Shandon, der Doktor Clawbonny, Johnson, Foker und der Koch Strong stiegen in des Walfischboot und fuhren ans Ufer.
Der Gouverneur, seine Frau und fünf Kinder, sämtlich von Eskimorasse, kamen höflich dem Besuch entgegen. Der Doktor verstand als Philologe ein wenig dänisch, welches zur Anknüpfung freundlicher Beziehungen hinreichte; auch verstand der Eismeister Foker, zugleich Dolmetscher der Expedition, etwa zwanzig Wörter Grönländisch, und wenn man nicht ehrgeizig ist, kommt man mit zwanzig Wörtern schon weit.
Der Gouverneur, ein Eingeborener der Insel Disko, war nie aus seinem Geburtsland herausgekommen; er begrüßte im Namen seiner Stadt, die aus drei hölzernen Häusern, dem des Gouverneurs, des lutherischen Pfarrers und einem Schulhause und Magazinen besteht, welche die Güter gestrandeter Schiffe bergen. Der Rest besteht aus Schneehütten, in welche die Eskimos durch eine einzige Öffnung hineinkriechen.
Ein großer Teil der Bewohner war dem Forward entgegengefahren, und mehr als ein Eingeborener fuhr in seinem fünfzehn Fuß langen und höchstens zwei Fuß breiten Kajak bis in die Mitte der Bai.
Der Doktor wusste, dass das Wort Eskimo einen Menschen bezeichnet, der rohe Fische isst; aber er wusste auch, dass diese Benennung im Lande wie ein Schimpfwort gilt, daher verfehlte er auch nicht, die Bewohner »Grönländer« zu nennen.
Und doch war an den öligen Robbenfellkleidern und Stiefeln, an der schmutzigen und übelriechenden Umhüllung, welche Männer und Frauen nicht unterscheiden lässt, leicht zu erkennen, womit diese Leute sich nährten; zudem waren sie, wie alle Völker, welche von Fischen leben, zum Teil vom Aussatz befallen, aber sie befanden sich darum nicht eben übler.
Der lutherische Pfarrer und seine Frau, mit welchen der Doktor besonders zu plaudern sich versprach, waren auf einem Ausflug nach Proven, südlich von Uppernawik, sodass er sich auf die Unterhaltung mit dem Gouverneur beschränkt sah. Dieser oberste Beamte schien nicht sehr gelehrt, zwar verstand er etwas mehr als ein Esel, aber des Lesens war er nicht völlig kundig.
Doch befragte er ihn über Handel, Gewohnheiten und Sitten der Eskimos und vernahm aus ihrer Gebärdensprache, dass die Robben, nach Kopenhagen geliefert, etwa vierzig Pfund galten, ein Bärenfell mit vierzig dänischen Dollar, ein blaues Fuchsfell mit vier, ein weißes mit zwei bis drei bezahlt wurde.
Der Doktor wünschte auch, um sich persönlich zu unterrichten, eine Eskimohütte zu besuchen; man kann sich kaum vorstellen, wozu sich ein Gelehrter in seinem Wissensdrang versteht; zum Glück war die Öffnung zu eng, sodass er trotz allem Eifer nicht hineinkommen konnte. Und das war auch besser, denn es gibt nichts so Widerliches als diese Anhäufung toter oder lebender Gegenstände, Robben- oder Eskimofleisch, fauler Fische und stinkender Kleider, womit eine Grönländerhütte ausgestattet ist; keine Fenster für Lufterneuerung, nur oben an der Spitze ein Loch, wodurch zwar der Rauch abziehen kann, nicht aber der Gestank.
Foker gab dem Doktor dies an, aber der würdige Gelehrte grollte doch seiner Beleibtheit; denn er hätte gern selbst sich ein Urteil gebildet.
»Ich bin überzeugt«, sagte er, »dass man mit der Zeit sich daran gewöhnt.«
Während der ethnografischen Studien dieses letzteren war Shandon, seinen Instruktionen nach, beschäftigt, sich Transportmittel über das Eis zu verschaffen; er musste für einen Schlitten und sechs Hunde vier Pfund bezahlen, und auch dafür sie herzugeben, machten die Eingeborenen Schwierigkeiten.
