»Keiner rührt sich vom Platz!« rief der Kommandant in strengem Ton. »Jeder an seinen Posten!«
Eine Luftspiegelung
»Meine Freunde, haben Sie doch keine Angst«, sagte der Doktor; »’s ist keine Gefahr! Sehen Sie, Kommandant, sehen Sie, Herr Wall, ’s ist eine Luftspiegelung, nichts weiter!«
»Sie haben recht, Herr Clawbonny«, versetzte Meister Johnson; »diese Leute haben sich aus Unwissenheit durch ein Luftgebilde ängstigen lassen.«
Auf die Worte des Doktors waren die meisten der Matrosen herbeigekommen, und ihre Furcht verwandelte sich in Bewunderung dieses merkwürdigen Phänomens, welches alsbald erlosch.
»Sie nennen das Luftspiegelung!« sagte Clifton, »nun, der Teufel steckt doch etwas darinnen, Ihr könnt mir’s glauben.«
»Ganz gewiss«, erwiderte ihm Gripper.
Aber als sich der Nebel ein wenig zerklüftete, erblickte der Kommandant eine große und freie Fahrstraße, die er nicht vermutet hatte. Er beschloss unverzüglich diesen günstigen Fall zu benutzen; die Leute wurden auf beiden Seiten des Fahrwassers aufgestellt, es wurden ihnen starke Taue gereicht, und sie begannen das Schiff in nördlicher Richtung zu ziehen.
Stundenlang wurde dieses Manöver eifrig, obwohl schweigend, ausgeführt; Shandon hatte die Öfen heizen lassen, um den glücklicherweise entdeckten Kanal zu benutzen.
»Es ist ein günstiger Zufall«, sagte er zu Johnson, »und wenn wir nur einige Meilen noch vorwärtskommen können, werden wir vielleicht am Ende unserer Mühsal sein! Herr Brunton, heizen Sie stärker, und sobald der Dampf hinrichend sein wird, lassen Sie mich es wissen. Wenn inzwischen unsere Leute wieder mehr Mut gewinnen, ist das ein ebenso großer Gewinn. Sie eilen sich, vom Teufelsdaumen wegzukommen! Nun, so benutzen wir diese gute Stimmung.«
Auf einmal wurde der Zug der Brigg plötzlich gehemmt.
»Was gibt es?« fragte Shandon. »Wall, sind unsere Schlepptaue zerrissen?«
»Nein, Kommandant«, erwiderte Wall, indem er sich über das Geländer neigte. »Ei! Da kommen unsere Leute zurück, klettern auf das Schiff; sie scheinen von einem sonderbaren Schrecken befallen!«
»Was gibt es denn?« rief Shandon, auf das Vorderteil stürzend.
»An Bord! An Bord!« schrien die Matrosen in ärgstem Schrecken.
Shandon blickte nach Norden hin, und Schaudern befiel ihn wider Willen.
Ein seltsames Tier, mit sprühender Zunge und riesenhaftem Schlund, sprang mit grässlichen Bewegungen eine Kabellänge vom Schiff entfernt; es schien über zwanzig Fuß hoch zu sein, mit struppig starrenden Haaren; es verfolgte die Matrosen und stürzte auf sie zu, während es mit furchtbarem, zehn Fuß langem Schwanz den Schnee fegte und in dichten Wirbeln aufregte.
Beim Erblicken eines solchen Ungeheuers wurden auch die Unverzagtesten von eisigem Schrecken befallen.
»’s ist ein Bär!« sagte der eine.
»’s ist der Wehrwolf!«
»Der Löwe inder Apokalypse!«
Shandon holte eiligst aus seiner Kabine einen stets geladenen Revolver; der Doktor griff rasch zu seiner Waffe, um auf das Tier zu feuern, dessen Größe an die Vierfüßler der Urzeit erinnerte.
Es kam mit ungeheuren Sprüngen näher; Shandon und der Doktor feuerten zugleich, und es zeigte sich plötzlich durch die Erschütterung der Luftschichten eine unerwartete Wirkung.
Als der Doktor genau hinsah, konnte er nicht umhin, laut aufzulachen.
»Die Strahlenbrechung!« sagte er.
»Die Strahlenbrechung!« rief Shandon.
Aber dazwischen fürchterliche Angstrufe aus der Mannschaft:
»Der Hund!« rief Clifton.
