Buch lesen: «Öffentliches Wirtschaftsrecht», Seite 8

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2. Europäische Grundfreiheiten und nationale Grundrechte im Verfassungsverbund

a) Vorrang des Unionsrechts und unmittelbare Anwendbarkeit

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Unionsrecht und nationales Recht bilden zwei miteinander verbundene Rechtskreise. Das Verhältnis zwischen beiden wird grundsätzlich durch das Unionsrecht bestimmt, denn nur so lässt sich ein einheitlicher Vollzug des Unionsrechts durch die Mitgliedstaaten sicherstellen. Aufgrund des Vorrangs des Unionsrechts[26] geht es im Kollisionsfall entgegenstehenden nationalen Normen vor, sofern es unmittelbar anwendbar ist. Der Anwendungsvorrang des Unionsrechts führt nicht zur Nichtigkeit nationaler Bestimmungen (im Sinne eines Geltungsvorrangs), sondern zwingt (lediglich) dazu, sie insoweit nicht anzuwenden, als der Konflikt mit Unionsrecht besteht. Die aus dem Vorrang abgeleitete Nichtanwendungspflicht[27] trifft Gerichte wie Verwaltungsbehörden. Die unmittelbare Anwendbarkeit setzt voraus, dass die Norm rechtlich vollkommen und unbedingt ist, dh keines weiteren mitgliedstaatlichen Vollzugsakts bedarf. Bei den Grundfreiheiten ist die unmittelbare Wirkung immer gegeben[28], ebenso bei den Grundrechten der GRCh. Zu problematisieren ist sie bei den grundsätzlich nur staatengerichteten Richtlinien. Hier ist die unmittelbare Anwendbarkeit nur ausnahmsweise, bei nicht fristgemäßer bzw unzulänglicher Umsetzung gegeben (s. unten Rn 99).

Für den Einzelnen bedeutet dies, dass er sich gegenüber nationalen Stellen und vor Gericht auf die Bestimmungen des Unionsrechts berufen kann, sie ihm also subjektive Rechte gewähren[29]. Dies folgt für die Grundfreiheiten aus dem Verständnis der Grundfreiheiten als Eingriffsabwehrrechte (s. dazu unten Rn 50) und bedarf in der Fallbearbeitung keiner ausführlichen Begründung. Für die Grundfreiheiten hat sich der EuGH bereits 1963 ausdrücklich zum subjektivrechtlichen Ansatz bekannt. Obwohl sie sich vordergründig nur mit dem Zollrecht beschäftigte, markierte die Entscheidung van Gend & Loos[30] nicht nur eine Abkehr vom klassisch-völkerrechtlichen Verständnis des Gemeinschaftsrechts, sondern damit unmittelbar zusammenhängend die Entwicklung einer unionalen Konzeption des subjektiven öffentlichen Rechts. Bei den europäischen Grundrechten der GRCh ergibt sich ihre Rechtsverbindlichkeit aus Art. 6 Abs. 1 UAbs. 1 EUV und ihr Anwendungsbereich aus Art. 51 GRCh. Unproblematisch besteht sie bei europäischen Verordnungen.

b) Der Anwendungsvorrang und seine (verfassungsrechtlichen) Grenzen

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Dieser Vorrang des Unionsrechts auch vor dem nationalen Verfassungsrecht findet seine verfassungsrechtliche Anerkennung und zugleich Grenze in der Ermächtigung zur Übertragung von Hoheitsrechten auf die Union nach Art. 23 GG[31]. Seit der Solange II-Entscheidung[32] ist geklärt, dass Akte der Europäischen Union selbst nicht an den deutschen Grundrechten gemessen werden bzw jedenfalls das BVerfG seine entsprechende Prüfungskompetenz nicht ausübt. Diese Beschränkung „schlägt durch“ auf die Umsetzung durch den Gesetzgeber, aber auch die Prüfungsmaßstäbe für Verwaltungshandeln. Zugleich entwickelt das BVerfG aus den Grenzen dieser Öffnung, der in Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG ausdrücklich in Bezug genommenen Ewigkeitsklausel des Art. 79 Abs. 3 GG, die Grenzen der Freistellung der Akte deutscher Staatsgewalt vom deutschen Verfassungsrecht. Allerdings wurde auch diese im Anwendungsbereich der GRCh praktisch obsolet (zu den vom BVerfG gezogenen Grenzen s. Rn 44).

