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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2021 novum publishing

ISBN Printausgabe: 978-3-99107-394-9

ISBN e-book: 978-3-99107-395-6

Lektorat: Marie Schulz-Jungkenn

Umschlagfotos: Lembit Ansperi, Wektorygrafika, Joydong, Michał Rojek, Funkeyfactory | Dreamstime.com

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

Innenabbildungen: Jove Viller

www.novumverlag.com

EINLEITUNG
PROLOG

Teil 1
WÖRTER-DIEBE
Ich liebe Wörter, ich liebe es sie zu singen, zu sprechen und seit neustem liebe ich es auch, sie zu schreiben.
Anne Rice
Linz
1.
Über zwei Stunden Autofahrt habe ich schon hinter mir. Von Wien nach Linz, ganz schön weit. Ich fahre nicht oft so weit weg. Und wenn doch, nehme ich normalerweise den Zug. Das ist bequem und günstig und ich komme nicht so müde an. Aber diesmal ist es etwas anderes. Ich muss auf jeden Fall flexibel sein. Für den Fall, dass ich schnell wieder nach Hause will, darf ich einfach nicht abhängig sein von so banalen Dingen wie Zugabfahrtszeiten. Das Auto sollte in der Nähe sein, man weiß ja nie … Zwei Stunden Rückfahrt würde ich im Notfall schon schaffen.
Die ganze Fahrt hindurch denke ich an das, was da vor mir liegt. ‚Was machst du hier? Bist du total verrückt geworden? Da musstest du tatsächlich 50 Jahre alt werden, um dich auf so was einzulassen?‘ Ich war doch bisher immer die Vernünftige in der Familie. Immer schön brav Vorbild sein und vor allem anständig! Na gut, fast immer, um hier ehrlich zu bleiben … Das, was ich hier vorhabe, passt eigentlich ganz und gar nicht zu meinem Lebensbild. Aber die Neugier und die Spannung, die sich in den letzten Wochen, nein, Monaten aufgebaut hatten, haben gesiegt.
Etwas abgehetzt komme ich am Bahnsteig an. Mein Zeitmanagement ließ ein wenig zu wünschen übrig. Irgendwo musste ich mich verschätzt haben. Zum Schluss hatte ich noch einige Minuten vom Parkhaus zum Bahnsteig laufen müssen. Da stehe ich also. Aufgeregt wie ein Teenager, mein Herz schlägt bis zum Hals. Ob vor Aufregung oder vom Laufen, ist schwer zu sagen. Und jetzt habe ich noch genau fünf Minuten, bis der Zug kommt. Fünf Minuten – oh Gott! Werde ich ihn gleich erkennen? Ich habe ein paar Fotos und wir haben uns per Skype gesehen. Aber sieht er wirklich so aus? Wenn ja, brauche ich wahrscheinlich kein Fluchtauto. Dann werde ich sowieso schwach … Ich darf gar nicht an seine angenehme Stimme denken mit diesem süßen kölschen Akzent. Nein, ich habe mich bestimmt nicht in ihm getäuscht! Das werden die zwei schönsten Tage seit Langem! Für uns beide! Ich weiß es!
Im Lautsprecher ertönt die Ansage, gleich wird der Zug einfahren! Ist er auch so aufgeregt wie ich? Oder ist er ganz gelassen, weil er so was öfter macht? Nein, auf keinen Fall! Oje, wie sehe ich eigentlich aus? Abgehetzt? Vom Winde verweht? Es ist ein regnerischer Tag und der Wind war entsetzlich gewesen. Zu spät für einen Spiegel, am Horizont taucht der Zug auf. Und irgendwie denke ich nur mehr: „Endlich!“ Seit Wochen warten wir auf diesen Moment!
