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Josef Hahn

Blutland

Historischer Roman

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Prolog

Der Herzog

Moses Wassermann

Löwenherz & die Münze

Judenhass in Wien

Theologische Fakultät

Am Hohen Markt

Politik

Das Kreuz mit dem Kreuz

Der Herzog

Sabbat

Konferenz

Zarte Knospen

Der Rabbi

Alltag

Deborah

Pogrom

Menschen

Historisches zur Geserah

Der Autor

Impressum neobooks

Prolog

Dieses Buch erzählt von einem der dunkelsten Kapitel in der langen Geschichte Wiens. Im späten Mittelalter im 15. Jahrhundert wurden fast alle jüdischen Menschen im damaligen Herzogtum Österreich vertrieben und ausgerottet.

Unter dem Vorwand des Religionsfrevels, wie der Schändung von geweihten Hostien, Ritualmorden an christlichen Kindern und derlei Unsinn mehr massakrierte man damals mehr als 2.000 Menschen.

In Wahrheit allerdings ging es den Mächtigen dieser Tage (Herzog Albrecht V. und der katholischen Kirche) darum, an das – weit überschätzte – Vermögen ihrer jüdischen Landsleute zu kommen; eine klare Räuberei!

Maßgeblich daran beteiligt waren der Prior der Kartause Gaming, Leonhard II., auch einflussreicher Beichtvater des Herzogs, und der Dekan der theologischen Fakultät der Universität Wien, Christian von Königingrätz. Beide waren sie extreme Judenfeinde und sie schmiedeten eine gewaltige Intrige gegen die verhassten Juden, die der streng katholische Herzog Albrecht V. gerne zur Kenntnis nahm.

Ob und wie weit allerdings Albrecht in das Lügengespinst der beiden hochgestellten Pfaffen eingeweiht war, ist nicht bekannt. Anzunehmen kann man aber schon, dass ihm das zu konfiszierende Vermögen der Juden durchaus willkommen war. Die katholische Kirche führte zu der Zeit erbitterte Kriege gegen die Hussiten und der österreichische Herzog trug die Hauptlast dieser Kämpfe. Seine Kassen waren aber meistens leer. Da kam ihm die Ausplünderung seiner jüdischen Bürger sehr gelegen.

Das, was damals in Wien und in Österreich an Untaten geschah, lässt sich ohne weiteres auch mit der berüchtigten >Reichskristallnacht< von 1938 vergleichen; und war teilweise noch ärger!

Am Beispiel der erdachten Familie des Moses Wassermann und des ebenso erfundenen Hussiten Milos Vrba alias Martin Kriecher habe ich nach vielen Recherchen versucht, ein möglichst realistisches Bild dieser Jahre zu zeichnen. Wenige, erhalten gebliebene Aufzeichnungen aus diesen Tagen waren mir auch eine wertvolle Hilfe.

Was waren das aber für Menschen, die sich als das >auserwählte Volk< verstehen und sich lieber foltern und umbringen ließen, als ihren Grundsätzen untreu zu werden:

Als Juden (hebräisch jehudim) bezeichnet man eine ethnisch-religiöse Gruppe und Einzelpersonen, die sowohl Teil des jüdischen Volkes als auch Gläubige der jüdischen Religion sind. Judenfeinde unternehmen häufig den Versuch, rassistisch umzudefinieren, wer als Jude zu gelten habe.

Wenn ich in diesem Buch hauptsächlich die Bezeichnung >Jude> verwende, ist das – und darum bitte ich eindringlich – als wertfrei zu verstehen und der Zeit der Geschehnisse und ihrem Ablauf angepasst.

Als Erzväter der Juden gelten Abraham, Isaak und Jakob. Sie lebten - wenn überhaupt - wahrscheinlich zu Beginn der Bronzezeit, also zwischen 1900 und 1500 v. Chr. Historische Belege für ihre Existenz gibt es nicht.