Grundsätzlich prüft das BVerfG nach seiner bisherigen Rechtsprechung auch nationale Rechtsvorschriften nicht am Maßstab des GG, die auf Richtlinien beruhen[33]. Zwar liegt mit dem deutschen Gesetz offensichtlich ein tauglicher Beschwerdegegenstand vor. Sofern die Richtlinie keine Umsetzungsspielräume belässt, fehlt aber die Möglichkeit einer Grundrechtsverletzung und damit die Verfassungsbeschwerdebefugnis. Verbleiben Umsetzungsspielräume, ist der Gesetzgeber bei deren Ausfüllung sehr wohl (auch) an die verfassungsrechtlichen Maßstäbe gebunden[34]; dies gilt insbesondere, wenn eine Richtlinie dem nationalen Gesetzgeber Optionen anbietet, aber bestimmte Regelungen nicht zwingend vorschreibt (zum telekommunikationsrechtlichen Versteigerungsverfahren Rn 562 ff). Soweit das BVerfG eine Ultra-Vires-Kontrolle (gegenüber „ausbrechenden“ Akten der Union) als auch eine Identitätskontrolle (Einhalten der von Art. 79 Abs. 3 GG geschützten Menschenwürde sowie damit wohl auch grundrechtlicher Mindeststandards und der Mindeststandards des Art. 20 GG)[35] in Anspruch nimmt, steht diese unter dem Vorbehalt einer vorherigen Anrufung des EuGH[36]. In den hier behandelten Bereichen der hier behandelten Bereiche des öffentlichen Wirtschaftsrechts spielt dies (anders als bei EZB-Maßnahmen und Rettungsschirmen[37]) bisher keine Rolle; das BVerfG selbst maß im Lissabon-Urteil seiner Prüfungskompetenz eine zwar grundsätzliche, aber „im Alltag der Rechtsanwendung eher theoretische“ Bedeutung bei[38]. Dies gilt insbesondere bei der Richtlinienumsetzung. Zugleich sind diese Umsetzungsvorschriften dann primär an den unionalen Grundrechten zu messen, da es sich um „Durchführung des Rechts der Union“ handelt (Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRCh)[39]. Insoweit ist es schlicht ausgeschlossen, dass der in Solange-II gemachte Vorbehalt einmal praktisch werden könnte[40].

Auch die Prüfung der Maßstäbe des Art. 20 GG führten zwar dazu, dass das BVerfG die Einrichtung europäischer unabhängiger Agenturen (dazu näher Rn 185 ff) als „aus Sicht des Demokratiegebots prekär“ bezeichnete, gleichwohl aber „keine grundsätzlichen Einwände“ hatte[41]. Allerdings stellt sich die Frage nach dem Verhältnis zwischen nationalen und europäischen Grundrechten auch in diesen Konstellationen. Der EuGH erkannte an, dass es Konstellationen geben könne, die vom Unionsrecht „erfasst“, aber nicht „vollständig bestimmt“ seien, so dass europäische und nationale Grundrechte auch parallel zur Anwendung kommen könnten[42]. Zugleich betonte er, dass „keine Fallgestaltungen denkbar [sind], die vom Unionsrecht erfasst würden, ohne dass diese Grundrechte [der GRCh] anwendbar wären“[43]. Zunächst betonte das BVerfG in seiner Entscheidung zur Antiterrordatei, die Akerberg Fransson-Entscheidung dürfe nicht so verstanden werden, dass „für eine Bindung der Mitgliedstaaten durch die in der Grundrechte-Charta niedergelegten Grundrechte der Europäischen Union jeder sachliche Bezug zum bloß abstrakten Anwendungsbereich des Unionsrechts oder rein tatsächliche Auswirkungen“ ausreichen könnten[44]. Der EuGH hat klargestellt, dass allein eine Zuständigkeit der Union nicht ausreicht, sondern es sich um sekundärrechtlich geprägte Rechtsmaterie handeln muss[45]. Dennoch wurde dieser Vorbehalt bisher nicht praktisch. Das BVerfG prüft in diesen Fällen unter Verweis auf die unionsrechtlich zugelassene „Grundrechtsvielfalt“ primär das Grundrecht des GG[46].