Shandon hätte gerne den geschickten Hundeführer Hans Christian geworben, welcher zur Expedition des Kapitäns Mac Clintock gehört hatte, aber derselbe befand sich damals im südlichen Grönland.
Dazu nun die Hauptfrage des Tages: Befand sich zu Uppernawik ein Europäer, der auf die Vorüberfahrt des Forward wartete? Hatte der Gouverneur Kenntnis davon, dass ein Fremder, wahrscheinlich Engländer, sich in diesen Gegenden aufhalte? Wann hatte er die letzten Verbindungen mit Walfischfahrern oder anderen Schiffen?
Auf diese Fragen erwiderte der Gouverneur, dass seit länger als zehn Monaten kein Fremder an dieser Gegend der Küste gelandet sei.
Shandon ließ sich die Namen der zuletzt angekommenen Walfischfahrer angeben; er kannte keinen derselben. Das war zum Verzweifeln.
»Sie werden mir zugeben, Doktor, dass dies nicht zu begreifen ist«, sagte er zu seinem Gefährten. »Nichts am Kap Farewell! Nichts auf der Insel Disko! Nichts zu Uppernawik!«
»Fügen Sie mir nach einigen Tagen noch dazu: Nichts in der Bai Melville, lieber Shandon, und ich werde Sie als alleinigen Kapitän der Forward begrüßen.«
Das Walfischboot kehrte gegen Abend mit den Besuchern zur Forward zurück; Strong hatte sich, zum Behuf neuer Gerichte, einige Dutzend Eier von Eider-Enten verschafft, welche zweimal so groß als Hühnereier und von grünlicher Farbe sind. So wenig das war, so erquickend war es doch für die auf gesalzenes Fleisch angewiesene Mannschaft.
Land der Eskimos
Der Wind wurde am folgenden Tag günstig, und doch gab Shandon keinen Befehl unter Segel zu gehen; er wollte noch einen Tag warten und, sein Gewissen zu beruhigen, jedem menschlichen Wesen Zeit lassen, sich zur Forward einzufinden; er ließ sogar von Stunde zu Stunde den Sechzehnpfünder abfeuern, welcher inmitten der Eisberge donnernd widerhallte; doch hatte dies nichts weiter zur Folge, als dass Schwärme von Seevögeln dadurch aufgescheucht wurden. Während der Nacht wurden auch einige Raketen in die Luft gelassen, aber vergeblich. Man musste sich zum Weiterfahren entschließen.
Am 8. Mai um sechs Uhr früh fuhr der Forward mit vollen Segeln ab und verlor bald Uppernawik mit seinen hässlichen Stangengerüsten, woran dem Ufer entlang Eingeweide von Robben und Bauchstücke von Damhirschen hingen, aus dem Gesicht.
Der Wind wehte aus Süd-Ost, und die Temperatur stieg wieder auf zweiunddreißig Grad (-0° hundertteilig). Die Sonne drang durch den Nebel, und die Eisblöcke wurden unter ihrer auflösenden Einwirkung etwas lockerer.
Indessen übte der Reflex dieser blendendweißen Strahlen einen nachteiligen Einfluss auf das Gesicht einiger Leute der Mannschaft. Der Waffenschmied Wolsten, Gripper, Clifton und Bell wurden schneeblind, eine im Frühjahr sehr verbreitete Augenkrankheit, welche bei den Eiskomos häufig Blindheit zur Folge hat. Der Doktor riet der ganzen Mannschaft, besonders aber den Kranken, an, sich das Gesicht mit einem Schleier von grüner Gaze zu verhüllen, und befolgte zuerst seine Anordnung.
Die von Shandon zu Uppernawik gekauften Hunde waren ziemlich wilder Art, doch gewöhnten sie sich bald an das Schiff, und Kapitän Hund stand nicht übel zu seinen neuen Kameraden; er schien ihre Gewohnheiten zu kennen. Man konnte leicht erkennen, dass dieser Kapitän bereits Bekanntschaft mit seinen Stammesgenossen auf Grönland gehabt haben musste. Da diese zu Lande bei ungenügender Nahrung stets hungrig gehalten wurden, so waren sie nun gierig, bei dieser Schiffsordnung sich zu erholen.