Als Stifter der jüdischen Religion gilt Moses. Er ist für die Israeliten der höchste Prophet aller Zeiten, der Gott so nah kam, wie sonst kein Mensch vorher oder seitdem. Historische Belege für seine Existenz fehlen jedoch. Moses gilt zudem als Verfasser der Tora, die die Basis des jüdischen Monotheismus bildet. Die religiöse Identität ist seitdem für das Judentum von ähnlicher Bedeutung wie die der Herkunft.

Ich kann mir vorstellen, dass der Eingottglauben damals für die Priester der zahlreichen polytheistischen Religionen genügend Grund war, die Juden zu bekämpfen und auszugrenzen; der Beginn des Antisemitismus? Es ging vermutlich damals - wie heute - um Macht und Einfluss.

Während der Regierung des Pharaos Ramses III. (1187 - 1156 v. Chr.) waren die als >Peleset< bezeichneten Philister die Hauptgegner der sich gerade konstituierenden hebräischen Stämme. In der Küstenebene Palästinas gründeten die Philister einen Fünf-Städte-Bund mit den Stadtstaaten Aschdod, Aschkelon, Akkaron (heute: Akir), Gat und Gaza und hatten bald die Vormacht in der Region, die sie laut Bibel bis zu König Davids Herrschaft behielten.

Im lange andauernden Israelisch-Palästinensischen Konflikt gibt es auf beiden Seiten Meinungen, die die heutigen Palästinenser als Nachfahren der Philister ansehen, wodurch der Konflikt, historisch überhöht, auch als Fortsetzung des in der Bibel beschriebenen Kampfes der Hebräer und der Philister um die Vorherrschaft im Land angesehen werden kann.

Die Bibel berichtet, dass die Israeliten in einer Stunde der Bedrängnis einen gewissen Saul zu ihrem ersten König krönten (etwa 1000 v. Chr.). Bisher gibt es allerdings keine außerbiblischen Zeugnisse für die Existenz dieses Stammesfürsten oder Königs. Die zeitlich genaue Fixierung seiner Regierungszeit ist ebenfalls extrem schwierig. Allerdings markiert er mit seiner Herrschaft den Übergang von einem losen Zusammenschluss einzelner Stämme Israels zu einem fest gefügten Staat, der – nach langen Unterbrechungen – heute seinen geachteten und fixen Platz in der Staatengemeinschaft gefunden hat.

Wer mehr über die Hebräer wissen will, der lese im Alten Testament der christlichen Bibel oder im Tanach, der hebräischen Bibel, nach. Für die Wahrheit in diesen Büchern übernehme ich allerdings keinerlei Verantwortung.


Der Herzog

Entsetzlich schlecht gelaunt hockte Herzog Albrecht V. in seiner düsteren Stube in der Wiener Burg und starrte missmutig auf den Turnierplatz in der Mitte der Burg.

Seitdem Friedrich der Streitbare, der letzte Herzog aus dem Geschlecht der Babenberger1, 1246 kinderlos im Kampf gegen die Ungarn gefallen war, hatte der Kaiser die österreichischen Gebiete unter- und oberhalb der Enns an die Sippe der Habsburger als Lehen weitergegeben.

Die Habichtsburger2 stammten aus der Schweiz und betrieben da eine Zeitlang das damals durchaus ehrsame Gewerbe der Raubritterei.

Ein gewisser Guntram der Reiche, der im 10. Jahrhundert im Schweizer Kanton Aargau gelebt haben soll, gilt als Stammvater der habsburgischen Dynastie. Später wurden allerlei fabelhafte, aber falsche, Stammbäume der Habsburger konstruiert: Über Julius Caesar und Aeneas bis hin zu den Trojanern. Lange Stammbäume galten damals als eminent wichtig. Hatte man keine, so erfand man eben welche.