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Diese Betonung seiner „Wächterfunktion“ im Hinblick auf grundrechtliche Mindeststandards verlor umso stärker an Überzeugungskraft, je mehr im Ergebnis der europäische Standard denjenigen des GG übertraf und der EuGH gerade umgekehrt auch Entscheidungen des BVerfG korrigierte. Dies geschah zunächst beim Aufeinandertreffen von Grundfreiheiten und Art. 12 GG im Glücksspielrecht (dazu Rn 69), aber in letzter Zeit ausgerechnet auch auf dem Gebiet der informationellen Selbstbestimmung. Mag die verfassungsrechtliche Etablierung dieses Grundrechts sogar dem BVerfG zu verdanken sein, so wurde das Datenschutzgrundrecht in den letzten Jahren vom EuGH sehr dynamisch weiterentwickelt und international durchgesetzt. Ende 2019 reagierte Karlsruhe mit einem Paukenschlag: In einem Fall mit Bezug zur DSGVO hat das BVerfG nunmehr den Anwendungsvorrang des Unionsrechts und insbesondere der GRCh vor den nationalen Grundrechten ausdrücklich anerkannt[47]. Zugleich leitet es aus dem „Kooperationsverhältnis“ mit dem EuGH ab, dass es auch seinerseits den Prüfungsmaßstab im Rahmen der Verfassungsbeschwerde modifiziert und die Akte deutscher Behörden am Maßstab der europäischen Grundrechte prüft[48].

Es bleibt abzuwarten, ob dies materiell die Gewichte zum Unionsrecht oder kompetenziell zur nationalen Kontrolle verschieben wird. Letztere forcierte der 2. Senat mit einer genauso überraschenden Entscheidung, in der er den Anwendungsbereich der Verfassungsbeschwerde und damit seine Kontrollmöglichkeiten hinsichtlich formeller Erfordernisse erheblich erweiterte[49]. Außerdem hatte gegenüber den EZB-Anleiheverkäufen erstmals eine ultra-vires-Kontrolle Erfolg, was voraussetzte, dass die Vertragsauslegung des EuGH im Vorlageverfahren als „nicht mehr nachvollziehbar und daher objektiv willkürlich“ qualifiziert wurde[50]. Dass dies ausgerechnet bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung angenommen wurde, macht es sicherlich nicht einfach, die BVerfG-Entscheidung nachzuvollziehen. Dies wiederum könnte Gegenstand eines Vertragsverletzungsverfahrens werden[51].

3. Verwaltungsrechtsschutz im Verbund

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Die Prüfung von Grundfreiheiten und Grundrechten obliegt in den meisten Fällen zunächst den Fachgerichten. Verwaltungsgerichte fungieren im öffentlichen Wirtschaftsrecht als zentrale Kontrollinstanz, die überall dort Rechtsschutz gewähren, wo öffentliches Wirtschaftsrecht durch deutsche Behörden vollzogen wird, selbst wenn deren Tätigkeit durch Unionsrecht geprägt ist[52]. Europäischer Rechtsschutz kommt für den Einzelnen in zwei Varianten in Betracht: Sofern ausnahmsweise europäische Behörden tätig werden (s. zur Bankenaufsicht durch die EZB Rn 191 ff)[53], aber auch gegenüber europäischen Verordnungen des Tertiärrechts (vgl Rn 91) ist die Nichtigkeitsklage nach Art. 263 Abs. 4 AEUV einschlägig (zu dieser näher Rn 92). Zugleich sind die Grenzen der Fachgerichtsbarkeit zu beachten, die in Vorlagepflichten münden. Die Vorlageverfahren nach Art. 267 AEUV zum EuGH dient der Klärung unionsrechtlicher Fragen[54], die prinzipale Normenkontrolle nach Art. 100 GG sichert das Verwerfungsmonopol des BVerfG hinsichtlich nachkonstitutioneller Vorschriften. Die Verfassungsbeschwerde kommt im öffentlichen Wirtschaftsrecht idR nur als Urteilsverfassungsbeschwerde gegen letztinstanzliche Urteile in Betracht[55]. Da die Verletzung der Vorlagepflicht auch gegen den Anspruch auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG) verstößt, kommt es zu einer Verzahnung zwischen beiden Rechtskreisen.

