Buch lesen: «Das Theater leben»
Julian Beck war ein Künstler, der unnachahmlich revolutionär lebend gearbeitet und unaufhörlich arbeitend gelebt hat. Der amerikanische Aktivist und Poet, Maler und Anarchist gründete zusammen mit seiner Frau Judith Malina das später weltberühmte Living Theatre. Mit ihren Stücken trat die Gruppe auf den Straßen New Yorks, in Gefängnissen und Krisengebieten Amerikas auf, um mit ihrem revolutionären Theater aufzurütteln.
In seinen parallel zur künstlerischen Arbeit entstandenen Schriften entwickelt Beck einen ganzheitlichen Theaterbegriff und philosophisch-spirituelle Gedanken, die seine radikale Kritik an der Gesellschaft mit einem bis heute berührenden Entwurf von Positivität verbinden. Sowohl ästhetisch wie auch politisch sucht Julian Beck alternative Ausdrucks- und Praxisformen im Leben der Marginalisierten, der Schwarzen, der Frauen, der Indigenen und Outsider, denen er in seinen Schriften eine eigene Form von Schönheit, Eigensinn und Unbändigkeit zurückerstattet.
Becks Miniaturen, Briefe und Gedichte entstanden in den Jahren des Exils der Kompanie zwischen Brasilien und der Schweiz, Brooklyn und Marokko. Sie geben Einblicke in die Entstehungsgeschichte des Freien Theaters, wie wir es heute kennen, aber auch in den intellektuellen und künstlerischen Stoffwechsel eines der folgenreichsten Theaterkünstler des 20. Jahrhunderts. Mit Das Theater leben liegt ein Klassiker des politisch-aktivistischen Theaters erstmals in deutscher Übersetzung vor.
„Julian Beck hat den Willen zur Totalität, er sucht den Moment, der das ganze System aufbricht.“ Milo Rau
DAS THEATER LEBEN
Der Künstler und der Kampf des Volkes
Julian Beck
Herausgegeben von Thomas Oberender
Aus dem Englischen von Beate Hein Bennett und Anna Opel
Mit Texten von Thomas Oberender, Judith Malina und Milo Rau Mit Fotos von Bernd Uhlig
Wir danken den Berliner Festspielen für die Zusammenarbeit an dieser Publikation.
Julian Beck
Das Theater leben
Der Künstler und der Kampf des Volkes
Herausgegeben von Thomas Oberender
Aus dem Englischen von Beate Hein Bennett und Anna Opel
© 2021 by Theater der Zeit
Originalausgabe: the life of the theatre. the relation of the artist to the struggle of the people © 1972 by Julian Beck
Wie danken Garrick Beck für die freundliche Genehmigung zum Abdruck der Texte von Judith Malina und Julian Beck.
Texte und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich im Urheberrechts-Gesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und die Einspeisung und Verarbeitung in elektronischen Medien.
