Endlich war die Mannschaft, teils durch das Fortziehen des Schiffes längs der Eisfelder, teils durch das Fernhalten drohender Blöcke vermittels langer Stangen, vor Ermüdung fast erschöpft, und doch war Freitag, den 27. April, der Forward noch auf der Linie des Polarkreises zurückgehalten.
Inzwischen gelang es der Forward, indem er geschickt in den Fahrwassern durchglitt, einige Minuten weiter nördlich zu dringen; aber anstatt dem Feind auszuweichen, musste man bald ihn angreifen; Eisfelder von mehreren Meilen Umfang waren im Anzuge, und da diese Massen in Bewegung oft einen Druck von mehr als zehn Millionen Tonnen darstellen, so musste man sich sorgfältig hüten, nicht erdrückt zu werden. Es wurden daher im Innern des Schiffes Eissägen hergerichtet, dergestalt, dass sie unverzüglich in Anwendung gebracht werden konnten.
Ein Teil der Mannschaft ließ sich diese harten Arbeiten philosophisch gefallen, aber andere beklagten sich oder wollten gar den Gehorsam verweigern. Als man zur Herrichtung der Instrumente schritt, tauschten Garry, Bolton, Pen und Gripper ihre verschiedenen Ansichten.
»Beim Teufel!« sagte munter Bolton. »Es kommt mir, ich weiß nicht wie, der Gedanke, dass es in Waterstreet eine hübsche Schenke gibt, wo man zwischen einem Glas Gin und einer Flasche Porter nicht übel beisammen sitzt. Du siehst das von hier aus, Gripper?«
»Die Wahrheit zu sagen«, entgegnete der Matrose, der im Allgemeinen meist übler Laune war, »ich versichere dich, dass ich das von hier aus nicht sehe.«
»Es ist nur eine Redensart, Gripper; es ist wohl klar, dass es in den Schneestädten, welche Herr Clawbonny bewundert, nicht das kleinste Wirtshaus gibt, worin ein braver Matrose sich mit einigen Gläschen Branntwein erquicken könnte.«
»Darüber kannst du wohl sicher sein, Bolton; und du könntest wohl noch beifügen, dass man nicht einmal hier sich gehörig erquicken kann. Eine sonderbare Idee, den in den Nordmeeren Reisenden jeden geistigen Trunk zu versagen!«
»Schön!« erwiderte Garry. »Hast du denn vergessen, Gripper, was dir der Doktor gesagt hat? Man muss sich jedes aufregenden Getränkes enthalten, wenn man dem Skorbut widerstehen, sich gesund halten und weit fahren will.«
»Aber ich begehre nicht weit zu fahren, Garry, und ich finde, dass es schon etwas Schönes ist, bis hierher gekommen zu sein, dann kann man sich weigern dahin vorzudringen, wohin der Teufel nicht leiden mag, dass man dringe.«
»Ei nun, man wird es auch nicht tun«, versetzte Pen. »Wenn ich denke, dass ich schon vergessen habe, wie der Gin schmeckt!«
»Aber«, sagte Bolton, »erinnere dich doch, was der Doktor gesagt hat.«
»Oh!« entgegnete Pen mit seiner groben, brutalen Stimme. »Wer weiß, ob man nicht unterm Vorwand der Gesundheit sich einfallen lässt, den Trank zu sparen?«
»Dieser Teufel von Pen hat vielleicht recht«, erwiderte Gripper.
»Geht doch!« versetzte Bolton. »Dafür ist seine Nase zu rot; und wenn Pen bei einer Fahrt unter solcher Zucht ein wenig von seiner Farbe verliert, so wird er es nicht zu beklagen haben.«
»Was geht meine Nase dich an?« erwiderte barsch der Matrose, der sich an wunder Stelle getroffen fühlte. »Meine Nase bedarf deinen Rat nicht, begehrt ihn nicht; kümmere dich doch um das, was dich angeht!«
»Nun! Werde doch nicht böse, Pen, ich glaubte nicht, dass du eine so empfindliche Nase hast. Oh! Ich bin auch kein Verächter eines Gläschens Whisky, zumal bei solcher Kälte; aber, wenn es schließlich mehr schadet als nützt, so lass ich es auch gerne.«
»Du magst es lassen«, sagte der Heizer Waren, der sich in das Gespräch mischte; »ei, das tut wohl nicht jeder andere!«
»Was meinst du damit, Waren?« versetzte Garry, und sah ihm fest ins Gesicht.