Im 13. Jahrhundert waren die Habsburger zur führenden Familie zwischen Oberrhein und Alpen aufgestiegen und verfügten bereits über reiche Besitzungen.

1273 wurde der Rudolf IV. zum Herrscher über das >Heilige Römische Reich< gewählt. Die Habsburger sollten diese Position bis 1918 nicht mehr aus der Hand geben.

Albrecht fühlte sich in den schweren und kalten Mauern der Wiener Burg überhaupt nicht wohl. Missmutig beobachtete er vom Fenster aus einige junge Burschen, die sich da unten mit hölzernen Schwertern im Kampf übten. Was er sehen musste, gefiel ihm auch nicht besonders. „Hinhauen, nicht davonrennen, du stinkender Buretrol3“, brüllte er hinunter, als er sah, wie einer der Übenden vor seinem Gegner davonrennen wollte.

 

„Verzeiht, Durchlaucht! Mein Schwert ist zerbrochen“, klang es zurück.

Wütend schmiss Albrecht das Fenster zu. Dabei zersplitterte das eingesetzte Glas und fiel hinunter. „Das auch noch“, ärgerte er sich. Glas war kostbar und dementsprechend teuer. Na ja, man würde das halt ersetzen müssen. Irgendwie!

Die Kunst, Fenster mit Glas zu verschließen, war schon in der Spätzeit der römischen Republik bekannt und kam mit den Legionären und Beamten in die besetzten Gebiete Galliens und Germaniens. Danach kam die Glasmacherei fast gänzlich zum Erliegen, ehe im 8. Jahrhundert wieder an die römische Tradition angeknüpft wurde. Wegbereiter waren die großen Abteien wie Lorsch, Fulda, St. Gallen und Tegernsee, von welchen die Technik der Fensterglasherstellung und der Bleiverglasung weitergegeben wurde.

Die Rohglaserzeugung war Sache von eigens dazu ausgebildeten Leibeigenen, deren Glashütten wegen des immensen Brennholzverbrauchs für die Glasöfen immer tiefer in den Wald eindrangen und diesen gerodet hinter sich zurückließen.

Flachglas war bis zum Ende des Mittelalters. fast ausschließlich für Kirchenfenster bestimmt. In der ersten Hälfte des 14. Jh. kam die Butzenscheibe auf und wurde bald zur bevorzugten Fensterauskleidung privater Wohnbauten.

In der Wiener Burg waren nur die Räume des Herzogs mit diesem edlen Material ausgestattet. Andere Öffnungen waren entweder mit Tierhäuten oder mit Pergament versehen. Man kann sich denken, dass das den Lichteinfall behinderte und ohnehin nicht richtig abdichtete.

Das Leben in einer Burg war weit weniger romantisch als in unseren Vorstellungen. Die einzelnen Räume konnten nur unzureichend geheizt werden und durch über den Boden huschten Ratten und Mäuse.

Man wusch sich auch nur in unregelmäßigen Abständen und nur dort wo es >nötig< war. Ein warmes Bad war, wegen des teuren Brennholzes, ohnehin nur den Burgherren vorbehalten. Eine Plage war in einer Burg auch weit verbreitet: Läuse! Meist mehrmals täglich wurden sie ausgekämmt.

Geschlafen wurde auf dem Fußboden oder in einem Himmelbett, das von allen Seiten verschlossen werden konnte, da es überall zog. Als Beleuchtung dienten lange Kienspäne, die an der Wand in Eisenringen steckten Es gab auch Kerzen – den Regenten vorbehalten - und kleine Talglampen.

Seitdem die Herzogtümer Österreich und Steiermark der direkten Reichsgewalt unterstellt worden waren und auch Wien zu einer freien Reichsstadt erhoben wurde, musste man über eine Stadt- und Residenzburg verfügen. Die Wiener Burg entstand als die älteste Kastellburg im Heiligen Römischen Reich4. Sie ersetzte die alte Residenz5 der Babenberger und avancierte im 14. Jahrhundert mehrfach zum Treffpunkt der politischen Elite Europas.