Dabei gibt es für die Prüfungsreihenfolge beim Zusammentreffen unionsrechtlicher und verfassungsrechtlicher Bedenken nach Auffassung des BVerfG keine zwingende Reihenfolge[56]. Steht allerdings die Nichtanwendbarkeit der Norm im konkreten Fall fest, ist sie nicht mehr entscheidungserheblich iSv Art. 100 Abs. 1 S. 1 GG[57]. Immer häufiger setzt aber auch sonst die Beantwortung verfassungsrechtlicher Fragen die Klärung europarechtlicher Vorfragen voraus; sie ist dann auch Voraussetzung einer Vorlage an das BVerfG[58]. Zugleich sind die Fachgerichte verpflichtet, die unionsrechtlichen Vorgaben zu prüfen und ggf gemäß Art. 267 AEUV dem EuGH vorzulegen; die Nichtvorlage kann im Vertragsverletzungsverfahren geprüft[59], aber vor allem auch mit der Verfassungsbeschwerde geltend gemacht werden: die Verletzung der Vorlagepflicht bedeutet zugleich einen Verstoß gegen den gesetzlichen Richter iSv Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG (ausführlich ▸ Klausurenkurs Fall Nr 2). Voraussetzung einer Verletzung des Anspruchs auf den gesetzlichen Richter ist jedoch, dass die Vorlage willkürlich unterblieb. Zwar hat das BVerfG[60] ausdrücklich anerkannt, dass hierbei auch unionale Maßstäbe eine Rolle spielten. Allerdings bleibe die Frage nach dem gesetzlichen Richter eine solche des nationalen Verfassungsrechts, die in allen Fällen der Vorlageverpflichtung nach gleichen Maßstäben geprüft werden und die Funktion des BVerfG beachten müsse. Vor diesem Hintergrund unterscheidet es drei Konstellationen[61]: Eine „grundsätzliche Verkennung der Vorlagepflicht“[62], ein bewusstes Abweichen von der EuGH-Rechtsprechung „zu entscheidungserheblichen Fragen“[63] und als wichtigste Fallgruppe die Überschreitung des gerichtlichen Beurteilungsspielraums bei Unvollständigkeit der Rechtsprechung[64].

§ 2 Der unions- und verfassungsrechtliche Ordnungsrahmen › II. Die Grundfreiheiten

II. Die Grundfreiheiten

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Fall 3:

Architekt A beauftragt im Rahmen eines Bauvorhabens in Deutschland den in den Niederlanden ansässigen Unternehmer U mit bestimmten, in Deutschland dem Handwerksrecht unterfallenden Bauarbeiten. U führte zwar in den Niederlanden zulässigerweise solche Arbeiten aus, war aber in Deutschland nicht in die Handwerksrolle eingetragen. Die Beauftragung verstieß damit zum Zeitpunkt der Erbringung der Leistungen gegen deutsches Handwerksrecht und stellte zugleich eine Ordnungswidrigkeit dar.


a) Können U und A sich auf die Grundfreiheiten berufen?
b) Ändert sich an dieser Beurteilung etwas, wenn U, nachdem die Aufträge aus Deutschland häufiger werden, seine deutschen Aufträge vom Grundstück des Bauunternehmers B aus organisiert, mit dem er jeweils nur für die Dauer der Arbeiten einen Mietvertrag abschließt?
c) Mittlerweile regeln europäische, in Deutschland umgesetzte Richtlinien den Fall. Kann U sich auf die Grundfreiheiten berufen, wenn er das in der RL vorgesehene Anzeigeerfordernis für einen Verstoß gegen die Grundfreiheiten hält?
d) Als die Geschäfte in Deutschland erheblich besser laufen als in den Niederlanden, möchte U seine Geschäftstätigkeit vollständig nach Deutschland verlagern. Allerdings schreckt es ihn ab, dass er sich dazu nach dem deutschen Recht in die Handwerksrolle eintragen lassen muss. Außerdem möchte er das Unternehmen weiterhin in der niederländischen Rechtsform der BV (Besloten vennootschap met beperkte aansprakelijkheid) betreiben.