»Der Kapitän Hund!« wiederholten seine Kameraden.
»Er ist es!« rief Pen. »Immer noch der Hund!«
Es war wirklich der Hund, dem es gelungen war, seine Bande zu zerreißen und durch eine andere Öffnung wieder auf die Oberfläche des Eisfeldes zu gelangen. In diesem Augenblick war durch die Refraktion,1 – eine unter diesen Breitengraden gewöhnliche Erscheinung – seine Gestalt in furchtbaren Verhältnissen angewachsen. Diese Täuschung war zwar durch die Lufterschütterung beseitigt, aber es blieb doch eine schlimme Wirkung auf die Gemüter der Matrosen, welche wenig fähig waren, die Erklärung der Tatsache aus rein physischen Gründen gelten zu lassen. Das Abenteuer des Teufelsdaumens, das Wiedererscheinen des Hundes unter so fantastischen Umständen, machten sie vollends in ihrer Haltung irre, und lautes Murren ließ sich auf allen Seiten hören.
1 Brechung (von Lichtstrahlen) <<<
Der Forward drang mit Dampfeskraft zwischen den Eisfeldern und Eisbergen rasch vorwärts. Johnson hielt selbst das Steuer. Shandon untersuchte mit seiner Schneebrille den Horizont; aber seine Freude dauerte nicht lange, denn er erkannte bald, dass man am Ende des Fahrpasses sich rings von Bergen umgeben fand.
Doch zog er den Schwierigkeiten einer Umkehr das Missliche einer Fortsetzung der Fahrt vor.
Der Hund lief auf der Eisfläche hinter der Brigg her, aber in ziemlicher Entfernung. Da hörte man, wenn er zurückblieb, ein eigentümliches Pfeifen, worauf er sogleich zurückkehrte.
Als sich dieses Pfeifen zum ersten Mal hören ließ, sahen sich die Matrosen um; sie waren allein auf dem Verdeck und berieten zusammen; kein Fremder, kein Unbekannter; und doch vernahm man das Pfeifen einige Mal.
Clifton wurde zuerst unruhig.
»Hören Sie?« sagte er. »Und sehen Sie, wie das Tier springt, wenn es pfeifen hört.«
»Das ist ganz unglaublich«, erwiderte Gripper.
»Jetzt sind wir fertig!« rief Pen. »Weiter gehe ich nicht.«
»Pen hat recht«, versetzte Brunton, »das heißt Gott versuchen.«
»Den Teufel versuchen«, erwiderte Clifton. »Lieber geb’ ich meinen ganzen Teil an der Prämie hin, als dass ich noch einen Schritt weitergehe.«
»Wir kommen nicht wieder zurück«, sagte Bolton niedergeschlagen.
Die Mannschaft war im höchsten Grade entmutigt.
»Nicht einen Schritt weiter!« rief Wolsten. »Seid ihr einverstanden?«
»Ja! Ja!« erwiderten die Matrosen.
»Nun denn«, sagte Bolton, »so gehen wir zum Kommandanten; ich übernehme es mit ihm zu reden.«
Die Matrosen gingen in dichten Haufen aufs Hinterdeck zu.
Der Forward kam eben an eine große kreisrunde Stelle von etwa achthundert Fuß Durchmesser; sie war vollständig rings versperrt, mit Ausnahme eines einzigen Auswegs, welchen man gekommen war.
Shandon begriff, dass er sich selbst eingesperrt hatte. Aber was nun anfangen? Wie zurückkehren? Er fühlte seine ganze Verantwortlichkeit; es ballte sich ihm die Faust.
Der Doktor schaute mit gekreuzten Armen, ohne ein Wort vorzubringen. Er sah die Eiswände an, deren Höhe durchschnittlich dreihundert Fuß betragen mochte. Dichter Nebel lagerte über diesem Abgrund.
In diesem Augenblick redete Bolton den Kommandanten an.
»Kommandant«, sprach er mit bewegter Stimme, »wir können nicht weiter!«
»Das sagt ihr?« erwiderte Shandon, dem der Zorn über die Verletzung seiner Autorität ins Angesicht stieg.