Hier residierte und regierte – ungemütlich und primitiv wie auf allen damaligen Burgen - seit neun Jahren, mit fast absoluter Machtfülle ausgestattet, der Herzog von Österreich, die Gebiete ober- und unterhalb der Enns6.

Albrecht war ein noch junger Fürst, 23 Jahre, und der Sohn Herzog Albrechts IV7 und der Herzogin Johanna Sophie von Bayern-Straubing. Beide starben früh und so verwalteten während seiner Minderjährigkeit drei seiner Großonkel, (Wilhelm der Artige, Leopold der Dicke und zuletzt Ernst der Eiserne), unter fortwährenden Streitigkeiten sein Erbe und trachteten primär danach, sich möglichst viel davon unter den Nagel zu reißen und sich das Leben gegenseitig schwer zu machen; obwohl sie alle auch Habsburger waren.

Albrecht war das, was man nach damaligen Begriffen als hübschen und auch kühnen Mann bezeichnete: Schwarzes langes Haar, dunkle stechende Augen und ein mächtiger Schnurrbart zierten sein Gesicht. Seine muskulöse Gestalt wies auf einen durchtrainierten Menschen hin.

Er war ein strenger, fanatischer Katholik und jede kleinste Abweichung von der Doktrin der Römischen Kirche war für ihn Gotteslästerung, die man – wenn es erforderlich schien – mit Waffengewalt bereinigen musste.

Seine Verlobung mit Elisabeth von Luxemburg, der Tochter des römisch-deutschen Kaisers und böhmischen Königs Sigismund, war ein rein politischer Akt und zugleich ein Hinweis an den Adel des Reiches, dass der Kaiser den österreichischen Herzog mehr schätzte als andere Adelige im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation.

Er nutzte ihn dafür aber auch mehr aus als andere Adelige!

Die Hochzeit mit Elisabeth, die er noch nie gesehen hatte, musste allerdings noch warten. Die stolze Braut zählte zum Zeitpunkt der Verlobung erst zwei Jahre. Selbst im freizügigen Mittelalter durfte man keine Kinder heiraten; sich gegenseitig – noch im Kindesalter - die Ehe zu versprechen war aber durchaus üblich. Genauso verhielt es sich auch mit Albrecht und Elisabeth.

Seine Hauptstadt Wien umfasste das Gebiet der heutigen Wiener Innenstadt und hatte damals in etwa 25.000 Einwohner. Vorwiegend Adelige, den gehobenen Klerus und saturierte Bürger; auch zahlreiche Bordelle gab es, die emsig frequentiert wurden. Obwohl der Zölibat und die Keuschheit für katholische Pfaffen seit 1022 Kirchengesetz war, hielt sich fast keiner daran. Priester, Bischöfe und Ordensmänner waren in den Bordellen immer gern gesehene Gäste.

Die Stadt umschloss die um 1200 errichtete Wiener Ringmauer, die aus dem von Richard Löwenherz erpressten Lösegeld finanziert wurde. Sie umschloss ein wesentlich größeres Areal als die bisher die Stadt sichernde Burgmauer. Die zinnengekrönte Ringmauer rund um die Stadt hatte bei den Toren starke Türme und jedes Tor besaß eine Zugbrücke, die einen breiten Graben und sonstige Hindernisse überwand und so den Zugang zu den Vororten ermöglichte.

Wie viele Menschen in den Vororten der Stadt hausten, wusste Albrecht nicht. Aber das wusste niemand. Es interessierte ernsthaft auch niemanden. Bauern, Tagelöhner und ähnliches Gesindel waren für ihn und die Bewohner der Stadt eigentlich keine Menschen im herkömmlichen Sinn. Die Bewohner der Innenstadt fühlten sich als elitär und verachteten alle, die nicht dazu gehörten.

