung entwickelte.

Aber das ist es nicht, lieber Arnold, was ich Ihnen schreiben wollte, sondern einzig und allein die Frage, was soll aus Ihrer Leonore werden? Zurückkehren in Delbrucks Haus kann sie unter keiner Bedingung. Wird sie es tragen können, hier in einer untergeordneten Stellung zu weilen? Werden Sie dies wünschen, werden Sie es nur zulassen? – Sie wohnt jetzt in dem kleinen Fremdenzimmer, das Ihre Schwester vor ihr so oft und gern bewohnte, in dem auch Anna von Korff mehr als einmal geweilt in Tagen – die vergangen.

Welch’ ein liebliches Kind sie ist; alles an ihr einfache Wahrheit und Natur. Sie gleicht Ihrer Schwester, doch steht mir das Bild derselben nur in voller Entwicklung weiblicher Schönheit vor Augen; Ihre Leonore ist noch trotz ihrer sechszehn Jahre fast ein Kind.

Antworten Sie mir umgehend, lieber Arnold, auch Leonore erwartet einen Brief von Ihnen mit Sehnsucht. Sie deutete mir an, dass man dem Briefwechsel zwischen Vater und Tochter im Hause des Justizrates Hindernisse in den Weg gelegt. O diese Pharisäer!

Aber – ich will nicht richten, jede böse Tat, ja jeder unlautere Gedanke, den wir hegen, ist ein Samenkorn, das früher oder später aufgeht und dessen Früchte wir auch genießen müssen, aber ebenso ist’s mit dem Guten, welches wir taten oder dachten. –

Ich reiche Ihnen in der Ferne die Hand, lieber Arnold und sage Ihnen vom ganzen Herzen:

Gott mit Ihnen!

Dorothea von Kandern.«

Es war längst Mitternacht vorüber, als dieser Brief gesiegelt und adressiert auf dem Schreibtische der Dame lag, während sie selbst noch immer ruhelos im Zimmer auf und ab ging, und das anscheinend so ruhige Haus barg in seinen Mauern außer ihr noch mehr als ein unruhiges, von Schmerz und Sorge bewegtes Herz. Frau von Kandern, Dorotheas Schwägerin, saß in ihrem mit klösterlicher Einfachheit eingerichteten Zimmer vor ihrem Schreibtische, dessen geheimste Schiebfächer weit offen standen.

»Hier ist es«, sagte sie ganz laut, obgleich außer ihr kein Mensch im Zimmer war, »hier, großer Gott, wie ähnlich.«

Sie hatte ein Pack hervorgezogen, das augenscheinlich aus alten Briefen bestand, die mit einem schwarzen Band zusammengebunden waren. Diese Briefe hatte sie auseinandergebunden und auf den Tisch verstreut, bis sie zwischen ihnen ein Medaillon in altmodischer Goldfassung fand, das ein schönes, weibliches Portrait enthielt. Das Bild glich unbedingt der jungen Leonore, doch war das Gesicht zarter, regelmäßiger und von einer Farbenschönheit, die man nur im Busen der eben erschlossenen Rose und in manchen jugendlichen Gesichtern nordischer Mädchen findet. Die gemalte Kleidung gehörte der Mode einer längst vergangenen Zeit, und der Goldrand des Bildes und die hintere emaillierte Seite desselben war von großen dunklen Rostflecken verunstaltet, welche Frau von Kandern mit Schauder betrachtete. –

»Was soll ich tun, o mein Gott, was soll ich tun?« sagte sie, das Bild aus den Händen legend und die bleiche Stirn trocknend. »O Gott, Gott! Wie hart prüfst und versuchst Du die Deinen!«

In diesem Augenblick ließ sich ein leises Klopfen an einer Tapetentür vernehmen. Die Dame stand auf, und ohne das Bild zu verbergen, noch die Papiere zusammenzuschieben, öffnete sie den Riegel und ließ den protestantischen Geistlichen ein, welchem Leonore bei ihrem Eintritt in das Haus begegnet war.