Am 9. Mai strich der Forward einige Kabel weit bei der westlichsten der Baffins-Inseln vorbei. Der Doktor bemerkte in der Bai zwischen den Inseln und dem Lande einige Felsen, die man Crimson-Cliffs nennt; sie waren mit einem schön karminroten Schnee bedeckt, welchem der Doktor Kane einen rein vegetalen Ursprung gibt; Clawbonny hätte diese merkwürdige Phänomen gern näher beobachtet, aber das Eis gestattete nicht, sich der Küste mehr zu nähern. Obwohl die Temperatur zu steigen anfing, konnte man klar sehen, dass die Eisberge und Eisströme im Norden des Baffins-Meeres häufiger wurden.
Von Uppernawik an bot das Land einen anderen Anblick, und es zeichneten sich am Horizont die Profile unermesslicher Gletscher auf grauem Himmelsgrund. Am 10. ließ der Forward die Bai Hingston rechts nächst dem vierundsiebzigsten Breitengrad: mehrere hundert Meilen westlich von dem Eingang des Lancaster-Sund.
Dann aber verschwand die ungeheure Wasserfläche unter ausgedehnten Eisfeldern, auf welchen regelmäßige Spitzhügel wie die Kristallisation der nämlichen Substanz sich erheben. Shandon ließ heizen, und bis zum 11. Mai schlängelte der Forward durch die gewundenen Engen, und sein schwarzer Rauch zeichnete am Himmel den Weg, welchen er nahm.
Aber bald zeigten sich neue Hindernisse; da die schwimmenden Massen beständig ihre Stelle wechselten, so schlossen sich die engen Fahrwasser; vor dem Vorderteil der Forward drohte jeden Augenblick das Waser zu mangeln, und wenn er eingeklemmt wurde, würde es ihm schwerfallen, sich wieder herauszuziehen. Jeder wusste es, jeder dachte daran.
Auch zeigten sich an Bord dieses Schiffes ohne Ziel, ohne bekannte Bestimmung, das sinnlos nach Norden zu steuerte, einige Symptome schwankender Gesinnung; unter den an ein Leben voll Gefahren gewöhnten Leuten fanden sich manche, die trotz der gebotenen Vorteile es bereuten, sich so weit gewagt zu haben. Es herrschte bereits in den Gemütern eine gewisse Entmutigung, welche durch die Angst Cliftons und die Reden von einigen Anstiftern, wie Pen, Gripper, Waren und Wolsten noch zunahm.
Zu der gemütlichen Herabstimmung der Mannschaft gesellten sich dann noch erschöpfende Strapazen, denn am 12. Mai war die Brigg auf allen Seiten eingeschlossen; die Dampfkraft reichte nicht mehr aus, man musste sich durch die Eisfelder eine Bahn machen. Bei den sechs bis sieben Fuß dicken Blöcken war die Anwendung der Sägen sehr mühevoll; wenn in einer Länge von hundert Fuß zwei Parallelschnitte gemacht waren, musste man das zwischen denselben befindliche Eis mit Äxten und Hebebäumen zerbröckeln; dann steckte man Anker durch ein mit einem starken Bohrer gemachtes Loch; dann begann man die Winde anzuwenden und zog das Schiff mit den Armen; eine sehr große Schwierigkeit bestand noch darin, dass man die Eisstücke unter die Blöcke bringen musste, um dem Fahrzeug Bahn zu machen; und man musste sie vermittels langer Stangen mit einer eisernen Spitze hinwegstoßen.
Kurz, das Sägen, Ziehen, Winden, Stoßen – unablässig notwendige, gefährliche Verrichtungen mitten im Nebel oder dichtem Schnee, die niedrige Temperatur, Augenleiden, Gemütsbefangenheit – alles wirkte zusammen, die Mannschaft herabzustimmen und auf ihre Einbildungskraft zu wirken.