»Ich meine damit, dass es aus diesem oder jenem Grunde Likör an Bord gibt, und denke mir, dass man dahinten ihm sich nicht ganz entzieht.«
»Und was weißt du davon?« fragte Garry.
Waren wusste nichts zu antworten.
»Du siehst wohl, Garry«, fuhr Bolton fort, »dass Waren nichts davon weiß.«
»Nun«, sagte Pen, »wir wollen vom Kommandanten eine Ration Gin verlangen; wir haben es wohl verdient, und da werden wir sehen, was er antworten wird.«
»Ich rate euch, so etwas nicht zu tun«, erwiderte Garry.
»Und weshalb?« schrien Pen und Gripper.
»Weil der Kommandant es euch abschlagen wird. Ihr wusstet ja, als ihr mit in See gingt, die Schiffsordnung; damals musstet ihr euch darüber besinnen.«
»Übrigens«, erwiderte Bolton, der sich gern auf Garrys Seite stellte, dessen Charakter ihm gefiel, – »Richard Shandon ist ja nicht Herr an Bord; er hat zu gehorchen, wie wir.«
»Und wem denn?« fragte Pen.
»Dem Kapitän.«
»Ah! Immer der leidige Kapitän!« schrie Pen. »Und seht ihr nicht, dass es ebensowenig einen Kapitän an Bord gibt als ein Wirtshaus auf diesen Eisbänken? Auf diese Art will man uns nur höflich verweigern, was wir zu fordern berechtigt sind.«
»Ja doch, es gibt einen Kapitän«, versetzte Bolton; »und ich wollte um zwei Monate Sold wetten, dass wir ihn bald zu sehen bekommen werden.«
»Gut«, sagte Pen, »dem wollte ich schon ein paar Worte ins Angesicht sagen!«
»Wer redet vom Kapitän?« fragte ein anderer der Anwesenden, der Matrose, der etwas abergläubisch war.
»Weiß man etwas Neues über den Kapitän?« fragte er.
»Nein«, war die einstimmige Antwort.
»Nun, ich versehe mich, dass wir ihn eines schönen Morgens in seiner Kabine zu Hause finden, ohne dass jemand wüsste, wie oder woher er angekommen sei.«
»Geh doch!« erwiderte Bolton. »Du meinst, Clifton, der Schelm sei so ein Kobold, wie sie in Hochschottland umgehen!«
»Lache, so viel du willst, Bolton; das ändert meine Meinung nicht. Tagtäglich, wenn ich vor der Kabine vorübergehe, schaue ich durch das Schlüsselloch, und eines schönen Morgens werde ich euch erzählen, wem dieser Kapitän gleicht und wie er aussieht.«
»Ei! Beim Teufel«, sagte Pen, »dein Kapitän wird aussehen wie alle anderen Leute! Und wenn es ein Schelm ist, der uns anführen will, wohin wir nicht mögen, wird man ihm sagen, was sich gehört.«
»Schön!« sagte Bolton. »Der Pen will schon mit ihm zanken und kennt ihn noch nicht!«
»Wer kennt ihn nicht?« entgegnete Clifton wie einer, der davon zu ezählen weiß!
»Was Teufel meinst du damit?« fragte Gripper.
»Ich verstehe mich darauf.«
»Aber wir verstehen dich nicht!«
»Ah! Hat nicht Pen schon Unannehmlichkeiten mit ihm gehabt?«
»Mit dem Kapitän?«
»Ja, dem Kapitän Hund, denn es ist ganz das nämliche.«
Die Matrosen sahen sich einander an, ohne dass sie zu antworten wagten.