»Wir erklären, Kommandant«, fuhr Bolton fort, »dass wir für den unsichtbaren Kapitän genug geleistet haben, und wir sind entschlossen, nicht weiter vorwärtszugehen.«
»Sie sind entschlossen? …« rief Shandon. »So sprechen Sie, Bolton! Hüten Sie sich!«
»Ihre Drohung macht nichts aus«, erwiderte Pen brutal, »wir gehen nicht weiter!«
Shandon ging auf die empörten Matrosen zu, als der Rüstmeister leise zu ihm sagte:
»Kommandant, wenn wir wieder von hier heraus wollen, haben wir keinen Augenblick zu verlieren. Da schwimmt ein Eisberg zu dem Fahrpass hin, der kann uns ganz absperren.«
Shandon untersuchte nochmals die Lage.
»Sie werden mir später Ihr Verhalten verantworten«, sagte er zu den Aufrührern. »Inzwischen, das Schiff gewendet!«
Die Matrosen eilten an ihre Posten. Der Forward wendete rasch, die Öfen wurden stärker geheizt; es galt dem schwimmenden Berg zuvorzukommen. Es war eine Wettfahrt zwischen der Brigg und dem Eisberg; die erstere eilte südlich, um hinauszukommen, der letztere trieb nordwärts, den Weg zu versperren.
»Heizen, heizen!« rief Shandon. »Mit vollem Dampf! Brunton, verstehen Sie?«
Der Forward glitt rasch wie ein Vogel zwischen den zerstreuten Eisblöcken durch, welche sein Vorderteil rasch durchschnitt; die Schraube wirkte, dass der Rumpf des Schiffes zitterte, und das Manometer zeigte eine äußerste Spannung des Dampfes, der zum Betäuben laut pfiff.
»Die Klappen beschwert!« rief Shandon.
Der Maschinist gehorchte, auf die Gefahr hin, das Schiff in die Luft zu sprengen.
Doch waren diese verzweifelten Anstrengungen vergebens; der Eisberg, von einer unterseeischen Strömung getrieben, kam zuvor; die Brigg war noch drei Kabellängen entfernt, als der Eisberg wie ein Keil in den freien Platz eindrang und jeden Ausweg sperrte.
»Jetzt sind wir verloren!« rief Shandon, dem das unvorsichtige Wort entschlüpfte.
»Verloren!« rief die Mannschaft.
»Rette sich, wer kann!« sagten die einen.
»Die Boote ins Meer!« riefen andere.
»In die Vorratskammer!« schrien Pen und andere seines Gelichters. »Sollen wir ersaufen, so wollen wirs im Gin!«
Alle Zügel rissen, die Unordnung stieg auf das höchste. Shandon fühlte sich übermeistert; er wollte kommandieren, stammelte, stockte; sein Gedanke konnte nicht Worte finden. Der Doktor ging voll Unruhe auf und ab. Johnson kreuzte mit stoischem Schweigen die Arme.
Da ließ sich plötzlich eine starke, energische, gebieterische Stimme vernehmen, mit dem Ruf:
»Jeder an seinen Posten! Rasch gewendet!«
Johnson gehorchte zitternd, ohne sich zu besinnen ließ er eiligst das Rad des Steuers drehen.
Es war hohe Zeit; die Brigg war im Begriff, mit aller Kraft wider die Wände prallend, zu scheitern.
Aber, während Johnson instinktmäßig Folge leistete, eilten Shandon, Clawbonny, die gesamte Mannschaft bis auf den Heizer Waren und den Neger Strong aufs Verdeck, und alle sahen aus der Kabine, dessen Schlüssel allein im Besitz des Kapitäns war, einen Mann heraustreten …
Dieser Mann war der Matrose Garry.
»Garry!« rief Shandon erbleichend – »Sie … was haben Sie für Recht, hier zu kommandieren? …«
»Duk!« rief Garry und wiederholte das Pfeifen, welches der Mannschaft so sehr aufgefallen war.
Als der Hund seinen wahren Namen vernahm, sprang er mit einem Satz auf das Hinterdeck und legte sich ruhig zu den Füßen seines Herrn.
Die Mannschaft ließ keinen Laut vernehmen.
Der Kapitän enthüllt sich.
Dieser Schlüssel, welchen allein der Kapitän der Forward in Händen haben konnte, dieser Hund, welchen er geschickt und der eben sozusagen seine Persönlichkeit beurkundet hatte, dieser Befehlshaberton, den man unmöglich verkennen konnte – alles dies machte einen mächtigen Eindruck auf die Matrosen und genügte, Garrys Autorität festzustellen.