Langsam fährt der IC aus Würzburg ein, mein Blick streift über die Fenster, eines nach dem anderen. Es ist viel los in dem Zug. Offenbar wollen noch mehr Leute aus Deutschland unser schönes Österreich besuchen! Und dann sehe ich ihn! Er steht an der Tür und hat mich auch schon erkannt. Wir sehen uns nur einen Augenblick an, dann steigt er aus und kommt auf mich zu. In diesem Moment empfinde ich ein Gefühl von Nach-Hause-Kommen. Ich will ihm so viel sagen:
‚Endlich bist du da! Ich warte schon so lang auf dich!‘ Aber ich kann es nicht. Ich sage gar nichts, genieße nur den Moment. Sein Gesicht ist mir so vertraut, als hätte ich es bisher nicht nur beim Skypen auf dem Bildschirm gesehen. Ich habe sofort das Gefühl, wir kennen uns ewig. Da weiß ich es! Ich hätte auch mit dem Zug kommen können. Ich denke, wir werden beide bleiben, zumindest einmal bis morgen …
2.
Ganz schön lang, so eine Zugfahrt von Würzburg nach Linz. Fast vier Stunden. Aber was soll’s, jetzt habe ich mich schon ein paar Wochen auf dieses erste Treffen gefreut, da kann ich auch die paar Stündchen im Zug noch absitzen. Wie wird das sein, wenn ich sie zum ersten Mal live erlebe? Ihre Stimme kenne ich schon vom Telefon und ihre blauen Augen habe ich auf Bildern gesehen, die wir getauscht haben, und als wir letzte Woche mal geskypt haben. Sind die wirklich so strahlend? Werden wir uns auf dem Bahnsteig umarmen? Vielleicht vorsichtig küssen? Keine Ahnung. Das ist ein komisches Gefühl, jemanden zum ersten Mal zu treffen, den man übers Internet kennengelernt hat. Nicht, was Sie jetzt denken, keine Dating-Plattform. Nein, wir haben letztes Jahr angefangen, zusammen Wordox zu spielen. Das ist ein Spiel für zwei Personen, so ähnlich wie Scrabble, man muss auf einem schachbrettartigen Spielfeld Wörter bilden aus sechs vorgegebenen Buchstaben. Dabei kann man die Wörter des anderen ergänzen oder komplett benutzen, also z. B. einer schreibt: DIEB und man bekommt in seiner Buchstabenvorgabe unter anderem ein E und ein N. Also kann man das Wort DIEB ergänzen und DIEBEN daraus machen. Damit stiehlt man dem anderen vier Buchstaben und bekommt selbst sechs Punkte. Wer zuerst 25 Punkte erreicht, hat das Spiel gewonnen. So hatten wir beide auch mal angefangen, bis es mir zu dumm wurde, dauernd zu verlieren, und ich per Chat in dem Programm an sie geschrieben habe: „Kannst du mich auch mal gewinnen lassen?“ Frech schrieb sie zurück: „Nö, wieso?“ Das stachelte mich natürlich an und ich versuchte fortan, ihr möglichst viele Buchstaben zu stehlen, denn der Untertitel des Spiels lautet: Der Wörterdieb.
Aber nun hatten wir einmal angefangen mit dem Chat und bauten das aus. Morgens ein fröhliches „Guten Morgen ;-)“ oder abends ein müdes „Gute Nacht ;-)“ waren die ersten zaghaften Botschaften, die wir austauschten. In den folgenden Monaten waren die Dialoge umfangreicher und wir hatten auch begonnen, in WhatsApp zu schreiben, weil die Buchstabenübertragung in Wordox limitiert ist und der Chat nach dem Ende eines Spiels verschwindet. So lernten wir uns näher kennen. Ich musste passen, als ich sie nach ihrem Wohnort fragte, und sie sagte: „im Marchfeld.“ Das hatte ich noch nie gehört und damit war für sie klar, dass ich nicht aus Österreich komme. Irgendwann hatten wir dann auch mal per WhatsApp telefoniert und sie sagte zu mir: „Deine Sprache klingt wie die in den Karnevalssitzungen aus Köln.“ Kein Wunder, denn da komm ich ja her. Mein Akzent lässt sich nicht verleugnen, den hört man sogar durch, wenn ich Englisch oder Französisch spreche. Aber was soll’s, der Kabarettist Konrad Beikircher sagt das so: „Der Rheinländer an für sich ist ja von Natur aus Katholik, also quasi Chromosomonal-Katholik. Er ist Katholik in der barock-franziskanischen Ausgabe und das hört man auch sofort. Er wird immer von ‚unserem Herrjott‘ sprechen, so als ob der nur für den Rheinländer geschaffen wäre.“ Aber das ist ein anderes Thema. Jetzt war ich als Rheinländer mit Zwischenstopp bei meinen Kindern in Würzburg auf dem Weg nach Linz (nicht Linz am Rhein, sondern an der Donau), und dort sollte ich also eine Frau treffen, die ich über Wordox kennengelernt habe. Wie wird das sein? Was werden wir machen? Gut, ich hatte ein Hotelzimmer für uns beide reserviert, und das aber nur für eine Nacht, man weiß ja nie. Kann sein, dass wir beide oder einer von uns danach oder dazwischen oder schon gleich sagt: das war wohl nix.