Verlag Theater der Zeit
Verlagsleiter Harald Müller
Winsstraße 72, 10405 Berlin, Germany
Übersetzung: Beate Hein Bennett, Anna Opel
Lektorat: Nicole Gronemeyer
Umschlagfotos und Bildstrecke: Bernd Uhlig
Gestaltung: HIT
ISBN 978-3-95749-343-9 (Paperback)
ISBN 978-3-95749-378-1 (ePDF)
ISBN 978-3-95749-379-8 (EPUB)
Thomas Oberender Messianismus und Revolution Über Das Theater leben von Julian Beck
Julian Beck Das Theater leben: DIE HANDLUNG
1 Elend, Theater, Aufstand und Revolution
2 Ich bin ein Sklave
3 Frankenstein, III. Akt
4 Die Kreatur
5 Die Fantasie als Notausrüstung
6 Meditation. 1961. New York City
7 Meditation. 1962. New York City
8 Meditation I. 1963. New York City
9 Meditation II. 1963. New York City
10 fragen. 1963
11 fragen. 1968
12 Ai. Aiee. Vordringen. Schlitzen
13 Drei Meditationen über Strategie
14 ATMEN: Notizen für die erste Lektion
15 Meditation. 1966
16 Die Struktur zerlegen. Polizei Theater I
17 Vertikal sein, sich aufrichten, Homo erectus
18 Wenn die sexuelle Energie der Menschen befreit ist
19 Kleinliche Zusammenstöße
20 Die große Fliegenklatsche
21 Polizei Theater II
22 Polizei Theater III
23 Polizei Theater IV
24 Liberale Besserwisserei
25 Meditation. 1969
26 Meditation über Schauspiel und Anarchismus
27 Und dann wurde Mogador unsicher, und die ganze Welt war unsicher
28 „Revolutionen kommen wie Diebe in der Nacht“
29 Nomaden
30 Notizen zur Erklärung von Anarchismus und Theater
31 Schauspiel-Übungen: Notizen für die ersten Lektionen
32 Körper
33 Den Widerstand von Zuschauer und Schauspieler brechen
34 Der Trancezustand des Performers
35 Reflexionen über Aufführungen
36 Fernsehen
37 Stars
38 Warum wir die Mise en Scène ändern müssen
39 Die Heldenreise der Performer
40 Die sieben Imperative des zeitgenössischen Theaters
41 Bühnenbild
42 Heiligkeit
43 Brief über Revolution. Judith Malina an Carl Einhorn
44 Die dringende Arbeit
45 Improvisation: Freies Theater
46 Kollektive Schöpfung
47 „Auf Inspiration ist kein Verlass.“
48 Alchemie
49 Die Bourgeoisie
50 Kann Kunst die Welt verändern?
51 „1968 markiert den Tod einer Kultur.“
52 Meditation I. 1970
53 Das absolute Kollektiv
54 Der Stamm
55 Das Ritual
56 Candomblé
57 Religiöses Theater
58 Faschistisches Theater
59 Sexuelles Theater
Fotostrecke Bernd Uhlig
60 Jugend und Alter sind im Volk vermischt
61 Rinne aus fleisch im fleisch
62 Populäres Theater
63 Das Ritual (II)
64 fragen. 1969
65 Einträge im Arbeitsbuch
66 Antigone
67 Brief an eine Wunde
68 Kurz vor Beginn einer neuen Produktion
69 Gemeinschaft
70 Meditationen über Theater I
71 Die sieben Leuchter der Baukunst
72 Der bürgerliche Instinkt
73 Die Philosophie des Klassischen Theaters – ein Schlag ins Gesicht
74 Meditation II. 1970
75 Dämmerlicht
76 Selbstzerstörung
77 Das große Theater unserer Zeit
78 Der Schrei der Menschen
79 Die Abteilung für politische und soziale Ordnung
80 Die Zofen
81 Meditationen über das Theater II
82 Meditationen 1967–1971 (1930–1971)
83 Avignon. 1968
84 Dokument: Eric Gutkind über das Was ist zu tun
85 Utopische Rhetorik
86 Dieses Buch
87 Aufzählung
88 Was sind die Bedingungen für ein kreatives Ereignis?
89 Techniken für Konfrontationspolitik: New York City 1969
90 Die Woodstock Nation
91 Die Besetzung des Odéon
92 Der Genius des Volkes
93 Das Konzept des Sündenfalls
94 Eine Massenbewegung bilden
95 Wie bildet man eine Massenbewegung?
96 Meditation. 1988
97 Meditation. 1998
98 Meditation. 2008
99 Meditation. 1970
100 Bomb Culture
101 Brief über die Frauenbewegung (Judith Malina an Carl Einhorn)
102 Meditationen über Revolution
103 Meditationen über Gewalt
104 Projekt: Ein Film: WIE MAN SICH AUFLEHNT