»Mensch oder Hund«, brummte Pen zwischen den Zähnen, »ich versichere euch, dem Tier wird einmal widerfahren, was ihm gebührt.«
»Seht doch, Clifton«, fragte Bolton ernstlich, »meinst du, wie Johnson scherzend gesagt hat, dieser Hund sei der wahre Kapitän?«
»Gewiss«, erwiderte Clifton mit Überzeugung; »und verständet ihr zu beobachten wie ich, so würdet ihr schon das seltsame Benehmen des Tieres wahrgenommen haben.«
»Welches? Lass hören, rede!«
»Habt ihr nicht gesehen, wie er auf dem Hinterverdeck einherspaziert mit einer Amtsmiene, und besieht sich das Segelwerk des Schiffes, als gehöre er zur Wache?«
»Ja, so ist’s«, sagte Gripper; »und sogar habe ich ihn eines Abends überrascht, wie er die Pfoten am Steuerruder hatte.«
»Nicht möglich!« sagte Bolton.
»Und jetzt«, fuhr Clifton fort, »verlässt er sogar nachts das Schiff, um auf den Eisfeldern zu wandeln, ohne sich weder um Bären noch um die Kälte zu kümmern.«
Kapitän Hund
»Ganz richtig, so ist’s«, sagte Bolton.
»Seht ihr, wie das Tier als ein braver Hund die Gesellschaft der Menschen sucht, um die Küche herumschleicht, und blickt mit zärtlichen Augen nach Meister Strong, wenn er dem Kommandanten einen guten Bissen überbringt? Hört ihr ihn nicht, wenn er nachts zwei bis drei Meilen vom Schiff sich entfernt und heult, dass es einem kalt über den Rücken läuft? Endlich, habt ihr jemals gesehen, wie das Tier seine Nahrung zu sich nimmt? Er nimmt nichts persönlich; sein Fressen ist stets unberührt; und sofern nicht eine geheime Hand ihn nährt, darf ich sagen, das Tier lebe, ohne zu essen. Nun, wenn das nicht fantastisch ist, bin ich nur ein Stück Vieh.«
»Meiner Treu«, erwiderte der Zimmermann Bell, welcher zugehört hatte, »das könnte wahrlich der Fall sein!«
»Kurz«, fragte Bolton, »wohin fahren wir mit dem Forward?«
»Ich weiß nicht«, erwiderte Bell, »zu einer bestimmten Zeit wird Richard Shandon die Ergänzung seiner Instruktionen erhalten.«
»Aber durch wen?«
»Durch wen?«
»Ja, wie?« sagte Bolton dringend.
»Nun, Bell, eine Antwort!« fielen die anderen Matrosen ein.
»Durch wen? Wie? Ja, das weiß ich nicht«, entgegnete der Zimmermann.
»Ei! Durch den Kapitän Hund«, rief Clifton. »Er hat ja schon einmal durch diesen einen Brief geschickt, so kann er es auch wieder machen. Wüsste ich nur die Hälfte von dem, was das Tier weiß, so würde ich zum Lord-Admiral taugen.«
»Also«, versetzte schließlich Bolton, »du hältst fest daran, dass dieser Hund der Kapitän ist?«
»Ja, wie gesagt.«
»Nun«, sagte Pen halblaut, »wenn das Tier nicht sein Hundsfell sprengen und Mensch werden will, werde ich ihm zu schaffen machen.«
»Und weshalb?« fragte Garry.
»Weil mir’s beliebt«, erwiderte Pen brutal, »ich habe keinem Menschen darüber Rechenschaft zu geben.«
»Nun genug geplaudert, Kinder«, rief Meister Johnson, und machte damit zu rechter Zeit einem Gespräch ein Ende, das eben eine üble Wendung nahm. »An die Arbeit, und rasch die Sägen bereit gemacht, wir müssen durch die Eisdecke hindurch!«
»Gut!« erwiderte Clifton mit Achselzucken. »Sie werden sehen, dass man so leicht nicht den Polarkreis überschreitet!«
Wie dem auch sein mag, die Anstrengungen der Mannschaft waren im Laufe dieses Tages, freitags, ohne hinreichenden Erfolg. Obgleich der Forward mit voller Dampfkraft wider die Eisberge anfuhr, gelang es ihm nicht, sie zu trennen; man musste während der Nacht sich festankern.