Jetzt hielt der Zug grad in Passau. Also nur noch weniger als zwei Stunden, dann werde ich sie sehen.
‚Sie will mich am Bahnsteig erwarten. Habe ich eine Chance, sie vorher aus dem Fenster zu sehen? Will ich vielleicht weiterfahren, wenn ich sie entdecke? Glaub ich nicht. Ich denke, ich werde freudestrahlend aussteigen und sie in den Arm nehmen. Und dann? Ja, was dann? Was werden die ersten Worte sein, die wir miteinander wechseln, so von Angesicht zu Angesicht? Wenn doch nur der Zug endlich da wäre. Ich freue mich schon sehr, sie endlich live zu erleben.‘ Wochenlang hatten wir uns das Treffen vorgestellt, hatten Linz als Ort ausgemacht, der für uns beide gut erreichbar ist. Ehrlich gesagt, hatte ich mir nachts auch schon mal vorgestellt, wie es mit uns im Bett sein würde. ‚Geht das überhaupt? Schließlich bin ich schon 62 und verheiratet. Kann ich das weiter meiner Frau gegenüber geheim halten? Werde ich sie wiedersehen wollen? Oder sie mich? So viele Fragen. Ich glaub, ich mach die Augen zu und versuche, ein wenig zu schlafen. Aber vorher noch schnell den Wecker stellen am Handy auf 15:30 Uhr, dann hätte ich noch ca. 15 Minuten bis zur Ankunft.‘
Im Traum kommt sie mir entgegen, und das nicht am Bahnsteig, sondern zu Hause in Köln in der Schildergasse, also in der Fußgängerzone. Da wachte ich erschrocken auf. ‚Wie soll das gehen? Da könnten wir entdeckt werden. Ich hab das Gefühl, ich muss umdrehen. Wie viel Zeit ist noch? Der Zug hält in Wels Hbf. Kann man hier aussteigen und zurückfahren? Ach Quatsch. Wer A sagt muss auch ankommen. Morgen fahre ich ja eh wieder zurück. Also die letzten 20 Minuten schaffe ich auch noch.‘
Dann fuhr der Zug in Linz ein und ich guckte aus dem Fenster. Plötzlich sah ich sie. Erwartungsvoll schaute sie zu den Zugfenstern. ‚Hat sie mich entdeckt?‘ Auf alle Fälle blickte ich in ihre Augen und die waren noch viel blauer, als ich sie nach dem Skypen in Erinnerung hatte. Ich könnte jetzt sofort darin eintauchen wie in die Fluten des Mittelmeers. Ihre blonden Locken wehten im Wind und sie suchte offensichtlich die Fenster ab, um mich zu entdecken. Das Blau ihrer Augen war das gleiche, wie das in ihrem Halstuch. ‚Wat für e lecker Mädche‘, dachte ich bei mir. ‚Ist Blau wohl ihre Lieblingsfarbe, so wie meine?‘ Jetzt aber schnell meinen Koffer gegriffen und raus aus dem Zug. Da sah sie mich, aber sie schritt nur ganz langsam auf mich zu. ‚Hat sie die gleiche Furcht wie ich?‘ Egal, jetzt hin zu ihr und sie in die Arme schließen ist das, was ich jetzt tun wollte und auch machte. Gut fühlte sich das an. Und alle Angst war weg, aber keiner von uns sagte was. Wir hielten uns nur fest.
3.