105 Meditation über Anarchie
106 In Schönheit zu enden, darum geht es
107 Das Große Stück Schönheit
108 Meditation über Selbstverteidigung. Fragen. 1971
109 Das Theater ist das Hölzerne Pferd
110 Aus zwei Konversationen über Revolutionäre Theorie
111 Die Theatralisierung des Lebens
112 In der Kunst, die die Menschen anspricht, wird es keine Herablassung geben
113 Alle Macht dem Volk
114 Nach der Revolution
115 FACTA NON VERBA
116 Welche Maßnahmen können wir ergreifen
117 Meditation. Von New York nach Berlin. 1964–1970
118 für judith
119 wir müssen/wie man sagt/organisieren
120 Arbeitsbuch Notizen: Wörtlicher Bericht. Probe #151
121 Notizen. Aktionspläne
122 Das maximale Glück jedes Einzelnen hängt am maximalen Glück aller
123 Nacht
Judith Malina Feuertaufen in Berlin
Milo Rau Julian Beck oder Theorie und Praxis der Unreinheit
MESSIANISMUS UND REVOLUTION
ÜBER DAS THEATER LEBEN VON JULIAN BECK
Thomas Oberender
Die Idee und Praxis des „totalen Theaters“, von der Julian Becks Buch erzählt, ist bei ihm unlösbar verbunden mit der Praxis der friedlichen Revolution. Und wenn ich darüber nachdenke, so fallen mir, neben Milo Rau, von dem das Nachwort zu dieser deutschen Erstübersetzung von The Life of the Theatre stammt, dem Peng! Kollektiv oder dem Zentrum für Politische Schönheit kaum zeitgenössische Performancekünstlerinnen und -künstler ein, deren Kunst zugleich auf einen Zustandswandel „draußen“ zielt. Christoph Schlingensief war wie Julian Beck ein Künstler, der aus dem Theater ausgezogen und wieder in das Theater zurückgekehrt ist, um dort eine selbstbezügliche Kunst hinter sich zu lassen und eine soziale Situation zu erschaffen, in der die Magie der Kunst verwandelnd wirken kann.
Dass die Ideen und Praktiken der friedlichen Revolution von 1989 wirklich revolutionär waren, ist mir erst Jahrzehnte nach ihrem Ende bewusst geworden. Als ich Julian Becks The Life of the Theatre gelesen habe, fühlte ich mich an die Monate eines gesamtgesellschaftlichen Lächelns in Deutschland erinnert – ein gutes halbes Jahr, bevor die Mauer geöffnet wurde, und ungefähr ein halbes Jahr danach war alles veränderbar, stand im Ostteil des Landes alles zur Disposition und wurde der Kampf auf den Straßen, in den neu gegründeten Parteien, Gewerkschaften, Bürgerinitiativen, Zeitungen und dem erstmals wieder frei gewählten Parlament belohnt. Unabhängig von der Arbeit des Living Theatre wirkt dieses Buch auf mich als ein eigener Kosmos der Veränderungsideen und des Aufbruchs in etwas Positives – seine Gedanken und Konzepte erzeugen noch heute ein freundliches Vorwärts, das wir in Ostdeutschland ungefähr zwanzig Jahre nach dem Ende dieser Aufzeichnungen tatsächlich im Alltag erlebt haben.
Wie wirksam der Entwurf von Positivität mit Protest zusammengeht, ist noch immer verblüffend. Vielleicht berührt Julian Becks und auch Judith Malinas hartnäckige Gewaltfreiheit durch ihren eigentümlichen Messianismus: Im Nest der Gruppe und ihrer Arbeit kann gelebt werden, was als Revolution draußen noch ansteht – als eine Revolution der Körper, der Sexualität, der lebendigen Spiritualität. Diese messianische Note des Denkens und Schaffens von Julian Beck, wie sie sein Buch zeigt, ist mit einer Konstruktion von Positivität verbunden, die bei ihm offenkundig jüdische Quellen hat, aber keiner Partei und Glaubensbewegung folgt. Es ist nicht die Positivität des Kunstheiligen wie bei Botho Strauß, nicht die Positivität des Katholizismus wie bei Paul Claudel, nicht die gnostische Positivität von Jon Fosse oder gottesunmittelbar wie in Peter Handkes Über die Dörfer. Julian Becks Positivität wirkt synkretistisch und anarchistisch.