Haben es die Matrosen mit einem energischen, kühnen, überzeugten Manne zu tun, der seines Zweckes, seines Weges und Zieles sicher ist, so hält das Vertrauen sie wider Willen aufrecht; sie sind mit ihrem Haupt eines Sinnes, stark durch seine Kraft, und ruhig durch seine Ruhe. Aber an Bord der Brigg wusste man, dass der Befehlshaber nicht sicher war, bei dem unbekannten Ziel und Bestimmungsort schwankte. Trotz der Energie seines Charakters gab sich durch Änderung der Befehle, unvollständige Manöver, unzeitige Bemerkungen, durch eine Menge Einzelheiten, welche der Mannschaft nicht unbemerkt bleiben konnten, seine Schwäche unwillkürlich kund.
Und dann, Shandon war doch nicht Kapitän des Schiffes, von dem nach Gott alles abhing; Grund genug, dass man über seine Befehle disputierte, und vom Disputieren bis zur Gehorsamsverweigerung ist nur ein leichter Schritt.
Die Unzufriedenen gewannen bald den ersten Maschinisten für sich, der bisher sich streng an seine Pflicht hielt.
Am 16. Mai, sechs Tage nachdem der Forward bei der Eisdecke angelangt war, hatte Shandon noch keine zwei Meilen nordwärts zurückgelegt. Man war mit dem Schicksal bedroht, im Eise stecken zu bleiben. Das war ein bedenklicher Fall.
Gegen acht Uhr gingen Shandon und der Doktor in Begleitung des Matrosen Garry aus, um auf der unermesslichen Ebene zu rekognoszieren; sie waren bedacht, sich nicht allzu weit von dem Schiff zu entfernen, denn es wurde schwierig, sich in den weißen Einöden, deren Ansichten sich unaufhörlich änderten, Merkpunkte zu bilden. Die Strahlenbrechung hatte sonderbare Wirkungen, sodass der Doktor darüber staunte; wo er meinte, nur einen Fuß weit springen zu müssen, musste man über fünf bis sechs Fuß hinaus; oder es fand der entgegengesetzte Fall statt: In beiden Fällen aber kam es auf den glasharten Eisstücken zum Niederfallen, was, wenn auch nicht gefährlich, doch immer beschwerlich war.
Shandon suchte mit seinen Begleitern fahrbare Wasserwege; in einer Entfernung von drei Meilen vom Schiff erstiegen sie mit ziemlicher Beschwerde einen Eisberg, welcher dreihundert Fuß hoch sein mochte. Von hier aus schweifte ihr Blick über diesen wüsten Haufen, gleich den Trümmern einer Riesenstadt mit umgeworfenen Obelisken, zusammengestürzten Türmen und umgekehrten Palästen. Die Sonne zog mühsam ihre Kreise um einen mit Bergspitzen besetzten Horizont und warf lange, schiefe Lichtstrahlen ohne Wärme, als wenn nichtwärmeleitende Stoffe zwischen sie und dies traurige Land gedrungen wären.
Das Meer schien, soweit die Blicke nur reichten, völlig festgefroren.
»Wie kommen wir weiter?« fragte der Doktor.