Das Hotel ist nicht sehr weit weg vom Bahnhof. Für die Fahrt brauchen wir etwa so lang wie für den Fußweg zu meinem Auto. Ich bin so aufgeregt, dass ich kaum ein Wort herausbringe. Ich glaube nicht, dass ich vorher jemals so sprachlos war. Aber viel beredter ist mein Begleiter auch nicht, was mich ein bisschen beruhigt. So muss es mir nicht peinlich sein.
Als klar ist, dass der Regen nicht so schnell aufhören würde, beschließen wir, zuerst unsere Sachen ins Hotel zu bringen und nachher spazieren zu gehen. Wir würden sicher ein nettes Café finden, in dem wir ein bisschen plaudern könnten und sehen, ob wir im wirklichen Leben auch diese Harmonie spüren, die uns bei unserer bisherigen Konversation so fasziniert hat.
Das trübe Wetter ist schon etwas enttäuschend, sind wir uns gleich einig. Ein paar Sonnenstrahlen hätten Linz in ein ganz anderes Licht getaucht. Aber was will man erwarten, wenn gerade der Jänner zu Ende gegangen ist? Auf den Frühling müssen wir noch warten. Und wer weiß, was bis dahin noch kommen wird.
Während wir so mit unserem Gepäck durch den Regen stapfen, rasen die Gedanken in meinem Kopf.
‚Wahnsinn, wir haben es tatsächlich getan! Wir sind hier – gemeinsam! Aber ist es richtig, was wir hier tun? Ich meine, ich bin ja nicht gebunden … aber er ist nicht frei! Nein, halt, lass diese Gedanken! Wir haben es vorher genau besprochen. Egal, was hier passieren wird, er wird seine Ehe nicht aufgeben und ich will das auch gar nicht. Wir hatten beide schon sehr lang keine körperlichen Begegnungen und haben einfach das Gefühl, dass wir uns viel geben können. Das ist alles. Und das bleibt es auch!‘
Wenn ich ihn ansehe und er meinen Blick erwidert, kann ich förmlich fühlen, dass er das Gleiche denkt. ‚Diese Augen, wie er mich anschaut! Das geht durch und durch. Wann wurde mir zum letzten Mal heiß, als mich ein Mann ansah? Gott, war das lang her!‘ Und dann folgt der erste wirklich peinliche Moment! Ich finde mein Auto nicht! In Ermangelung jedes Orientierungssinnes muss ich mir immer genau einprägen, wo ich mein Gefährt abstelle. Besonders in fremden Parkgaragen. Das hatte ich auch diesmal getan, aber jetzt muss mir die Aufregung einen Streich spielen! Zuerst versuche ich, meine Unsicherheit zu überspielen, und tue noch so, als ob ich sicher wäre. Doch irgendwann ist es offensichtlich: Ich suche …
„Das gibt’s doch nicht, hier muss es irgendwo sein! Ganz sicher!“ Er fragt: „Welche Farbe hat es denn? Und welche Marke?“ „Es ist ein kleiner blauer Toyota, wahrscheinlich versteckt er sich hinter irgendeinem großen Auto!“ Er wirkt sehr gelassen, als er mir so zusieht beim Verzweifeln. Wahrscheinlich habe ich schon richtig rote Wangen, als ich auf den Schlüssel drücke und ein Stück weiter vorn die gelben Lichter blinken. Ich muss also nur ein kleines Stück weiter gehen … Er ist sehr höflich und meint, das könnte doch jedem passieren, das wäre kein Problem. „Wir haben es ja gefunden!“
Mittlerweile bereits leicht aufgewühlt und mit den Gedanken schon halb im Hotelzimmer, nehme ich am Fahrersitz Platz. Ich habe die Adresse des Hotels ins Navi eingegeben und los geht’s. Diese kurze Fahrt werde ich in meinem Leben nie vergessen, denn danach würde ich am liebsten im Erdboden versinken. Ich kann mich überhaupt nicht auf die Straße konzentrieren. Meine Bewegungen kommen mir unkontrolliert vor und fahrig. Ich habe scheinbar kein Gefühl beim Bremsen und sogar das Getriebe schickt einmal liebe Grüße. Ich weiß, wir sind gleich am Ziel, da übersehe ich an einem Zebrastreifen auch noch zwei Frauen, die die Straße überqueren wollen. Im Augenwinkel nehme ich sie gerade wahr, als mein geduldiger Beifahrer „Achtung!“ ruft. Im selben Moment bringe ich den Wagen mit einem ungemütlichen Ruck zum Stillstand. Die beiden Damen bleiben auch abrupt stehen. Ich glaube, ich habe sie erschreckt … Das ist der Moment, wo ich denke, das wird heute nichts mehr. Der Mann muss ja denken, ich bin völlig unfähig! So ein erster Eindruck war wirklich das Letzte, was ich hinterlassen wollte! Zwei Minuten später sind wir in der Parkgarage des Hotels, auf dem Weg zur Rezeption.