Obwohl Das Theater leben eine Begleiterscheinung von Julian Becks praktischen Erfahrungen ist, seiner unausgesetzten Lektüre, der Begegnung mit Künstlern und Künstlerinnen, Armut, neuen Produktionsformen, anderen Kulturen oder politischen Ereignissen, kristallisiert sich in diesem Buch doch etwas Bleibendes: der komplizierte Wunsch nach einfacher Wahrhaftigkeit, einer Kunst, die mit den Jahren immer deutlicher eine Art von temporärer autonomer Zone bildet, in der, frei nach Hakim Bey, das andere Leben schon jetzt passiert.
Beinahe wäre dieses Buch von Julian Beck nie erschienen. „Das Theater leben wurde zweimal geschrieben“, berichtet Judith Malina, Becks Ehefrau und Mitgründerin des Living Theatre im Vorwort der amerikanischen Neuauflage von 1991. „In der Stadt Fontainebleau fiel die erste Version in die Hände eines Diebs; er schnappte es in einem kleinen Garten vor unserm Hotel – in einem Moment war die Arbeit von fünf Jahren weg. ‚Ein glücklicher Zufall‘, sagte der optimistische Julian, ‚denn jetzt kann ich es so schreiben, wie es sein soll … Ich weiß so viel mehr.‘ Und er begann von Neuem, Notizen aufzuschreiben: ‚Mach eine Pause und beginne nochmal‘ … Sein Leben war so voll und reich, dass da nur gestohlene Momente für die Notizbücher blieben – schnell unterwegs geschrieben, aber auf den langen Straßen kreuz und quer durch Europa meditiert oder in den Zellen oder den Garderoben …“
In Julian Becks amerikanischem Wikipedia-Eintrag heißt es, dass er am 31. Mai 1925 in Washington Heights geboren wurde und am 14. September 1985 in New York starb. „Er war ein US-amerikanischer Schauspieler, Regisseur, Dichter und Maler und wurde bekannt als Mitbegründer und Regisseur des Living Theatre sowie für seine Rolle als Kane, der böswillige Prediger im Film Poltergeist II: The Other Side von 1986.“ Julian Beck hat so ziemlich jede Ordnung der bürgerlichen Welt verlassen, von der klassischen Universität über die klassische Ehe bis hin zur klassischen Theaterinstitution oder gesellschaftlichen Bewegung. Nach einem kurzzeitigen Besuch der Yale University veröffentlichte er als Teenager Gedichte, von denen einige bereits anarchistische Ideen enthielten, und begann dann zu malen.
Zwischen 1944 und 1958 schuf Julian Beck an die 1500 bis heute erhaltene Werke. Seine frühen Gemälde sind Spielarten des abstrakten Expressionismus der in den beginnenden 1940er Jahren entstandenen New York School, zu der auch Willem de Kooning und Jackson Pollock zählen. Peggy Guggenheim zeigte Julian Beck 1945 in ihrer Galerie Art of This Century und bis heute werden Ausstellungen mit den Werken des jungen Julian Beck organisiert. 1943 lernt er, noch Maler und Student an der Yale University, die damals 17-jährige Schülerin Judith Malina in New York kennen und heiratet sie fünf Jahre später. Ihre Ehe führten sie offen – Beck war bisexuell und gemeinsam mit Judith Malina der langjährige Lebenspartner von Ilion Troya, einem Schauspieler der Gruppe, oder Lester Schwartz, dem späteren Ehemann der Performancekünstlerin Dorothy Parker aus dem Warhol-Umfeld.