»Raten Sie mir, mein verehrter Freund«, sagte Frau von Kandern dem bleichen, trüb blickenden Mann die gefalteten Hände flehend entgegenstreckend:

»Raten Sie mir, was soll ich tun? Ist es meine Pflicht nach dem, was Dorothea uns andeutete, das Mädchen, das – o mein Gott – das Bild einer grässlichen Vergangenheit, in meinem Hause, unter meinem eigenen Dache zu behalten und kann das Gott von mir verlangen? Und noch dazu jetzt, wo Siegmund in kurzem heimkehrt, der nach einem Zusammensein mit ihr, das kaum Stunden dauerte, hingerissen war von ihrer Schönheit, Gelehrigkeit und Einfachheit? Soll ein Wesen aus dem Blute derjenigen, die meine Jugend in Galle tauchte, jetzt vielleicht bestimmt sein, mein Alter zu vergiften, alle meine Pläne zu durchkreuzen und mir das Herz meines einzigen Sohnes zu rauben?«

»Fräulein Dorothea«, sagte der Befragte, »fordert den Aufenthalt des jungen Mädchens nur für einige Zeit, nur bis über sie von Seiten ihres Vaters bestimmt werden kann. Dies zu verweigern, wäre unchristlich, gnädige Frau. Zudem bleibt sie in untergeordneter Stellung, eine Kammerjungfer seiner alten Tante dürfte Ihrem Sohne, Frau Baronin, wohl keine Leidenschaft, oder nur höchstens eine vorübergehende einflößen, auch dürfen wir, wie Ihnen wohl bewusst ist, in Fräulein Dorothea den schlafenden Löwen nicht wecken. Dem, was sie einmal entschieden will, geradezu widersprechen, können wir nicht, aber die Umstände leiten, mit sanfter Hand einen wünschenswerten Ausgang herbeiführen, das ist uns erlaubt, und ich selbst, ich wüsste jetzt schon einen solchen, meine verehrte Freundin. In Ihrem Hause, unter Ihrer Leitung müsste die Blutsverwandte Ihrer Todfeindin sich glücklich und ihren Verhältnissen gemäß verheiraten, dann könnten Sie, Ihrer natürlichen und christlichen Großmut folgend, feurige Kohlen sammeln auf die Häupter Ihrer Widersacher, und das Kind, das Gott Ihnen zuführte, ausstatten mit barmherziger Hand. Ihr Herr Sohn kommt in den ersten Tagen, ja in den ersten Wochen noch nicht heim; bis er kommt, kann manches geschehen. Legen Sie diese traurigen Erinnerungszeichen an eine traurige Vergangenheit nur wieder hinweg. Es wird alles gut und nach Wunsche gehen, wenn wir Gott vertrauen und das Unsrige tun. Und nun, meine teure Freundin, ermahne ich Sie zu Gebet und Buße und gebe Ihnen meinen Segen, denn es ist spät und Ihnen ganz besonders die Ruhe Not. –«

Er stand auf, verbeugte sich und verschwand so geräuschlos als er gekommen, Ludmilla von Kandern aber saß noch lange, lange und betrachtete beim Schein ihrer herabbrennenden Kerze die schönen Züge des Bildes und die Blutflecke auf seiner Einfassung. Eine Vergangenheit flog an ihrem Herzen vorüber, so überfüllt von Schmerz, Zorn und Groll, dass der Gewitterregen, der rauschend an ihre Fenster zu schlagen begann, dass der Sturm, der die Zweige im Park beugte und der rollende Donner nur ein passendes Accompagnement zu ihren Gedanken bildeten.


Sechszehntes Kapitel.

Justizrat Delbruck war in dieser Gewitternacht draußen. –

Er hatte beabsichtigt, Kaimehlen mit dem dunkelnden Abend zu erreichen, aber die angeschwollenen Fluten der beiden kleinen Flüsschen Scheschuppe und Schwantowit, die vom Ural die trüben Johanniswasser in ungewöhnlicher Menge empfangen, hatten ihn aufgehalten.

Eingehüllt in seinen Regenmantel, die Kappe über die Ohren gezogen, saß er in der Ecke seines geräumigen Wagens. Nur wenn ein besonders greller Blitz die Gegend beleuchtete, blickte er empor und es rann wie ein Schauder durch seine Glieder.