Am Samstag wurde infolge eines Ostwindes die Temperatur noch niedriger; das Wetter hellte sich auf, und der Blick konnte weithin über die weißen Ebenen schweifen, welche durch den Reflex der Sonnenstrahlen blendend wurden. Um sieben Uhr vormittags zeigte das Thermometer acht Grad unter Null (-21° hundertteilig).
Der Doktor war versucht, ruhig in seiner Kabine zu bleiben und Reisebeschreibungen nach dem Polarmeer zu lesen, aber er fragte sich, seiner Gewohnheit nach, was ihm in diesem Augenblick am unangenehmsten zu tun sein würde. Die Antwort war, bei diesem Kältegrad sich auf das Verdeck zu begeben und der Mannschaft zu helfen, wäre nicht sehr erquicklich. Daher verließ er, treu an seiner Regel festhaltend, seine wohlgeheizte Kabine und half mit beim Fortbringen des Schiffes. Er sah hübsch aus mit seiner grünen Brille, vermittels welcher er seine Augen gegen den Reflex der Sonnenstrahlen schützte; und bei seinen künftigen Untersuchungen war er stets sorgfältig mit Schneebrillen versehen, um Augenkrankheiten zu vermeiden, welche unter diesen hohen Breiten sehr häufig vorkommen.
Gegen Abend war der Forward einige Meilen nördlich vorwärtsgekommen, dank der Tätigkeit der Leute und der Geschicklichkeit Shandons, der gewandt alle günstigen Umstände zu benutzen wusste; um Mitternacht kam er über den sechsundzwanzigsten Breitengrad, und da die Sonde dreiundzwanzig Ellen Tiefe ergab, erkannte Shandon, dass er sich über dem niedrigen Grunde befand, worauf die Victoria sitzengeblieben war. Dreißig Meilen östlich war man dem Lande nahe.
Nun aber spaltete sich die bisher unbewegliche Eismasse und setzte sich in Bewegung; die Eisberge schienen auf allen Seiten am Horizont aufzuwachsen; die Brigg befand sich also zwischen einer Reihe schwimmender Klippen, welche mit unwiderstehlicher Gewalt zertrümmern; die Lenkung ward sehr schwierig für Garry, den besten Steuerer, am Ruderstock; die Berge drohten sich hinter der Brigg wieder aneinanderzuschließen. Durch diese Eisflotte musste man notwendig hindurch, und Klugheit wie Pflicht befahl, vorwärtszudringen. Die Schwierigkeiten wuchsen noch dadurch, dass es Shandon unmöglich ward, inmitten dieser wechselnden Punkte, welche die Stelle änderten und keine feste Perspektive gewährten, die Richtung des Schiffes zu bestimmen.
Die Mannschaft war in zwei Reihen auf der rechten und linken Seite des Schiffes verteilt; jeder derselben hatte eine lange Stange mit eiserner Spitze, um die allzu bedrohlichen Eisblöcke zurückzustoßen. Bald geriet der Forward in eine so enge Gasse zwischen zwei hohen Blöcken, dass die Enden seiner Stengen1 an den Wänden rieben, die so hart wie Felsen waren; allmählich befand er sich mitten in einem gewundenen Tal voll wirbelndem Schneegestöber, während die schwimmenden Eisblöcke widereinander stießen und mit unheimlichem Krachen zerbröckelten.
Aber bald stellte sich’s heraus, dass diese Gasse ohne Ausgang war; ein enormer Block, der in diese Enge geraten war, trieb rasch auf den Forward zu; ihm auszuweichen schien unmöglich, und ebenso unmöglich auf einem bereits versperrten Weg rückwärts zu fahren.