4.
Die freundliche junge Dame namens Stefanie Kammermeyer an der Rezeption des Hotels am Schillerpark fragte nach meinem Namen und ich sagte: „Max Mayer, ich habe ein Doppelzimmer für eine Nacht reserviert.“ Daraufhin fand sie meine Reservierung sehr schnell und fragte nach unseren Ausweisen. Dann las sie unsere Namen laut vor: „Herr Maximilian Heinrich Mayer und Frau Marlene Huber, richtig?“ Und ich sage zu Leni: „Marlene, echt? Ich hätte auf Helene getippt.“ Frau Kammermeyer rollte die Augen und meinte: „So lang kennen Sie sich noch net, oder?“ Ich werde selten verlegen, aber hier liefen sowohl Leni als auch ich rot an. Frau Kammermeyer ging aber auf das Thema nicht näher ein, sondern notierte unsere Daten in ihrem Computer und gab uns eine Codekarte für Zimmer 402. „Können wir bitte eine zweite Karte bekommen?“, fragte Leni. So ganz sicher schien sie sich nicht zu sein, dass das, was wir hier machen, richtig ist. Schön, das zu erkennen, mir ging’s ja auch so. So eine Internetbekanntschaft treffe ich ja auch nicht alle Tage.
Wir fuhren also mit unseren Rollköfferchen mit dem Aufzug in den vierten Stock und fanden recht schnell unser Zimmer. Ich schloss auf und ließ Leni den Vortritt. Im Zimmer sagte ich zu ihr: „Das war ja peinlich grad unten an der Rezeption, oder?“ Sie schaute mich an, lachte und sagte: „Ja, scheinbar für uns beide.“ Ich: „Aber für die Dame am Empfang noch mehr, finde ich.“ Und wir lachten beide über diesen kleinen Fauxpas. Das war Anlass genug für mich, Leni mal richtig in den Arm zu nehmen, ihr tief in die Augen zu schauen und darin die Aufforderung zu sehen: „Küss mich, Blödmann.“ Das machte ich dann auch ausgiebig und war ganz hin und weg. So hatte mich schon lange niemand mehr geküsst. Ich konnte meine Lippen und meine Zunge gar nicht mehr von ihr lassen. Das machte echt Lust auf mehr. Aber dann musste ich mal Luft holen und sagte: „Lass uns doch erst mal auspacken und dann vielleicht eine Runde spazieren gehen, auch wenn das in dem Regen kein großes Vergnügen sein wird.“ Komisch war, dass das Auspacken und Einräumen dann fast wortlos passierten, so als hätten wir das schon oft zusammen gemacht. Woher kam dieses blinde Verständnis? Plötzlich fragte Leni: „Sag mal, den Maximilian kann ich ja zuordnen, aber wieso hast du auch noch Heinrich als Vornamen?“ „Ach das ist mein verstorbener Patenonkel, ein Bruder meiner Mutter. Damals war das bei uns noch so üblich. Macht ihr das in Österreich nicht? Wie kamen deine Eltern auf Marlene? Ich hatte Leni mit Helene verknüpft, wie du unten schon gehört hast.“ „Hihi, meine Großmutter mütterlicherseits hieß so, also sind die Sitten in Deutschland und Österreich doch nicht so verschieden.“ Ich sagte nichts und dachte, mal sehen, wie es mit den anderen Sitten bei uns beiden bestellt ist ...
5.