Der Weg zieht sich zwischen dem Judenstädtchen Zudargen und der alten Herrschaft Kaimehlen längs des Memelstromes hin. Weit und breit war hier zur Zeit keine menschliche Wohnung sichtbar, und die Memelufer teils mit Unterholz-Beständen, teils mit jenen kleinen, moosigen Hügeln bedeckt, die der Landmann jener Gegend, der sie Palwe nennt, so sehr hasst und fürchtet, weil sie aller Kultur Trotz zu bieten scheinen. – Die rüstigen litauischen Pferdchen rannten trotz Blitz und Sturm, und der alte Donaleitis lenkte sie furchtlos und geschickt. Wenn aber ein Blitz eben niedergefahren, erschien die Dunkelheit der Nacht fast greifbar. Der Weg ist dort nichts weniger als Kunststraße, und plötzlich stieß eines der Hinterräder an einen Stein, der Wagen schlug um und der Justizrat sah sich genötigt, allerhand ihm gar nicht geläufige Seiltänzerkunststückchen zu machen, um seinem verschütteten Herkulanum entsteigend, an dem für den Augenblick gen Himmel ragenden Fußtritt das Hinabklettern zu bewerkstelligen.

Das Rad war rettungslos zerbrochen und die Situation des Reisenden, um Mitternacht auf einsamem Landwege und bei einem echt ostpreußischen Gewitterschauer, keinesweges comfortable.

»Pons Richter, wie nu?« fragte der Litauer kleinlaut.

Die Frage war offenbar leichter als die Antwort. –

»Wohinaus liegt hier das nächste Dorf, oder die nächste Schenke?« gegenfragte Delbruck.

»Nirgend geheuer hier, Pons Richter! Kornmutter, Waldmann, Nix, alles hier spuken«, sagte der eine pudelnasse Litauer kläglich, worauf ihm Delbruck gar nichts antwortete; denn das Wort:

»Rindvieh«, das er zwischen den Zähnen murmelte, dürfte nicht eigentlich als eine Antwort gelten, es war nur eine Herzenserleichterung.

»Keine tausend Schritt von hier«, sagte er endlich nach einer ziemlichen Weile, während der Regen ihm von Kappe und Mantel niederströmte, »muss man auf den Weg nach Kanderischken kommen, das wir, wenn wir die rechte Richtung treffen, in einer Viertelstunde von hier aus erreichen können.«

»Geht nicht, Pons Richter, geht gar nichts. Elfen-Palwe zwischen uns und dem Wege, Waldmann uns packen, am Heidefeuer verbrennen.«

Delbruck schritt, ohne auf des Litauers Einwurf zu achten, bis möglichst nahe an das Stromufer, stellte sich dann so, dass er das brausende Wasser im Rücken hatte, und suchte mit Anstrengung all’ seiner Nervenkraft mit seinem Blick das dichte Dunkel vor sich zu durchdringen.

Ein plötzlich leuchtender Blitz zeigte ihm eines der ihm bekannten Wegzeichen, eine alte, halb abgestorbene Weide, die mitten auf dem Palweboden an einer feuchten Stelle ihr kärgliches Leben fristete.

»Bleibe bei Wagen und Pferden Donaleitis«, sagte er nun, schon etwas beruhigter, »ich will Menschen aufsuchen.«