Shandon und Johnson erwogen, vorn auf der Brigg stehend, ihre Lage. Der erstere gab mit der rechten Hand dem Steuerer die Richtung an, welche zu nehmen war, und mit der Linken ließ er dem neben dem Ingenieur stehenden James Wall seine Befehle für Leitung der Maschine zugehen.
»Wie wird das enden?« fragte der Doktor Johnson.
»Wie es Gott fügt«, erwiderte der Rüstmeister.
Der hundert Fuß hohe Eisblock war nur noch eine Kabellänge von der Forward entfernt und drohte ihn zu zerbröckeln.
»Donner und Teufel!« fluchte Pen.
»Stille!« rief eine Stimme, die man im Sturm nicht zu erkennen vermochte.
Der Block schien auf die Brigg stürzen zu wollen, und es entstand einen Augenblick unbeschreibliche Angst; die Männer ließen ihre Stangen und flüchteten trotz der Befehle Shandons aufs Hinterteil.
Plötzlich vernahm man ein erschreckliches Getöse; eine wirkliche Trombe2 fiel auf das Verdeck des Schiffes, das von einer ungeheuren Woge emporgehoben wurde. Die Mannschaft stieß einen Schrei des Entsetzens aus, während Garry am Steuer den Forward trotz seinem erschrecklichen Gieren in guter Richtung hielt.
Und als nun die erschrockenen Blicke sich auf den Eisberg richteten, war dieser verschwunden; die Fahrt war frei, und es war der Brigg über einem langen, von schiefen Sonnenstrahlen erhellten Kanal hinaus weiterzufahren gestattet.
»Nun, Herr Clawbonny«, sagte Johnson, »können Sie diese Erscheinung erklären?«
»Es ist eine sehr einfache Sache, Freund«, erwiderte der Doktor, »und die oft vorkommt. Wenn zurzeit des Tauwetters diese schwimmenden Massen sich voneinander lösen, treiben sie isoliert und in völligem Gleichgewicht; aber allmählich, wenn sie südlicher in ein verhältnismäßig wärmeres Wasser kommen, fängt ihre durch das Anstoßen an andere Blöcke bereits erschütterte Basis an zu schmelzen, schwächer zu werden; es kommt daher ein Moment, wo der Schwerpunkt dieser Massen sich ändert, dann purzeln sie zusammen. Wenn nun dieser Eisberg zwei Minuten später gestürzt wäre, so wäre er über die Brigg gefallen und hätte sie im Fallen zerschmettert.«
1 Spenge: Verlängerung des Mastes <<<
2 Eine bestimmte Art von Wirbelstürmen. <<<
Endlich war man über den Polarkreis hinaus; der Forward fuhr am 30. April zu Mittag vor Holsteinborg vorüber; malerische Gebirge erhoben sich am östlichen Horizont. Das Meer schien, sozusagen, frei von Eis, oder vielmehr man konnte den Eisblöcken leicht ausweichen. Der Wind schlug um in Süd-Ost und die Brigg fuhr mit vollen Segeln das Baffins-Meer hinein.
Dieser Tag war ganz besonders ruhig und die Mannschaft konnte sich ein wenig erholen; zahlreiche Vögel schwammen und flatterten um das Schiff herum.
An diesem Tag begab sich an Bord ein ganz außerordentliches Ereignis.
Als Richard Shandon um sechs Uhr früh von seiner Wache zurück in seine Kabine kam, fand er auf seinem Tisch einen Brief mit der Aufschrift:
»An den Kommandanten Richard Shandon an Bord der Forward, Baffins-Meer.«
Shandon konnte seinen Augen nicht trauen; aber bevor er von dieser auffallenden Korrespondenz Kenntnis nahm, ließ er den Doktor, James Wall und den Rüstmeister rufen und zeigte ihnen denselben.
»Das wird etwas ganz Besonderes«, sagte Johnson.
»Das ist reizend!« dachte der Doktor.