Langsam beginnen wir zu spüren, dass uns das Gefühl nicht getäuscht hat. Da war von Anfang an etwas, was nicht zu erklären ist. Ein wohlig vertrautes Gefühl bei jedem Blick, bei jedem Wort. Irgendwie nicht von dieser Welt. Wenn ich in Büchern darüber gelesen habe, dachte ich immer, wie schön es sei, dass Menschen so viel Fantasie haben. Kitschige Liebesszenen in Filmen, alles wunderschön, aber unwirklich. Und plötzlich tauchen da Gefühle auf, die ‚Dirty Dancing‘ und Co. in mattem Licht erscheinen lassen.
Genau genommen begann das schon, als mir sein Foto auffiel, während ich mir Spielpartner für die neue Wordox-Challenge aussuchte. Eigentlich wählte ich gar nicht nach Fotos aus, sondern nach dem Spiellevel. Man will ja schließlich nicht nur verlieren. Ich scrollte die Galerie entlang, da stolperte ich quasi über dieses Foto. Das verschmitzte Lächeln hatte mich gleich gefangen. „Max M.“ stand darunter. Ich fand, der Name passt! Er war einen Level höher als ich. Daher scrollte ich weiter. Beim Zurückscrollen betrachtete ich das Bild genauer. Ich wusste selber nicht, warum. Darauf war zu erkennen, dass es ein Urlaubsfoto sein konnte. Der Hintergrund fremdländisch, Sonnenbrille … und dazu, wie ich fand, ein sehr freundliches, ansprechendes Gesicht. Als ich alle Spielpartner und -partnerinnen ausgewählt hatte, kam ich noch mal zurück zu dem freundlichen Max. Ich sagte zu mir: „O. k., du spielst auch mit!“, und klickte einfach auf „Einladen“. Und es hatte gar nicht lang gedauert, da hatte er meine Einladung angenommen …
So, und jetzt, drei Monate später, sind wir hier in diesem Hotelzimmer, die Aufregung und die Spannung haben mich voll im Griff. ‚Wird er mich jetzt in den Arm nehmen?... Und küssen?... Endlich?‘... Ja! ... Seine starken Arme halten mich fest und ich kann die Umarmung nur erwidern. Ich habe weiche Knie wie damals mit 17 bei meinem ersten Kuss. Wir küssen uns und es ist genau so, wie ich es so oft geträumt hatte. So viel Zärtlichkeit und Gefühl liegt darin, wie ich es noch bei keinem Mann erlebt habe. Das ist gefährlich, denke ich. Es darf doch nicht zu nah werden …
Noch haben wir aber unsere Sinne unter Kontrolle. Wir haben doch den ganzen Abend vor uns und wir wollen noch ein wenig spazieren gehen. Kaffee wäre jetzt auch nicht schlecht und irgendwann werden wir sicher Hunger bekommen. Also würde das andere Verlangen noch ein bisschen verdrängt werden. So viel Geduld musste sein!
Sogar beim Auspacken unserer Taschen ist schon eine Gemeinsamkeit zu spüren, die ich so noch nicht kenne. Als hätten wir das schon hundertmal zusammen gemacht. Wir sind uns sofort einig, wo jeder seine Sachen unterbringt, wer welche Seite im Bad bezieht und auch im Bett. Ich meine natürlich, wer später auf welcher Seite liegen wird …
In ein paar Minuten ist das also erledigt und wir sind bereit, Linz unsicher zu machen. Das ist angesichts des miserablen Wetters nicht sehr aufregend. Sehr wohl aufregend ist es allerdings, mit Max unter dem Regenschirm zu gehen. Bei ihm ordentlich untergehakt, genieße ich den Augenblick. Ich spüre seinen starken Arm und hoffe, dass es ihm so gut gefällt wie mir, Regen hin oder her. Irgendwie habe ich schon das Gefühl, dass es so ist. Und mittlerweile wundert es mich nicht mehr, dass wir uns auch sofort für das gleiche Café entschieden haben.
6.