Wie es damals in Wien zuging hat der spätere Papst Pius II. (Enea Silvio Piccolomini) notiert:

Übrigens gibt es in dieser so großen und vornehmen Gesellschaft viel Eigenartiges. Tag und Nacht werden Raufereien geführt; da ergreifen die Künstler gegen die Studenten die Waffen, dann die Beamten gegen die Künstler, daraufhin ergreifen diese Handwerker die Waffen gegenüber den anderen. Selten feiern sie ohne Totschlag, oft werden Morde begangen. Wo ein Streit ist, gibt es keine Leute, welche die Streitenden trennen, und weder die Behörden, noch die Führenden gebrauchen Wachen, wie es sich gehörte, bei so viel Unheil. Fast alle Bürger beitreiben Weinstuben, sie beheizen die Stuben, sie richten Küchen ein, sie locken Trinker und Dirnen ein und gewähren diesen kostenlos irgendetwas zu essen, damit sie mehr trinken. Aber sie schenken ihnen zu wenig ein. Der Pöbel ist zudem fresssüchtig, und was auch immer er in einer Woche mit der Hand verdient hat, das gibt er an einem Festtag wieder aus. Das niedrige Volk ist zerlumpt und ungehobelt. Sehr groß ist die Zahl an Dirnen. Selten ist eine Frau mit nur einem Mann zufrieden. Sie leben ohne irgendeinem geschriebenen Gesetz und legen die alten Gesetze so aus, wie sie sie brauchen: Das Recht ist vollkommen käuflich, wer kann, sündigt ohne Strafe.

Den jungen Herzog quälten eine ganze Menge Sorgen. Sorgen, die er viel lieber anderen aufgebürdet hätte, als sie selber zu tragen. Aber es waren leider keine >anderen< da!

Albrecht litt, so wie die meisten seines Standes, unter chronischer Geldnot. Ja, er wusste nicht einmal, wie er die bereits aufgenommenen Darlehen zurückzahlen sollte. Woher sollte er dann neues Geld herkriegen, das er dringend brauchte?

Und dann waren da noch die ketzerischen Hussiten. Obwohl man dieses aufrührerische Subjekt Jan Hus bereits vor Jahren in Konstanz durch das Urteil der Kirche verbrannt hatte, lebten seine schädlichen Gedanken weiter fort; mehrheitlich unter den einfachen Bürgern und Bauern.

Die Gedanken konnte niemand verbrennen; damals nicht und auch heute nicht! Gedanken, die aber die Römische Kirche mit ihrem Oberpriester erst gar nicht aufkommen lassen durfte: Sie sahen dadurch sich und ihre Privilegien in höchster Gefahr.

Hieronymus von Prag8 trug 1410 die Lehren des Jan Hus als erster in Wien vor. Hans Griesser, ein anderer Hussit, wurde 1411 als Ketzer in Wien hingerichtet. Alles nützte nichts! Die Hussiten waren da und wurden immer mehr. 1420 rief Papst Martin V. zum Kreuzzug gegen sie auf. Im Vatikan war man entschlossen, diese gefährliche Strömung zu vernichten.

Dem konnte, wollte und durfte sich der erzkatholische Albrecht nicht entziehen. Als Adeliger zählte er zum sozial, rechtlich und politisch privilegiertesten Stand, der alle Rechte und höchste Vorteile genoss. Diese Rechte gründeten sich vor allem auf die Geburt. Adelige pflegten besondere Lebensformen und hatten ein und ausgeprägtes Standesbewusstsein.

Auch Albrecht war ein typischer Spross seiner Zeit und genoss mit einer arroganten Selbstverständlichkeit alle Privilegien, die ihm seiner Meinung nach zustanden: Der Adel war Inhaber aller staatlichen Funktionen; die Führung des Staates lag faktisch in seiner Hand. Die Herrschaft irgendeines Kaisers oder Königs war ohne die mehrheitliche Zustimmung des Adels gar nicht möglich. Außerdem musste noch der Papst in Rom mit dem Kandidaten einverstanden sein.