»Schließlich«, rief Shandon, »werden wir doch das Geheimnis erfahren …«
Er zerriss rasch den Umschlag und las wie folgt:
»Kommandant!
Der Kapitän der Forward ist zufrieden mit der Kaltblütigkeit, Geschicklichkeit und dem Mut, welchen Sie mit Ihren Offizieren und Ihrer Mannschaft unter den letzten Umständen gezeigt haben; er bittet Sie, der Mannschaft seinen Dank dafür auszusprechen.
Wenden Sie sich nun gerade nördlich zur Bai Melville, und von da aus bemühen Sie sich in die Straße Smith zu dringen.
Der Kapitän des Forward.
K. Z.
Montag, den 30. April, dem Kap Walsingham gegenüber.«
»Und nichts weiter?« rief der Doktor.
»Nichts weiter«, erwiderte Shandon.
Der Brief fiel ihm aus der Hand.
»Ei!« sagte Wall. »Dieser eingebildete Kapitän spricht kein Wort mehr davon, an Bord zu kommen; ich schließe daraus, dass er nie kommen wird.«
»Aber«, sagte Johnson, »wie ist denn dieser Brief angekommen?«
Shandon schwieg.
»Herr Wall hat recht«, erwiderte der Doktor, der den Brief aufhob und um und herum drehte; »der Kapitän wird nicht mehr an Bord kommen aus trefflichem Grund …«
»Und aus welchem?« fragte Shandon lebhaft.
»Weil er bereits da ist«, erwiderte einfach der Doktor.
»Bereits!« rief Shandon. »Was meinen Sie damit?«
»Wie ist sonst zu erklären, dass dieser Brief kam?«
Johnson schüttelte den Kopf zum Zeichen der Beistimmung.
»Nicht möglich!« versetzte Shandon nachdrücklich. »Ich kenne jeden einzelnen Mann an Bord; man müsste denn annehmen, der Kapitän befinde sich seit der Abfahrt des Schiffes unter denselben? Das ist nicht möglich, sag’ ich Ihnen! Es ist kein einziger darunter, den ich nicht seit länger als zwei Jahren hundertmal zu Liverpool gesehen hätte; Ihre Vermutung, Doktor, darf man nicht gelten lassen!«
»Was lassen Sie also gelten, Shandon?«
»Alles, dies ausgenommen. Ich nehme an, dass der Kapitän oder ein Mann, der ihn vertritt – was weiß ich? – die Dunkelheit, den Nebel benutzen konnte, um im Stillen an Bord zu kommen; wir sind nicht weit vom Land entfernt; die Eskimos haben Kajaks, die unbemerkt zwischen den Eisblöcken durchfahren; es war demnach möglich, dass jemand bis zum Schiff kam und diesen Brief einhändigte … der Nebel war ziemlich stark, um den Plan auszuführen …«
»Und auch um zu hindern, dass man die Brigg sah«, erwiderte der Doktor; »haben wir nicht gesehen, wie ein Fremder sich an Bord schlich, wie hätte dieser im dichten Nebel den Forward erkennen können?«
»Das ist sonnenklar«, sagte Johnson.
»Ich komme also auf meine Hypothese zurück«, sagte der Doktor. »Was meinen Sie, Shandon?«
»Alles was Sie wollen«, erwiderte Shandon hitzig, »nur nicht, dass dieser Mann sich an meinem Bord befinde.«
»Vielleicht«, fügte Wall bei, »befindet sich unter der Bemannung einer, der von ihm seine Instruktionen erhalten hat?«
»Vielleicht«, sagte der Doktor.
»Aber wer sollte das sein?« fragte Shandon. »Ich kenne alle meine Leute, sag’ ich Ihnen, und von lange her.«
»Jedenfalls«, fuhr Johnson fort, »wenn dieser Kapitän erscheint, Mensch oder Teufel, wird man ihn empfangen; aber man kann aus diesem Brief noch weitere Auskunft schöpfen.«
»Und welche?« fragte Shandon.