Unter dem Schirm mussten wir uns zwangsläufig einhaken, aber ich tat das gern. Leni kuschelte sich nah an mich und ich empfand das als sehr wohltuend. Ehrlicherweise müsste ich zu ihr sagen, du kannst gern länger so in meinem Arm bleiben und ich freue mich, dich später noch näher zu erleben. Aber ich sagte es nicht. Spürte sie das auch? Der Regen und meine nassen Füße waren gar nicht mehr wichtig. Ich wollte nur noch bei und mit Leni sein. So wanderten wir also durch das verregnete Linz und nachdem wir beide trotz des Schirms ziemlich nass geworden waren, gingen wir, als wenn wir das beide schon geplant hätten, ins Café Opera auf der Landstraße. Für ein Abendessen war es noch zu früh, aber für einen Cappuccino und einen Kaffee (wie heißt der hier: Großer Brauner?) konnten wir uns erwärmen. „Magst du einen Kuchen dazu?“, fragte ich Leni, „Nur, wenn du auch einen nimmst.“ „Sollen wir uns ein Stück teilen, dann such du etwas aus.“ Leni ging zur Theke und kam zurück: „Ich hab einen Apfelstrudel bestellt, magst du den?“ „Im Moment mag ich eher dich, aber der Apfelstrudel wird vorerst auch gehen.“ Sie wurde rot.
„Sag, wie war denn eigentlich deine Fahrt hierher, hat es da auch die ganze Zeit geregnet?“, fragte ich Leni.
7.
Mit einem Schmunzeln im Gesicht sucht er einen Themenwechsel, um schnell von der letzten Aussage abzulenken, und fragt, ob es auf meiner Fahrt hierher auch geregnet hat. „Ja, aber erst in Oberösterreich. In Wien bin ich bei recht vielversprechendem Wetter losgefahren. Entlang der Westautobahn gibt es öfters Wetterwechsel. Da kannst du gern von allem was haben! Deshalb ist es bei mir auch ein bisschen knapp geworden, denke ich! ... Weißt du, dass ich jetzt sehr froh bin, dass ich hier bin? ... Hier bei dir, meine ich.“
„Ich auch! Die erste Unsicherheit, ob das jetzt gut ist, was wir hier tun, hast du einfach weggelächelt. Ich bin froh, dass …“ In diesem Moment werden Kaffee und Apfelstrudel serviert und unsere Hände, die einander mittlerweile mitten auf dem Tisch zärtlich berühren, müssen Platz machen. „Schade“, können wir in unseren Augen lesen. „Ich bin froh, dass wir uns dazu entschieden haben, herzukommen. Wir hätten sonst nie gewusst, ob wir uns diese innigen Gefühle nur einbilden oder ob wir auch im wirklichen Leben etwas für einander empfinden“, sagt Max leise und nimmt wieder meine Hand, um sie zu streicheln.
Da ist es jetzt ausgesprochen. Er empfindet viel für mich. Wir empfinden viel für einander. Wie sollen wir jetzt damit umgehen? Wo wir doch beide wissen, dass es für uns kein WIR geben darf. Wir müssen es einfach so halten, wie wir in unserem Chat geschrieben haben:


Die Sache mit meiner Frau ist kompliziert. Ich liebe sie sehr und will sie auf keinen Fall verlieren! Aber wenn ich mit dir so frei über alles reden kann, auch über Körperliches, dann fühle ich mich so wohl dabei wie schon lange nicht. Das kann ich mit ihr einfach nicht. Versteh mich bitte nicht falsch! Das heißt nicht, dass mich mit dir nur sexuelle Gedanken verbinden! Gar nicht! Aber diese Gedanken machen es so schwer!
Das muss es aber nicht! Wir beide genießen einfach das Schöne, das hier geschieht. Ich habe auch noch nie so offen wie mit dir über ALLES gesprochen. Und ich spüre, wie unsere gegenseitige Sympathie in was ganz anderes umschlägt. Lassen wir es einfach auf uns zukommen, so, wie es wird. Du musst mir gegenüber auch nie ein schlechtes Gewissen haben, wenn es dir zu viel wird!
Du bist auch noch so verständnisvoll. Wie hab ich das nur verdient?
Indem du so bist, wie du bist! Ich hab schon viel erlebt. Aber einen Mann wie dich noch nicht! Und solange wir hier nur schreiben, machen wir ja nichts Schlimmes, oder?

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