Piscator
Für die Gründung des Living Theatre spielte Erwin Piscators New Yorker Dramatic Workshop eine bedeutende Rolle. An der Schauspielschule des deutschen Exilregisseurs war Judith Malina von 1945 bis 1947 regulär eingeschrieben, und wie prägend diese Jahre waren, kann man an ihren mehr als sechzig Jahre später veröffentlichten Seminaraufzeichnungen The Piscator Notebook erkennen. Auch Julian Beck belegte einzelne Workshops an Piscators Schule, allerdings ohne ein komplettes Studium zu absolvieren. Zu den später namhaften Studenten und Studentinnen zählten neben Judith Malina auch der Schriftsteller Tennessee Williams oder Harry Belafonte, Marlon Brando, Walter Matthau oder Tony Curtis. Erwin Piscator war einer der folgenreichsten Hochschullehrer seiner Zeit, vergleichbar vielleicht mit dem in Gießen wirkenden polnischamerikanischen Theaterwissenschaftler Andrzej Wirth. An seiner Schule arbeiteten in und nach den Weltkriegsjahren viele Migranten der ehemals europäischen Theateravantgarde wie Kurt Pinthus, Carl Zuckmayer oder Hanns Eisler, aber auch Lee Strasberg, der mit seinem 1931 gegründeten „Group Theatre“ das Konzept des Method Acting entwickelte und 1947 das „Actors Studio“ gründete.
In ihrem Living Theatre knüpften Beck und Malina an die Gedanken von Deutschlands politischstem Regisseur der Zwischenkriegsjahre an. Ihre Aufführungen von Werken der literarischen Avantgarde produzierten sie in den 1950er Jahren zunächst in wechselnden kleinen Spielstätten und trugen so entscheidend zur Entstehung eines Off- und Off-Off-Broadway-Theaters bei, etwas, das Piscator in den späten Vierzigern in New York nicht geglückt war.
Erwin Piscator war der Regisseur, der das industriell-technische Zeitalter ins Theater geholt hat. Seit 1924 wirkte er in Berlin als Oberspielleiter der „Volksbühne“ im „Theater am Bülow-Platz“, später Horst Wessel-Platz, später Rosa Luxemburg-Platz. Nach dem Zerwürfnis mit der Volksbühne gründete er 1927 die „Piscator-Bühne“ im Theater am Nollendorfplatz. Er verwendete in seinen Inszenierungen Laufbänder und Lifte, Simultanbühnen und motorisierte Brücken, seine Aufführungen wurden von Bildprojektionen als erzählerische Mittel geprägt und seit 1925 auch durch die Verwendung von dokumentarischen Auftragsfilmen. Zwischen 1927 und 1931 entstanden drei „Piscator-Bühnen“ – zunächst im Theater am Nollendorfplatz, 1928 im Lessing Theater als zweiter Spielstätte und 1930 die „Piscator Bühne“ im Wallner Theater, die in den Jahren der Weltwirtschaftskrise allerdings allesamt wirtschaftlich nicht tragfähig wurden. Gemeinsam mit Walter Gropius entwickelte er am Bauhaus Weimar 1927 die architektonische Vision eines „Totaltheaters“, das die Präsenz des Publikums ins räumliche Theatergeschehen mit einbeziehen sollte. Eine ganz andersartige Auflösung der vierten Wand sollte ein halbes Jahrhundert später auch für das Living Theatre der 1970er Jahre wichtig werden – es baute dafür keine speziellen Theaterräume, sondern zog aus den Theatern aus in Schulen, Fabriken, die brasilianischen Favelas oder den Berliner Sportpalast. Über Julian Becks Buch sagt Judith Malina, dass es „mit dem Sklavendasein in Ägypten beginnt“, der Geschichte von einem Gefängnisausbruch, und mit „dem Ausbruch aus dem Gefängnis, dem Theater, dem Ausbruch in die Welt“ schließt.