»Dass wir nämlich nicht bloß in die Melville-Bai, sondern auch in den Smith-Sund fahren sollen.«
»Sie haben recht«, erwiderte der Doktor.
»Den Smith-Sund«, versetzte Richard Shandon mechanisch.
»Es ist also klar«, fuhr Johnson fort, »dass der Forward nicht die Bestimmung haben kann, die nordwestliche Durchfahrt zu suchen, denn wir sollen den einzigen Weg dahin, den Lancaster-Sund, links lassen. Daraus haben wir eine schwierige Fahrt in die unbekannten Nord-Meere abzunehmen.«
»Ja, der Smith-Sund«, erwiderte Shandon, »ist der Weg, welchen im Jahre 1853 der Amerikaner Kane einschlug, und mit welchen Gefahren. Lange hielt man ihn für verloren in dieser erschrecklichen Zone! Schließlich, weil es vorgeschrieben ist, wird man in den Sund fahren! Aber bis wohin? Etwa bis zum Pol?«
»Und warum nicht?« rief der Doktor.
Der Rüstmeister zuckte die Achseln.
»Endlich«, fuhr James Wall fort, »um auf den Kapitän zurückzukommen, wenn er existiert, so sehe ich an der Grönländischen Küste nur Disko oder Uppernawik, wo er uns erwarten könnte; in einigen Tagen werden wir also wissen, woran wir uns zu halten haben.«
»Aber«, fragte der Doktor, »werden Sie nicht der Mannschaft Kenntnis von diesem Brief geben?«
»Mit Erlaubnis des Kommandanten«, erwiderte Johnson, »ich würde es nicht tun.«
»Und weshalb?« fragte Shandon.
»Weil all dieses Außerordentliche, Fantastische geeignet ist, die Leute einzuschüchtern. Sie sind bereits sehr in Unruhe über das Schicksal einer so auftretenden Expedition. Wenn man sie nun zum Übernatürlichen hindrängt, so kann dies schlimme Folgen haben, und wir möchten im Moment der Gefahr nicht auf sie zählen können. Was sagen Sie dazu, Kommandant?«
»Und Sie, Doktor, was halten Sie davon?« fragte Shandon.
»Meister Johnson«, erwiderte der Doktor, »scheint mir verständig zu urteilen.«
»Und Sie, James?«
»Besseres vorbehalten«, versetzte Wall, »trete ich der Meinung dieser Herren bei.«
Shandon sann einige Augenblicke nach, las noch einmal achtsam den Brief.
»Meine Herren«, sagte er, »Ihre Ansicht ist gewiss gut, aber ich kann sie nicht teilen.«
»Und weshalb, Shandon?« fragte der Doktor.
»Weil in dem Brief förmlich vorgeschrieben ist, die Mannschaft von seiten des Kapitäns zu beglückwünschen; nun hab’ ich bisher stets blind seinen Befehlen gehorcht, in welcher Weise auch sie mir zugestellt wurden, und ich kann nicht …«
»Doch …«, versetzte Johnson, der mit Recht um die Wirkung besorgt war, welche dergleichen Mitteilungen auf den Geist der Matrosen haben würden.
»Wackerer Johnson«, entgegnete Shandon, »ich begreife, dass Sie darauf dringen, Ihre Gründe sind vortrefflich, aber lesen Sie:
Er bittet Sie, der Mannschaft seinen Dank dafür auszusprechen.«
»Nun so verfahren Sie demnach«, fuhr Johnson fort, der übrigens sonst strenge den Gehorsam zu wahren verstand. »Soll man die Mannschaft auf dem Verdeck versammeln?«
»Tun Sie das«, erwiderte Shandon.
Die Neuigkeit von einer Mitteilung des Kapitäns verbreitete sich augenblicklich an Bord. Die Matrosen kamen unverzüglich an den Platz für ihre Revue, und der Kommandant las laut den geheimnisvollen Brief.