Übrigens war Garry nicht mehr kenntlich; er hatte den breiten Backenbart, welcher sein Gesicht umrahmte, abgelegt, und umso mehr traten seine leidenschaftslosen Züge voll Tatkraft und Befehlshaberwürde ins Licht; er trat auf in seiner Standeskleidung mit den Abzeichen des Kommandanten.
So wurde denn auch die Mannschaft der Forward wider Willen fortgerissen und rief einstimmig:
»Hurra! Hurra! Hurra für den Kapitän!«
»Shandon«, sprach dieser zu seinem Stellvertreter, »lassen Sie die Mannschaft sich aufstellen, ich will Musterung halten.«
Shandon gehorchte und gab mit bewegter Stimme seine Befehle. Der Kapitän trat vor seine Offiziere und Matrosen und sprach zu jedem, was seinem bisherigen Verhalten gemäß passend war.
Hierauf stieg er auf die Kampanie und sprach in ruhigem Ton die folgenden Worte:
»Offiziere und Matrosen, ich bin Engländer, wie Sie auch, und mein Wahlspruch ist der des Admirals Nelson:
›England erwartet von jedem, dass er seine Pflicht erfülle.‹
Als Engländer will ich nicht, wollen wir nicht, dass kühnere Männer dahin dringen, wohin wir nicht vermocht hätten. Als Engländer will ich nicht, wollen wir nicht geschehen lassen, dass andere den Ruhm davontragen, weiter nach dem Norden zu dringen. Wenn jemals eines Mannes Fuß das Polarland betreten darf, so muss das der Fuß eines Engländers sein! Hier ist die Flagge Englands. Ich habe dies Schiff ausgerüstet, ich habe mein Vermögen an das Unternehmen gesetzt und will mein Leben und das Eurige dafür einsetzen, aber diese Flagge soll am Nordpol wehen. Lassen Sie es an Zuversicht nicht fehlen. Tausend Pfund Sterlind sind Euch für jeden Grad zugesagt, welchen wir von heute an weiter nördlich vordringen. Jetzt sind wir unterm zweiundsiebzigsten, und es sind neunzig Grad. Nun rechnet. Mein Name wird Ihnen übrigens eine Bürgschaft sein; Energie und Patriotismus sind ihm eigen. Ich bin der Kapitän Hatteras!«
»Der Kapitän Hatteras!« rief Shandon.
Dieser Name war unter den englischen Seeleuten wohlbekannt. Die Mannschaft vernahm ihn mit stillem Respekt.
»Jetzt«, fuhr Hatteras fort, »soll man die Brigg an die Eisblöcke festankern, die Feuer ausgehen lassen, und jeder gehe an sein gewöhntes Tagewerk. Shandon, ich habe mit Ihnen über die Schiffsangelegenheiten zu reden. Kommen Sie nebst dem Doktor, Wall und dem Rüstmeister zu mir in meine Kabine. Johnson, lassen Sie die Leute auseinandergehen.«
Hatteras, kaltblütig und kühl, stieg ruhig vom Hinterdeck herab, während Shandon die Brigg festankern ließ.
Wer war denn dieser Hatteras, und weshalb machte sein Name einen so tiefen Eindruck auf die Mannschaft?
John Hatteras, der einzige Sohn eines Brauers zu London, der im Jahre 1852 im Besitze von sechs Millionen starb, widmete sich noch in jungen Jahren, trotz des glänzenden Vermögens, das er erben sollte, dem Seewesen. Nicht der Handelsberuf führte ihn dazu, sondern sein Herz war vom Trieb nach geografischen Entdeckungen durchdrungen; er sann unablässig darauf, seinen Fuß dahin zu setzen, wohin noch kein Mensch gedrungen war.
Bereits zwanzig Jahre alt besaß er die kräftige Leibesbeschaffenheit magerer und sanguinischer Menschen: energische Gesichtszüge mit geometrisch bestimmten Linien, hohe Stirn senkrecht auf der Ebene schöner, aber kalter Augen, feine Lippen eines wortkargen Mundes, mittlere Statur, fester Gliederbau mit eisernen Muskeln – gaben das Gesamtbild eines Mannes von erprobtem Charakter. Sein Aussehen verriet Kühnheit, sein Ton kühle Leidenschaft; unbeugsam, nie zurückzuweichen fähig, war er bereit, das Leben anderer mit gleicher Überzeugung wie das seinige auf das Spiel zu setzen. Es galt daher zweimal zu überlegen, ehe man sich zur Teilnahme an seinen Unternehmungen entschloss.