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Fall 4:

Uber bietet seinen Kunden – weltweit sehr erfolgreich – über eine Smartphone-Applikation eine Alternative zu herkömmlichen Taxis: man vermittelt den Kontakt zwischen nicht berufsmäßigen Fahrern, die ihr eigenes Fahrzeug benutzen, und solchen Personen, die Fahrten im innerstädtischen Bereich unternehmen möchten. Dieses Modell wird auf einige deutsche Großstädte ausgedehnt. Allerdings verfügen weder Uber noch die vermittelten Fahrer über die für solche Fahrten nach dem Personenbeförderungsrecht erforderlichen Genehmigungen.


a) Hiergegen geht der Berufsverband der Taxifahrer in einem wettbewerbsrechtlichen Verfahren vor.
b) Ändert sich etwas an der Beurteilung, wenn die App lediglich der Vermittlung gewerblich tätiger Fahrer dient?

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Fall 5:

Die O-GmbH will in der deutschen Stadt B ein Laserdrome betreiben. In dieser Anlage tragen Spieler mit Sensoren versehene Westen und benutzen Laserzielgeräte, um sich gegenseitig „spielerisch zu töten“. Darin sieht die Stadt eine Gefahr für die öffentliche Ordnung, weil die mit simulierten Tötungshandlungen einhergehende Verharmlosung von Gewalt gegen die grundlegenden Wertvorstellungen der Allgemeinheit verstoße. Als die Stadt gegen das Laserdrome einschreitet, macht O geltend, dass das Verbot gegen die Warenverkehrs- und Dienstleistungsfreiheit verstoße, da die Technik und Ausrüstung des Laserdrome von der irischen Gesellschaft P geliefert werde. In Irland erbringt P aufgrund von Franchiseverträgen, wie sie auch mit der O-GmbH bestehen, vergleichbare Leistungen[65].

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Fall 6:

Belgien führte bei dem Gasversorgungsunternehmen Distrigaz eine dem Staat zustehende Sonderaktie ein, um eine Gefährdung der nationalen Gasversorgung zu vermeiden. Diese ermöglicht es dem Energieminister, jede Übertragung technischer Einrichtungen und bestimmte unternehmerische Entscheidungen zu verbieten, die die Versorgung Belgiens mit Erdgas gefährden könnten. Zusätzlich entsendet die Regierung zwei Mitglieder in den Verwaltungsrat des Unternehmens. Das Verfahren wurde detailliert geregelt, die Entscheidung des Ministers muss begründet werden und ist anfechtbar.


a) Ist eine solche Regelung gemeinschaftsrechtlich zulässig?
b) Wäre eine ähnliche Regelung für die Deutsche Post AG oder die DTAG zulässig, um die Aufrechterhaltung der Versorgung sicherzustellen? Was unterscheidet diese Fälle von einer „goldenen Aktie“ bei VW?

1. Grundlagen

a) Allgemeine Grundsätze und Lehren

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Die Verwirklichung des Binnenmarkts verlangt, dass außer den Waren auch die Produktionsfaktoren Arbeit und Dienstleistung frei, dh vor allem ohne Benachteiligung aufgrund der Staatsangehörigkeit verkehren können. Insofern konkretisieren sie das allgemeine Diskriminierungsverbot des Art. 18 Abs. 1 AEUV durch Statuierung eines Grundsatzes der Inländergleichbehandlung. Sie verlangen aber darüber hinaus auch, dass die Beschränkungen durch öffentliche Interessen, die als Schranken der Grundfreiheiten fungieren, gerechtfertigt sind. Dazu übernehmen die Grundfreiheiten vergleichbare Funktionen wie die Grundrechte aus Art. 12 und 14 GG in den rein nationalen Sachverhalten. Die fast zwangsläufige Konsequenz dieser Funktion der Grundfreiheiten als Rechtspositionen des Einzelnen ist die Entwicklung eines „Allgemeinen Teils“ für alle Grundfreiheiten und damit verbunden auch eine starke Annäherung an die allgemeine Grundrechtsdogmatik in der Tradition „europäisch-amerikanischer Verfassungsstaatlichkeit“[66]. Dies erklärt, warum der EuGH trotz des unterschiedlichen Wortlauts der primärrechtlichen Bestimmungen seiner Prüfung ein einheitliches Konzept und Prüfprogramm zugrunde legt[67]. Diese dogmatische Parallele spiegelt sich im dreistufigen Prüfungsaufbau wider. Wie in der Grundrechtsprüfung lassen sich Schutzbereich, Eingriff und Rechtfertigung unterscheiden (s. Rn 57 ff). Allerdings greifen die Marktfreiheiten nur dann ein, wenn es sich um eine „Teilnahme am Wirtschaftsleben“ handelt und der erforderliche grenzüberschreitende Bezug gegeben ist. Außerdem muss das angegriffene Verhalten dem Mitgliedstaat zuzurechnen sein. Diese Anforderungen werden – soweit der Sachverhalt dafür Anlass bietet – vorab geprüft (vgl Rn 52 ff). Entwickelt wurden viele allgemeine Grundfreiheitenlehren anhand der Warenverkehrsfreiheit, die allerdings für das öffentliche Wirtschaftsrecht in ihrer Bedeutung hinter den anderen Grundfreiheiten zurückbleibt.