»Ich weiß nicht«, erwiderte Shandon, »aber wir kommen weiter, müssten wir auch diese Berge mit Pulver sprengen; ich lasse mich gewiss nicht durch diese Eisblöcke bis zum nächsten Frühjahr hier festhalten.«
»Wie das jedoch«, sagte der Doktor, »dem Fox fast in diesen nämlichen Gegenden passiert ist. Ei doch! Wir dringen durch … mit ein wenig Philosophie. Sie werden sehen, das ist so viel wert wie alle Maschinen!«
»Man muss zugeben, dass dieses Jahr nicht eben günstige Aussicht darbietet.«
»Unstreitig, Shandon, und ich bemerke, dass das Baffins-Meer die Neigung zeigt, in den Zustand vor 1817 zurückzukehren.«
»Meinen Sie, Doktor, es sei nicht immer so wie jetzt gewesen?«
»Nein, lieber Shandon: Von Zeit zu Zeit haben ungeheure Eisgänge stattgefunden, welche die Gelehrten nicht zu erklären wussten. So ist bis zum Jahre 1817 dieses Meer beständig versperrt gewesen, als eine ungeheure Überschwemmung stattfand und diese Eisberge in den Ozean trieb, welche meistens an der Bank von New-Foundland zerbröckelten. Von der Zeit an ist die Baffins-Bai fast frei gewesen und ward zum Sammelplatz der Walfischjäger.«
»Also«, fragte Shandon, »sind seit dieser Zeit die Nordfahrten leichter gewesen?«
»Ganz außerordentlich; aber man bemerkt, dass seit einigen Jahren die Bai Neigung zeigt, wieder fest zu werden und sich, vielleicht für lange Zeit, den Forschungsreisenden zu verschließen. Umso mehr Grund also, dass wir so weit als möglich vordringen. Und doch gleichen wir ein wenig den Leuten, welche sich in unbekannte Gänge hineinwagen, deren Türen sich unablässig hinter ihnen wieder schließen.«
»Würden Sie mir raten zurückzuweichen?« fragte Shandon, indem er tiefer in des Doktors Augen zu lesen versuchte.
»Ich! Ich habe nie verstanden, einen Fuß rückwärts zu tun; und sollte man nie wieder zurückkommen, so sag’ ich vorwärts! Nur müssen wir uns klarmachen, dass wir, wenn wir unvorsichtig sind, genau wissen, welcher Gefahr wir uns aussetzen.«
»Und Sie, Garry, was halten Sie davon?« fragte Shandon den Matrosen.
»Ich, Kommandant, würde gradeaus vorwärts gehen; ich schließe mich des Herrn Clawbonnys Meinung an; übrigens tun Sie, was Ihnen beliebt; kommandieren Sie, wir werden gehorchen.«
»Nicht alle reden wie Sie, Garry«, fuhr Shandon fort; »es haben nicht alle Lust zu gehorchen! Und wenn sie sich weigern, meine Befehle auszuführen?«
»Ich habe Ihnen meine Ansicht geäußert, Kommandant«, erwiderte Garry mit kalter Miene, »weil Sie mich um dieselbe befragt haben; aber Sie sind nicht daran gebunden.«
Shandon gab keine Antwort, er prüfte achtsam den Horizont und begab sich wieder mit seinen beiden Gefährten auf das Eisfeld.
Während der Abwesenheit des Kommandanten hatten die Bootsleute verschiedene Arbeiten ausgeführt, sodass es nun dem Schiffe möglich war, sich dem Druck der Eisfelder zu entziehen. Pen, Clifton, Bolton, Gripper, Simpson nahmen diese mühevolle Verrichtung vor; der Heizer und die beiden Maschinisten mussten sogar beihelfen, denn vom Augenblick an, wo ihr Dienst bei der Maschine nicht erforderlich war, wurden sie wieder Matrosen und konnten als solche zu allen Dienstleistungen an Bord zugezogen werden.
Aber das geschah nicht ohne große Aufregung.
»Ich erkläre, dass ich jetzt satt daran habe«, sagte Pen, »und wenn binnen drei Tagen der Eisbruch nicht eintritt, schwöre ich zu Gott, dass ich die Hände in den Schoß lege!«
»Die Hände in den Schoß legen«, erwiderte Gripper, »da wäre es doch besser, man brauchte sie, um rückwärts zu kommen! Meinst du, wir hätten Lust, hier bis zum künftigen Frühjahr zu überwintern?«
»Wahrhaftig, das wäre ein traurig Winterquartier«, versetzte Plover, »denn das Schiff ist nach allen Seiten hin schutzlos!«
»Und wer weiß«, sagte Brunton, »ob selbst im nächsten Frühjahr das Meer freier sein wird als heute?«
»Es handelt sich gar nicht um nächstes Frühjahr«, entgegnete Pen, »wir haben heute Donnerstag; wenn bis Sonntag früh die Bahn nicht frei ist, fahren wir rückwärts nach dem Süden.«
»Bravo!« rief Clifton.