Die entscheidenden zwanzig Jahre
Das Living Theatre begann sprichwörtlich im Living Room, im New Yorker Wohnzimmer von Julian Beck und Judith Malina, was an das Entstehen des Theaters des Künstlerduos Vegard Vinge und Ida Müller in den frühen 1990er Jahren in Berlin erinnert, die für sich, Freunde und Freundinnen Stücke in ihrem Badezimmer aufgeführt und dabei die handmade-Ästhetik ihrer späteren Produktionen erfunden haben. Das Theater leben handelt von Julian Becks und Judith Malinas Ausbruch in die Welt – es hält die geistigen Bewegungen dieser entscheidenden Zeit fest und denkt die nächsten Schritte vor.
1964 wurden Beck und Malina von einem New Yorker Gericht wegen Steuervergehen zu einer Gefängnishaft verurteilt. Darauf folgte ein rund zwanzig Jahre währendes, selbst gewähltes Exil als nomadisches Tourneetheater, das in 28 Ländern auf fünf Kontinenten fast hundert Stücke in acht Sprachen gezeigt hat. Dieses Exil wurde erst 1984, kurz nach der Magenkrebs-Diagnose Julian Becks, durch ihre Rückkehr nach New York und die Eröffnung eines kleinen Theaters in der 3rd Street beendet. Julian Beck starb mit sechzig Jahren. Aber diese Zeit des Tournee-Exils der 1960er und -70er Jahre war jene entscheidende Epoche nicht nur in seinem persönlichen Werk, sondern auch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in der die wesentlichen Liberalisierungen der westlichen Welt errungen und die Weichen für eine zweite, globale Moderne gestellt wurden.
Es war eine Zeit, in der George Harrison Lieder wie „The Inner Light“ schrieb, eine Zeit der spirituellen Wende, der Gurus und Ashrams, aber auch der Politisierung, der Black-Power-Bewegung von Malcolm X, der Studentenrevolten oder Proteste gegen den Vietnam-Krieg. Für die Hippie-Bewegung schien Flower Power nicht nur Power im Sinne von politischer Kraft zu bedeuten, sondern das wörtliche Naherücken an die Kraft der Pflanzen – „fünffingrige cannabis weißes coca der träge mohn die geheimnisse des kaktus die magischen formeln der erde sind unsere chemischen waffen gegen die mörder“, schrieb Julian Beck. Die ersten Ansichten der Apollo-Mission vom fragilen, blau leuchtenden Planeten Erde inmitten des Alls waren Teil eines erwachenden planetarischen Bewusstseins. Es führte zum kalifornischen Aufbruch ins 21. Jahrhundert, der Faszination für die Wüste, Computer und LSD, dem Whole Earth Catalog, der Entstehung von Umwelt- und Friedensbewegungen, der Utopie des Cyberspace und schließlich zum Ende des Kalten Krieges, dessen Symbol die Öffnung der Berliner Mauer wurde.
Die Mission des Living Theatre beschrieb Julian Beck 1969 als ein „Anti-Gewalt-Theater. Theater als Fürsprecher für Anarchie, für gewaltlose Revolution, für Revolution“ – weshalb es naheliegt, dass die Öffnung der Mauer für sie eine besondere Bedeutung besitzen würde. 1991, sechs Jahre nach Julian Becks Tod, war Judith Malina auf Einladung der Berliner Festspiele wieder in Berlin. Sie nahm die friedliche Revolution im Ostteil der Stadt, im Osten Deutschlands und Osteuropas, an der viele Künstler und Künstlerinnen beteiligt waren, die an der Entstehung und Ausweitung der Bürgerbewegung zur Volksbewegung entscheidenden Anteil hatten, kaum zur Kenntnis. In ihrer Festspielrede fragt sie lediglich, ob nun, nach der Öffnung der Grenze, die Frage nach der Freiheit mit Waschmaschinen und McDonald‘s beantwortet werden könne. Mehr als dieses Bild der übernommenen Gesellschaft kam von der Revolution im Osten auch in New York nicht an. Ihr zu entkommen war die Essenz von Julian Becks Buch.