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Wie die Grundrechte sind auch die Grundfreiheiten in erster Linie (staatsgerichtete) Eingriffsabwehrrechte (zu den Adressaten näher Rn 56) und fungieren als Beschränkungs- und nicht allein als Diskriminierungsverbote[68]. Außerdem können auch aus den Grundfreiheiten staatliche Schutzpflichten abgeleitet werden.

Die europäische Konzeption hat der EuGH in zwei Grundlagenentscheidungen entwickelt. Im Urteil vom 9.12.1997[69] entschied der EuGH, dass die Französische Republik gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 34 iVm Art. 4 Abs. 3 AEUV (ex Art. 28 iVm Art. 10 EGV) verstoßen hat, indem sie „nicht alle Maßnahmen ergriffen hat, damit der freie Warenverkehr […] nicht durch Handlungen von Privatpersonen beeinträchtigt wird“. Offen blieb die Frage nach den Grenzen der staatlichen Handlungspflicht. Angesichts der Weite der Dassonville-Formel und damit des Grundfreiheitentatbestands kann jedenfalls nicht für jedes private Handeln mit Eingriffsqualität eine Handlungs-(und ggf dadurch eine Haftungs-)pflicht des Staates begründet werden[70]. Mit dieser Frage einer Rechtfertigung der Beeinträchtigung beschäftigte sich der EuGH in der zweiten Entscheidung v. 12.6.2003 zur Brenner-Blockade[71]. Grundrechte und Grundfreiheiten sind gleichermaßen vom Unionsrecht geschützte und damit von den Mitgliedstaaten zu beachtende Rechte, zwischen denen – ähnlich wie in der deutschen Grundrechtsdogmatik bei der Kollision zweier Grundrechte – „ein angemessener Ausgleich im Wege praktischer Konkordanz gesucht werden muss“[72]. Mittlerweile hat sich die Problematik der Verkehrsblockaden ins sekundäre Unionsrecht verlagert[73]. Außerdem setzt sich auf europäischer Ebene immer mehr die unmittelbare Grundrechtsbindung Privater durch (s. dazu Rn 56).

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Die zunehmende Rechtsvereinheitlichung im Binnenmarkt wirft aber auch die Frage einer Bindung der Union an die Grundfreiheiten auf. Schon das Primärrecht zeigt, dass auch der Unionsgesetzgeber nicht im Widerspruch zu den primärrechtlichen Vorschriften über den freien Warenverkehr handeln darf (vgl Art. 5 Abs. 2, Art. 13 Abs. 2 S. 2 EUV und Art. 2 Abs. 6 AEUV). Konsequenterweise überprüft der EuGH daher auch Sekundärrecht auf seine Vereinbarkeit mit den Grundfreiheiten[74]. Bisher räumte er dabei dem EU-Gesetzgeber einen weiten Ermessenspielraum ein[75].

Demgegenüber findet sich vor allem in der deutschen Literatur die These, es liege schon kein Verstoß gegen die Grundfreiheiten vor, da einheitlich wirkende Maßnahmen des Unionsgesetzgebers keine marktzugangsrelevanten Wirkungen entfalten könnten. Deshalb seien derartige unionale Akte primär an den Unionsgrundrechten, insbesondere der Berufs- und Unternehmerfreiheit (Art. 15 f GRCh), zu messen[76].

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Umfang:
1951 S. 2 Illustrationen
ISBN:
9783811495876
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