Man hörte mit dumpfem Schweigen dem Verlesen zu; die Leute gaben sich tausend Vermutungen hin; Clifton konnte sich nun allen Abschweifungen seiner abergläubischen Fantasie überlassen; er schrieb dem Kapitän Hund seinen redlichen Anteil dabei zu und verfehlte nicht ihn zu grüßen, als er zufällig ihm in den Weg kam. Ein jeder war überzeugt, dass des Kapitäns Schatten oder Geist an Bord wachte; die Gescheitesten hüteten sich von nun an, ihre Vermutungen gegeneinander zu äußern.
Am 1. Mai ergab die Aufnahme zu Mittag 68° Breite und 56° 32' Länge. Die Temperatur war gestiegen, und das Thermometer zeigte fünfundzwanzig Grad unter Null (-4° hundertteilig).
Der Doktor hatte das Vergnügen zuzuschauen, wie eine weiße Bärin am Rande eines, längs der Küste schwimmenden Eisblocks mit zwei Jungen spielte. Er machte mit Wall und Simpson einen Versuch, in dem Boot Jagd auf sie zu machen; aber das eben nicht kampflustige Tier schleppte rasch seine Jungen mit sich fort, und man musste auf ihre Verfolgung verzichten.
Vom Wind begünstigt fuhr man während der Nacht ums Kap Chidley herum, und bald sah man am Horizont die hohen Berge von Disko sich erheben; rechts ließ man die Bai Godauhn, wo der Generalgouverneur der dänischen Niederlassungen residierte. Shandon hielt nicht für angemessen, sich hier aufzuhalten, und fuhr an den Piroguen der Eskimos, welche zu ihm zu gelangen bemüht waren, rasch vorüber.
Die Insel Disko heißt auch Walfischinsel. Von hier aus schrieb am 12. Juli 1815 Sir John Franklin zum letzten Mal an die Admiralität, und hier legte auch, am 29. August 1859, der Kapitän Mac Clintock bei seiner Rückkehr an, indem er die nur zu sichern Beweise vom Untergang dieser Expedition mitbrachte.
Bald verschwanden die Höhen von Disko vor den Blicken.
Es befanden sich damals zahllose Eisberge an den Küsten, welche auch das stärkste Tauwetter nicht loslösen kann; diese ununterbrochene Reihe von Bergspitzen zeigte die seltsamsten Formen.
Am folgenden Morgen gegen drei Uhr gewahrte man nordöstlich Sanderson Hope; das Land blieb etwa fünfzehn Meilen links liegen; die Berge schienen rötlich nussbraun gefärbt. Am Abend sah man einige Walfische von der Sorte, welche Flossen auf dem Rücken haben, mitten zwischen den Eisblöcken sich belustigen.
Während der Nacht vom 3. auf den 4. Mai konnte der Doktor zum ersten Mal die Sonne am Rande des Horizonts streifen sehen, ohne dass ihre leuchtende Scheibe untertauchte; seit 31. Januar hatten ihre Bahnkreise täglich zugenommen, und es herrschte jetzt ununterbrochene Tageshelle.
Für Zuschauer, die es nicht gewohnt sind, ist diese ununterbrochene Dauer des Tages etwas erstaunlich Merkwürdiges, das selbst beschwerlich wird; man kann kaum glauben, wie sehr die Dunkelheit nötig ist; es verursachte dem Doktor wirklichen Schmerz, um sich an dies fortwährende Licht zu gewöhnen, welches durch den Reflex der Strahlen auf den Eisebenen noch schmerzhafter blendete.
Am 5. Mai fuhr der Forward über den zweiundsiebzigsten Breitengrad. Zwei Monate später hätte er hier zahllose Walfischfahrer getroffen, welche in diesen hohen Strichen dem Fischfang obliegen; aber die Straße war noch nicht frei genug, dass diese Fahrzeuge es wagen konnten, ins Baffins-Meer zu dringen.
Am folgenden Morgen kam die Brigg, nachdem sie vor der Fraueninsel vorübergefahren, vor Uppernawik an, der nördlichsten Niederlassung Dänemarks an diesen Küsten.