Der Litauer kauerte resigniert sich neben dem zerbrochenen Wagen zusammen und ließ die Wässer des Himmels über sich wegströmen. Delbruck aber schritt rüstig zu, bis er jene Weide erreicht und erfasst hatte. Dann wandte er sich rechts und erreichte bald einen mit Weiden, Kornelkirschen und anderem Unterholz bedeckten Hügel, wo die nassen Zweige ihm, während er ihn überkletterte, unartig ins Gesicht schlugen. An der andern Seite hinabsteigend, übersprang er dann einen Graben, dessen Ränder Erlbüsche umsäumten, und sah sich in kurzem in einem kleinen Gehölz von Birken, Kiefern und niederem Pappelnaufschuss, das er zu durchschreiten begann, als das Aufblitzen eines Lichtes ziemlich in seiner Nähe ihn mehr noch in Verwunderung als Schreck versetzte. Wollte er indes seine Richtung behalten, musste er der unerwarteten Erscheinung entgegenschreiten, und so sah er sich nach einigen Minuten einer Gruppe bärtiger Männer gegenüber, die um ein niederbrennendes Feuer gelagert, zwischen sich und dem strömenden Himmel kein Schutzdach hatten als einige träufelnde Zweige. Ihre leinenen Kittel, ihre runden Hüte, der Gurt, den sie umgeschnallt hatten, und die schlechte Geige, die an demselben hing, ließen Delbruck sogleich erkennen, dass er sich einer Gruppe polnischer Leibeignen gegenüber befand. – Diese Menschen, meistens aus Wolhyniens und Podolien stammend, kommen im ersten Frühling auf flachen Fahrzeugen, die man je nach ihrer Bauart, Gallert oder Villinnen nennt, zum Teil den Bug und Narva hinunter, nach den Weichselstädten Elbing und Danzig, zum Teil auf der Wasserstraße, die das Gebiet des Memelstromes bildet, nach Tilsit und dann durch den Friedrichsgraben nach Königsberg, oder durch die Wasserverbindung der Russe und Gilge nach Memel und bringen Holz, Getreide, Hanf und Talg nach den Ostseehäfen. Dort werden ihre ganz ohne Eisen gebaute Fahrzeuge als Bau- oder Brennholz verkauft, und die Leute gehen dem Lauf der Ströme folgend, in ihre Heimat zurück, sich unterwegs gegen geringen Tagelohn bald als Mäher, Schnitter oder Drescher verdingend, bald auch wie die Slowaken in Siebenbürgen das Geschäft der Scherenschleifer oder Kesselflicker treibend. – Immer aber hält sich auf ihren Marktzügen eine Partie Nachbarn und Gefreundeter zusammen, die sich freiwillig unter die Autorität eines Anführers stellt, der auf einer schlechten Geige die Tänze ihrer Heimat: Mazurka, Polonaise und Krakowienne spielend und die Töne mit seinem Gesange begleitend, in welchen von Zeit zu Zeit der Chor einfällt, dem Zuge vorangeht. Es gibt wenig Wesen aus der großen Menschenfamilie, die in Einfachheit, Harmlosigkeit, Dankbarkeit und Genügsamkeit diesen armen Naturkindern gleich stünden. –

Die, welche Delbruck hier traf, waren wie er im Laufe der Nacht vom Wetter überfallen, doch hatte sie dasselbe in ihrem Nachtquartier unter den Zweigen einer alten mächtigen Linde, ihn nur auf dem Wege zu demselben getroffen. Dem Justizrat lief der Regen trotz des wasserdichten Mantels über die Haut. Die Tropfen hatten sich bei der Halsbinde Bahn gebrochen und rieselten in gemessenen Absätzen eisig seinen Rücken entlang, ihm ein höchst unbehagliches Gefühl erregend. Die Polen waren nass wie Dachtraufen und jeder hätte da, wo er sich hinstellte, aus seinen Kleidern einen aparten kleinen Gussregen schütteln können. Sie standen aber nicht, sondern lagen ruhig auf dem nassen Boden, und einer, der durch die Geige an seinem Gurt sich als der Zugführer erkennen ließ, warf von Zeit zu Zeit dürre Äste und Moos auf das Feuer, das dann, nach einigem qualmenden Rauch von neuem aufflammte. – Delbruck grüßte, und die Leute erhoben sich um in ihrem »padam do nóg« sich ihm zu Füßen zu werfen.

»Wo geht der Weg nach Kanderischken?« fragte er nun in ihrem eigentümlichen Dialekt, und der Anführer begann, ihm auseinanderzusetzen, dass zwischen ihrem Lager und dem Schloss noch ein breiter Bach zu überschreiten sei, der in dem Regen gewiss die Passage hindern würde. Es war ein großer, schöner Greis, dem der Silberbart und die langen silbernen Locken etwas Patriarchalisches gaben. Delbruck musste das Gesicht immer wieder betrachten, es kam ihm unsäglich bekannt vor, und da er einsah, dass jede Möglichkeit, unter Dach zu kommen, ihm bis zum Anbruch des Tages, der indes nicht zu fern sein konnte, genommen sei, so hielt er es für das Beste, bei Menschen und in der Nähe eines Feuers zu bleiben und lagerte sich mitten unter die Czinokys neben dem Alten, der ihm ehrfurchtsvoll den Platz einräumte, den sein eigner Leib auf dem Moosrasen trocken erhalten.