Also musste jeder, der diese Würde begehrte, sich mit dem hohen Adel und – vor allem - mit der Kirche arrangieren. Schenkungen, Lehen und Titel waren die >Schmiermittel< der Zeit.

Nur der Adel war in der Lage Bargeld aufzutreiben; wenn auch durch Räubereien, Diebstähle oder ähnliche Sauereien. Die damalige Zeit war noch größtenteils von der Naturalwirtschaft geprägt. 90 Prozent der Bevölkerung waren einfache Bauern, die mit ihrer Arbeit die Grundlage für den Reichtum der Kirche und des Adels erschufteten. Ihr Ansehen war dennoch äußerst gering.

Garantiert wurde dieses System der kompletten Ausbeutung durch die Kirche, die dies als gottgegeben propagierte und die Mehrheit der Bevölkerung, die Bauern und einfachen Bürger, glaubte dies auch.

Das einfache Volk musste schuften und durfte unwissend bleiben. Ein Rezept, das auch heute noch in manchen Staaten angewandt wird und funktioniert; leider!

Bildung war im Mittelalter das Privileg der Angehörigen des ersten und zweiten Standes9 und wurde dadurch auch indirekt zum Herrschaftsinstrument.

Die Alphabetisierungsrate der einfachen Menschen war äußerst niedrig. Man konnte in der Mehrzahl weder lesen oder schreiben. Öffentliche Schulen existierten nicht, die Sprösslinge des Adels wurden von Privatlehrern oder in Klosterschulen unterrichtet, in denen auch der klerikale Nachwuchs seine Schulbildung erhielt. Auch das Studium an den sich im Hochmittelalter bildenden Universitäten war nur den vermögenden Schichten vorbehalten.

Da die Teilhabe an Bildung und Ausbildung vielen verschlossen blieb, hielten sich während des gesamten Mittelalters abergläubische Vorstellungen und Ansichten bei den Bauern und einfachen Bürgern, die von Generation zu Generation weitergegeben wurden und an die einige auch heute noch glauben.

Wie schon erwähnt, lebte die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung außerhalb der Stadtmauern. Begründet vor allem im herrschenden Feudalismus und der bäuerlichen Schollenpflicht. Bauern war es unter Androhung von harten Strafen verboten, das Land, das sie bewirtschafteten, zu verlassen. Einige taten das aber doch. Wenn sie aber erwischt wurden, dann gab es keine Gnade für sie.

Zwar gab es schon seit dem 6. Jahrhundert im Deutschen Reich geschriebene Gesetze; wie sie interpretiert wurden, war aber Sache der Adeligen. Falsche Geständnisse wurden oft mittels Folter erzwungen.

Von Albrecht wurde nun erwartet, dass er mit seinen Soldaten die Hauptlast des Kreuzzuges gegen die Hussiten trug. Er hatte aber keine Soldaten, nur eine kleine Burgwache. Auch Geld hatte er nicht, das zur Anwerbung von Söldnern nötig war. Wie konnte er so die Wünsche des Papstes und seines zukünftigen Schwiegervaters ehrenhaft erfüllen? Fixe stehende Heere entwickelten sich erst in der Frühen Neuzeit.

 

Albrecht musste also erstens Offiziere ernennen, dann Bauern und Arbeiter zwangsrekrutieren und auch Söldner anwerben; ohne Geld war das alles nicht möglich.

Dann musste man die künftigen Offiziere auch noch ausrüsten: Mit Angriffs- und Verteidigungswaffen. Wie etwa mit Lanzen, dem Morgenstern, dem Schwert und auch einem Dolch. Zu den Verteidigungswaffen gehörte auch die Rüstung mit Helm und Schild. Die einfachen Soldaten kämpften mit Mistgabeln, Dreschflegeln, Holzprügeln oder was eben gerade zur Hand war. Ihr Leben zählte ohnehin nicht viel.