»Seid ihr damit einverstanden?« fragte Pen.
»Einverstanden!« erwiderten die Kameraden.
»Ganz recht«, fuhr Waren fort, »denn wenn wir dergestalt arbeiten und das Schiff mit den Armen fortziehen müssen, so bin ich der Meinung, dass wir rückwärts ziehen.«
»Bis Sonntag wird sich das zeigen«, sagte Wolsten.
»Auf Befehl«, fuhr Brunton fort, »sind meine Öfen bald geheizt.«
»Ei!« versetzte Clifton. »Die werden wir schon selbst heizen.«
»Wenn von den Offizieren einer«, erwiderte Pen, »sich das Vergnügen machen will, hier Winterquartier zu nehmen, steht es ihm frei; man wird ihn ruhig hierlassen, niemand wird ihn hindern, sich eine Schneehütte zu bauen, um als echter Eskimo darin zu leben.«
»Nichts von dem, Pen«, entgegnete Brunton, »wir dürfen keinen im Stich lassen, versteht ihr wohl, ihr anderen? Ich glaube übrigens, dass der Kommandant nicht schwer zu bestimmen sein wird; er sieht mir schon sehr beunruhigt aus, und wenn man ihm die Sache glimpflich beibringt …«
»Wohl zu verstehen«, fuhr Plover fort, »Richard Shandon ist ein harter und mitunter starrköpfiger Mann; man müsste ihm geschickt beikommen.«
»Wenn ich denke«, versetzte Bolton mit sehnsüchtigem Seufzen, »dass wir binnen einem Monat wieder in Liverpool sein können! Über die Linie der Eisblöcke im Süden werden wir rasch hinaus sein! Zu Anfang Juni wird die Davis-Straße frei zu passieren sein, und dann brauchen wir uns nur ins Atlantische Meer treiben zu lassen!«
»Dazu kommt noch«, erwiderte der kluge Clifton, »dass wir, wenn wir unter der Verantwortlichkeit des Kommandanten zurückkehren, unsere Anteile und Vergütungen ungeschmälert behalten; kämen wir aber allein heim, so wären wir derselben nicht ganz sicher.«
»Gut ausgeklügelt«, sagte Plover; »dieser verteufelte Clifton spricht wie ein Finanzmann. Nehmen wir uns in acht, dass wir nichts mit den Herren von der Admiralität auseinanderzusetzen haben; das ist sicherer, und lassen wir niemand im Stich.«
»Aber wenn die Offiziere sich weigern, sich uns anzuschließen?« versetzte Pen, der seine Kameraden zum Äußersten drängen wollte.
Eine so direkt gestellte Frage setzte etwas in Verlegenheit.
»Das werden wir sehen, wenn die rechte Zeit dafür sein wird«, versetzte Bolton. »Übrigens wird es hinreichen, Shandon für unsere Sache zu gewinnen, und ich denke, das wird nicht schwer sein.«
»Doch gibt es einen, den möcht’ ich hier lassen«, sagte Pen fluchend, »und sollte er mir auch einen Arm fressen.«
»Ah! Den Hund«, sagte Plover.
»Ja, den Hund, und ich werde bald mit ihm fertig sein!«
»Umso lieber«, versetzte Clifton mit Beziehung auf sein Lieblingsthema, »als der Hund an all’ unserm Unglück schuld ist.«
»Er hat uns behext«, sagte Plover.
»Er hat uns in das Eis hineingeschleppt«, erwiderte Gripper.
»Er hat uns«, entgegnete Wolsten, »mehr Eisblöcke in den Weg geschafft, als man je zu dieser Zeit gesehen hat?«
»Er hat mir die Augen krank gemacht«, sagte Brunton.
»Er hat uns den Gin und Branntwein entzogen«, versetzte Pen.
»Er ist an allem schuld«, riefen sie alle zusammen.