»Habe ich Dich schon irgendwo gesehen, Alter?« fragte Delbruck seinen Nachbar, als ein greller Feuerschein ihm wieder den bekannten Ausdruck dieser Züge zeigte, und nicht wenig war er erstaunt und überrascht, als der Pole in gutem Deutsch mit dem echten breiten Dialekt des Ostpreußen antwortete:

»Ja doch, Herr Refendarius, ich bin ja Kropowitzky, der Kutscher bei altem seligen Herrn Baron auf Kanderischken.« -

Ein trauriger, schrecklicher Moment aus Delbrucks früherem Leben trat bei den Worten des Mannes lebhaft vor eine Seele. Damals, vor langen Jahren, als er diesen Mann, mit dem Blut und Hirn eines Herrn bespritzt, den Ausdruck des höchsten Jammers in allen seinen Zügen, vor sich stehen sah, war er ein Jüngling, ein eben von der Universität heimgekommener Auskultator, Kropowitz - Kropowitzky, ein kräftiger Mann gewesen. Das nahe Schloss Kanderischken war der Schauplatz, jenes grässlichen Vorfalls, fast seit jenem Tage stand es öde, und das damals so glänzend erbaute, kaum beendete Wohnhaus, dem der Stolz der Bewohner den Titel Schloss gab, zerfiel schnell.

»Lebt die gnädige Frau noch?« fragte der Alte.

»Sie lebt noch, ich habe sie vor wenigen Stunden getroffen.«

»Auch Tante Dorothea, die junge Baronesse?«

»Auch die, Kropowitzky.«

»Und der hübsche Siegmund und die kleine Emma?«

»Sie leben alle, Alter.«

»Gottes Dank! Und Eleonore Arnold, Herr?«

»Wer, Alter? Nach wem fragst Du?«

»Nach der Predigerstochter, Gott, Gott, sie mag auch wohl noch leben, die arme Seele. Herr Refendarius, die haben Sie wohl gar nicht gekannt?«

Delbruck erinnerte sich, dass eine Tante Leonorens, ein Mädchen von großer Schönheit, die Tochter eines Landgeistlichen, diesen Namen auch geführt hatte. Sie war verschollen, niemand wusste, wo die Schwester des vagierenden Schauspielers sich aufhielt. Die Familie des früheren Pfarrers Arnold war eine von denen, welche das alte Lied so treffend und traurig bezeichnet:

»Sie sind gestorben, verdorben.« –

»Möchte die gnädige Frau einmal noch sehen, ein einzig Mal noch«, sagte der Pole, »es möchte vielleicht doch für sie ein Trost sein. Möchte heute, wenn’s Tag wird, nach Kanderischken gehen.«

»Die gnädige Frau wohnt nicht in Kanderischken, sondern auf ihrem eigenen Gut. –«

»Glaub’s schon, hier ist’s nirgend geheuer«, meinte der Pole und warf einen langen Blick in die weite Gegend umher, die jetzt im ersten Schimmer eines trüben Morgens sichtbar wurde.

Der Wind pfiff über die Ebene und jagte die Wolken, die grau in tausend abenteuerlichen Gebilden über das Himmelsfeld flogen. Der Regen hatte aufgehört und im Osten legte sich um den grauen, falbigen Wolkenmantel ein blutroter Saum, der allmählich im goldenen Lichte zu erschimmern begann. Lerchen schwangen sich trillernd vom Boden auf, in der Ferne krähten Hähne und antworteten einander. Die Polen standen von ihrem feuchten Lager auf, bekreuzten sich, schlugen Stirn und Brust und beteten ein Ave. Delbruck gab seinen Gefährten ein Silberstück, beauftragte sie, seinen Kutscher und den Wagen aufzusuchen und nach Kanderischken zu schaffen, trank aus der Flasche, die der alte Kropowitzky ihm gastlich reichte, einen Schluck Branntwein und ging eilig, um sich zu erwärmen, auf dem Wege nach Kanderischken vorwärts.


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