Den Stolz des Engländers besaß er im höchsten Grade. Als in seiner Gegenwart ein Franzose mit vermeintlicher Höflichkeit und selbst Liebenswürdigkeit sagte:
»Wäre ich nicht Franzose, so möcht’ ich Engländer sein«, so erwiderte Hatteras:
»Wäre ich nicht Engländer, so möcht’ ich Engländer sein.«
Über alles ging ihm der Wunsch, den Ruhm geografischer Entdeckungen seinen Landsleuten allein zu wahren; aber zu seinem großen Missfallen hatten diese im Laufe der früheren Jahrhunderte in Hinsicht auf Entdeckungen wenig geleistet.
Die Entdeckung Amerikas verdankte man dem Genuesen Christoph Columbus, Indiens dem Portugiesen Vasco de Gama, Chinas dem Portugiesen Fernand d’Andrada, der Feuerlande dem Portugiesen Magelhaen, Kanadas dem Franzosen Jacques Cartier; die Sunda-Inseln, Labrador, Brasilien, das Kap der Guten Hoffnung, die Azoren, Madeira, New-Foundland, Guinea, Kongo, Mexiko, Kap Blanco, Grönland, Island, die Südsee, Kalifornien, Japan, Kambodscha, Peru, Kamtschatka, die Philippinen, Spitzbergen, das Kap Horn, die Behrings-Straße, Tasmanien, Neu-Seeland, Neu-Britannien, Neu-Holland, Louisiana, die Insel Jan-Mayen – wurden von Isländern, Skandinaviern, Russen, Portugiesen, Dänen, Spaniern, Genuesen, Holländern aufgefunden; aber kein einziger Engländer befand sich unter ihnen; für Hatteras zum Verzweifeln, dass seine Landsleute nicht dieser glorreichen Schar von Seefahrern angehörten, welchen man die großen Entdeckungen des fünfzehnten und sechzehnten Jahrhunderts verdankte.
Die neueren Zeiten konnten Hatteras ein wenig trösten; die Engländer fanden doch eine Entschädigung an ihrem Sturt, Daniel Stuart, Burke, Wills, King, Gray in Australien; an Palliser in Amerika, an Cyrill Graham, Wadington, Cummingham in Indien, an Burton, Speeke, Grant, Livingstone in Afrika.
Aber dies reichte nicht hin; nach Hatteras Ansicht waren die Leistungen dieser kühnen Reisenden vielmehr Vervollständigungen als Entdeckungen; er strebte nach Besserem.
Er hatte bemerkt, dass, obwohl die Engländer nicht unter den älteren Entdeckern die Mehrzahl bildeten, und dass man bis auf Cook zurückgehen musste, um Neu-Caledonien (1774) und die Sandwich-Inseln (1778) zu bekommen, es doch eine entlegene Gegend des Erdballs gab, wo sie durch vereinte Bemühungen etwas geleistet hatten, nämlich die Eismeere und Nord-Länder Amerikas.
Die Entdeckungen der Polarlande übersieht man an dieser Zusammenstellung:
Nowaja-Semlia, entdeckt von Willoughby (1553)
Die Insel Waigatz, entdeckt von Barrough (1556)
Die Westküste Grönlands, entdeckt von Davis (1585)
Die Davis-Straße, entdeckt von Davis (1587)
Spitzbergen, entdeckt von Willoughby (1596)
Die Hudson-Bai, entdeckt von Hudson (1610)
Die Baffin-Bai, entdeckt von Baffin (1616)
Während der letzteren Jahre sind Hearne, Mackenzie, John Ross, Parry, Franklin, Richardson, Beechey, James Ross, Back, Dease, Sompson, Rae, Inglefield, Belcher, Austin, Kellet, Moore, Mac Clure, Kennedy, Mac Clintock unablässig mit der Durchforschung dieser unbekannten Gegenden beschäftigt gewesen.
Man hatte die Nordküsten Amerikas genau abgesteckt, die nordwestliche Durchfahrt fast entdeckt, aber das genügte nicht; mehr und Besseres zu leisten hatte John Hatteras bereits zweimal mit auf eigene Kosten ausgerüsteten Schiffen versucht; er wollte zum Pol selbst vordringen, und so der Reihe der englischen Entdeckungen durch die glänzendste Unternehmung die Krone aufsetzen.