»Und dazu noch«, erwiderte Clifton, »ist er der Kapitän.«
»Jawohl, Unglückskapitän«, schrie Pen, dessen unsinniger Zorn sich durch die eigenen Worte steigerte, »du hast gerne hierher gewollt, sollst auch hier bleiben!«
»Aber wie fangen wir ihn?« sagte Plover.
»Ei! Nun ist gute Gelegenheit dafür«, erwiderte Clifton, »der Kommandant ist nicht an Bord, der Lieutenant schläft in seiner Kabine; der Nebel ist dicht genug, dass Johnson uns nicht wahrnehmen kann …«
»Aber der Hund?« schrie Pen.
»Der schläft oben neben der Kohlenkammer«, erwiderte Clifton, »und wenn man Lust hat …«
»Ich übernehme es«, versetzte Pen wütend.
»Nimm dich in acht, Pen, er hat Zähne, die können Eisenstangen zerbeißen!«
»Rührt er sich, so steche ich ihn in den Bauch«, entgegnete Pen und zückte sein Messer. Und er stürzte in das Zwischendeck, Waren ihm nach, um ihm dabei zu helfen.
Bald kamen sie miteinander zurück und schleppten das Tier in den Armen, die Schnauze und Pfoten geknebelt; sie hatten ihn im Schlaf überrascht, und der unglückliche Hund konnte ihnen nicht mehr entrinnen.
»Hurra für Pen!« rief Plover.
»Und jetzt, was willst du mit ihm anfangen?« fragte Clifton.
»Ins Wasser werfen, und wenn er je wiederkommt …« versetzte Pen mit wüstem Lachen der Befriedigung.
Zweihundert Schritte vom Schiff entfernt war ein Robbenloch, eine kreisrunde Öffnung, wie sie diese Tiere mit ihren Zähnen machen und stets von innen aus nagend offen halten; durch dieselbe ist die Robbe imstande, an der Oberfläche Luft zu schöpfen; aber sie muss sorgfältig verhindern, dass dieselbe nicht oben wieder zufriert, denn die Beschaffenheit ihrer Kinnlade macht ihr unmöglich, das Loch von außen nach innen zu erneuern, und im Moment der Gefahr könnte sie ihren Feinden nicht entrinnen.
Pen und Waren gingen mit dem Hund zu dieser Öffnung und warfen ihn, so arg er zappelte und dagegen wehrte, unbarmherzig ins Meer; darauf wälzten sie einen gewaltigen Eisblock über das Loch, um dem Tier den Ausgang zu schließen, dass es nimmer wiederkomme.
»Gute Reise, Kapitän!« rief der brutale Matrose.
Gleich darauf kehrten Pen und Waren wieder an Bord zurück. Johnson hatte gar nichts davon gemerkt; der Nebel um das Schiff herum ward dichter, und es begann wieder heftig zu schneien.
Eine Stunde nachher erschienen auch Richard Shandon, der Doktor und Garry wieder auf der Forward.
Shandon hatte in nordöstlicher Richtung ein Fahrwasser bemerkt, welches er zu benutzen beschloss. Demnach erteilte er seine Befehle; die Mannschaft gehorchte mit einer gewissen Rührigkeit; sie wollte Shandon die Unmöglichkeit weiterzudringen begreiflich machen, und zudem hielt sie sich noch drei Tage zum Gehorsam verbunden.
Während eines Teiles der Nacht und des folgenden Tages wurde die Sägearbeit und das Ziehen des Schiffes eifrig fortgesetzt; der Forward kam ungefähr zwei Meilen weiter nordwärts. Am 18. befand er sich in der Nähe des Landes, fünf bis sechs Kabellängen von einem sonderbar gestalteten Pic, dem man seiner auffallenden Form wegen den Namen »Teufelsdaumen« gegeben hatte.
An derselben Stelle waren im Jahre 1851 der »Prinz Albert« und 1853 Kane mit dem »Advance« mehrere Wochen lang ununterbrochen steckengeblieben.
Die seltsame Gestalt des Teufelsdaumens, die öde und verlassene Umgebung, ringsum ungeheure Eisberge, manche über dreihundert Fuß hoch, das Krachen der Eisberge, welches unheimlicherweise im Echo widerhallte, alles machte die Lage der Forward erschrecklich traurig. Shandon begriff, dass er ihn von da wegbringen und weiterführen müsse. Vierundzwanzig Stunden nachher, seiner Schätzung nach, konnte er um etwa zwei Meilen von dieser unheimlichen Küste wegkommen. Aber das war nicht alles. Shandon fühlte sich von Furcht befangen, und die falsche Stellung, worin er sich befand, lähmte seine Tatkraft; um seinen Instruktionen nach vorwärts zu dringen, hatte er sein Schiff in eine außerordentlich gefährliche Lage versetzt; das Schiffsziehen brachte die Leute gänzlich herab; man brauchte über drei Stunden, um einen zwanzig Fuß langen Kanal in ein Eis zu hauen, das vier bis fünf Fuß dick war; der Gesundheitszustand der Mannschaft drohte schon schlimmer zu werden. Shandon staunte über das Schweigen der Leute und ihre ungewöhnliche Hingebung; aber er besorgte, es möchte dies der Vorbote eines nahen Sturmes sein. Man kann sich demnach die peinliche Überraschung, die Enttäuschung und Hoffnungslosigkeit vorstellen, welche ihn befiel, als er wahrnahm, dass infolge einer unmerklichen Bewegung des Eisfeldes der Forward während der Nacht des 18. zum 19. wieder alles verlor, was er durch so viele Strapazen gewonnen hatte, am Samstagmorgen befand er sich wieder im Angesicht des Teufelsdaumens, der stets drohte, und in einer noch bedenklicheren Lage; die Eisberge wurden häufiger und fuhren Phantomen gleich im Nebel vorüber.
Shandon war vollständig entmutigt; offen gesagt, der Schrecken drang in das Gemüt dieses unverzagten Mannes und in die Herzen seiner Mannschaft. Shandon hatte vom Verschwinden des Hundes reden gehört, aber er wagte nicht die Schuldigen zu strafen; er musste fürchten, einen Aufruhr hervorzurufen.
Das Wetter war diesen Tag über schrecklich; dicht aufgewirbelter Schnee umhüllte die Brigg mit einem undurchdringlichen Schleier; bisweilen, unter Einwirkung des Sturmwetters, teilte sich der Nebel, und das Auge sah mit Schrecken auf der Landseite den Teufelsdaumen gespensterartig emporragen.
Der Forward ankerte sich fest an einen ungeheuren Eisblock, weiter konnte er nichts tun, nichts versuchen; die Dunkelheit nahm zu, sodass der Mann am Steuer den Wachposten am Vorderteil nicht sehen konnte.
Shandon zog sich, unablässig beängstigt, in seine Kabine zurück; der Doktor ordnete seine Reisenotizen; von der Mannschaft war die Hälfte auf dem Verdeck geblieben, die anderen befanden sich im gemeinschaftlichen Saal.
In einem Moment, wo der Sturm ärger tobte, schien der Teufelsdaumen mitten im zerrissenen Nebel über die Maßen hoch zu ragen.
»Großer Gott!« schrie Simpson und wich voll Schrecken zurück.
»Was gibt es«, sagte Foker.
Nun rief es auf allen Seiten:
»Er wird uns zerschmettern!«
»Wir sind verloren!«
»Herr Wall! Herr Wall!«
»’s ist alles aus!«
»Kommandant! Kommandant!«
So schrien die Leute von der Wache zusammen.
Wall stürzte auf das Hinterkastell; Shandon in Begleitung des Doktors eilte auf das Verdeck und schaute.
Mitten durch die Spalten des Nebels schien der Teufelsdaumen plötzlich näher bei der Brigg; er schien fantastisch vergrößert; an seiner Spitze erhob sich ein zweiter Kegel, umgekehrt und auf seiner Spitze sich drehend; – er drohte mit seiner ungeheuren Masse das Schiff zu zertrümmern; er wankte, drohte zu fallen: ein Anblick zum Entsetzen. Jeder wich unwillkürlich zurück, und einige Matrosen verließen das Schiff, eilten auf das Eis.