Nach dem Pol zu dringen, war für ihn Lebenszweck.
Nachdem Hatteras sehr schöne Reisen in die Südmeere gemacht, versuchte er zum ersten Mal im Jahre 1846 durch das Baffins-Meer weiter nördlich zu gelangen, aber er kam mit der Korvette Halifax nicht über den vierundsiebzigsten Breitengrad hinaus; seine Mannschaft hatte schrecklich zu leiden, und John Hatteras trieb seine abenteuerliche Verwegenheit soweit, dass seitdem die Seeleute wenig Lust hatten, nochmals solche Unternehmungen unter einem solchen Führer vorzunehmen.
Doch gelang es ihm im Jahre 1850 auf der Goelette1 Farewell zwanzig entschlossene Männer durch hohe Löhnung zu gewinnen. Bei dieser Gelegenheit hatte der Doktor Clawbonny bei Hatteras, den er nicht kannte, nachgesucht, die Reise mitzumachen; aber die Stelle des Arztes war bereits besetzt, zum Glück für Clawbonny.
Der Farewell schlug den Weg ein, welchen im Jahre 1817 der Neptun aus Aberdeen genommen hatte, und gelangte nördlich von Spitzbergen bis zum sechsundsiebzigsten Breitengrad. Dort musste er überwintern; aber die Leiden waren so arg und die Kälte so grimmig, dass nicht ein einziger von der Mannschaft nach England zurückkam, nur Hatteras ausgenommen, der nach einem Weg von mehr als zweihundert Meilen über die Eisfelder, von einem dänischen Walfischfahrer heimgebracht wurde.
Die Rückkehr dieses einzigen Mannes machte ungeheures Aufsehen. Wer sollte es von nun an wagen, sich an Hatteras bei seinen tollkühnen Unternehmungen anzuschließen? Doch gab er die Hoffnung dafür nicht auf. Sein Vater, der Brauer, starb und hinterließ ihm ein ungeheures Vermögen.
Inzwischen begab sich ein geografisches Ereignis, das John Hatteras aufs peinlichste traf.
Der Kaufmann Grinnel hatte eine Brigg, l’Advance, mit siebzehn Mann unter dem Befehl des Dr. Kane ausgerüstet und zur Aufsuchung des Sir John Franklin abgeschickt, und diese drang im Jahre 1853 durch das Baffins-Meer und den Smith-Sund bis zum zweiundachtzigsten Grad nördlicher Breite näher zum Pol als irgendeiner seiner Vorgänger.
Das Schiff war aber ein amerikanisches, Grinnel und Kane Amerikaner!
Natürlich ging im Herzen des Hatteras die Verachtung des Engländers gegen den Yankee in Hass über; er fasste den Entschluss, um jeden Preis seinen kühnen Nebenbuhler zu übertreffen, bis an den Pol selbst zu dringen.
Er lebte seit zwei Jahren zu Liverpool inkognito, indem er für einen Matrosen galt! Er erkannte in Richard Shandon den Mann, welchen er bedurfte, und machte ihm, sowie dem Doktor Clawbonny in anonymen Briefen Anträge. Der Forward wurde erbaut, ausgerüstet, bemannt. Hatteras hütete sich wohl, seinen Namen bekannt zu geben, sonst hätte er keinen einzigen Begleiter gefunden. Daher entschloss er sich, das Kommando der Brigg nur unter gebieterischen Umständen und wenn seine Mannschaft soweit sich eingelassen, um nicht mehr zurückzukommen, selbst zu übernehmen. Er hatte, wie gesehen, den Rückhalt, seinen Leuten solche Geldanbietungen zu machen, dass nicht ein einziger sich weigern würde, ihn bis ans Ende der Welt zu begleiten.
Und das Ziel, wohin er strebte, war ja auch das Ende der Welt.
Nun waren kritische Umstände eingetreten, und Hatteras gab sich unverzüglich zu erkennen.
Sein Hund, der treue Duk, der Gefährte seiner Fahrten, war der erste, welcher ihn erkannte, und zum Glück für die Mutigen, zum Unglück für die Verzagten, wurde es gehörig festgestellt, dass John Hatteras der Kapitän des Forward war.
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