„Durchlaucht! Ein Bote vom Handelshaus Fugger ist soeben von Augsburg aus eingetroffen. Er überbringt eine Botschaft“, meldete man ihm.

„Na endlich“, freute sich Albrecht. Er hatte vor einigen Wochen einen Kurier zum Handelshaus gesandt und um Gewährung eines neuerlichen Kredites gebeten.

Die Fugger zählten damals zu den reichsten Bürgern des Reiches und hatten schon manchem Fürsten, auch dem Kaiser, aus Geldverlegenheiten geholfen. Allerdings galten sie auch als sehr harte Bankiers, die kategorisch auf die Einhaltung abgeschlossener Vereinbarungen bestanden. Albrecht war sich aber sicher, dass sie seinen Kreditwünschen entsprechen würden. Ging es doch um die heilige Sache der Kirche gegen die Hussiten.

Er tat sich mit dem Lesen etwas schwer. Also schickte er nach seinem Beichtvater, dem Prior der Kartause Gaming, Leonhard II., dass dieser ihm die Nachricht vorlese. Der Prior hielt sich ohnehin meist in Wien auf, da er von hier aus seinen unheilvollen Einfluss auf den jungen Herzog stärker ausüben konnte.

Lesen und Schreiben waren im Mittelalter zwei Fähigkeiten, die nicht unabdingbar miteinander verknüpft waren und als getrennte Unterrichtsgegenstände gelehrt wurden. Lesen diente primär zur Ausbildung des priesterlichen Nachwuchses. Kleriker mussten des Lesens kundig sein und gut singen können. Schreibfähigkeiten wurden vorerst nicht verlangt. Die Sprache der Kleriker und Gelehrten war Latein.

Schätzungen zufolge konnten im Spätmittelalter nur etwa zehn Prozent der städtischen Bevölkerung lesen und schreiben. Vor allem der Klerus, Kreise des Adels sowie Ratsherren und Kaufleute in großen Städten. Albrecht zählte nicht unbedingt dazu. Zwar hatte man versucht, ihm die Künste des Lesens beizubringen, aber der Schüler ging viel lieber auf die Jagd, anstatt zu lernen.

Die adelige Kultur war ohnehin nur mündlich ausgelegt. Man stand der Schriftkultur sogar ablehnend gegenüber. Nur adelige Frauen oder Adelige, die dem geistlichen Stand beitreten sollten, eigneten sich diese Fähigkeit an. Vermutlich konnte auch König Rudolf von Habsburg (1218 – 1291) weder lesen noch schreiben.

Leonhard, der fromme Mann aus Gaming, ein noch jüngerer Mann, katzbuckelte in Albrechts Kemenate, nahm die Nachricht und las sie dem Herzog laut vor:

Eure Durchlaucht! Ich habe ihren Wunsch nach Geld erhalten, bedaure aber, ihnen mitteilen zu müssen, dass ich diesem leider derzeit nicht nachkommen kann. Wenn sie sich gütigst erinnern mögen, dann habe ich die letzten drei Zahlungen ihres alten Kredits noch nicht erhalten. Verträge haben nur dann Sinn, wenn sie auch von beiden Seiten eingehalten werden. Demütig grüßt Jakob Fugger sie.

„Verflucht und verdammt“, brüllte Albrecht. Vor Wut ganz rot im Gesicht. „Verdammter Muzzenson10!“

Ob des Gefluches schlug der Prior schnell dreimal ein Kreuz. „Durchlaucht, benötigt ihr mich noch?“

„Ach, scher er sich doch zum Teufel, verdammter Zungenklaffer11!“, legte Albrecht noch einen unfrommen Wunsch drauf. „Geh und hol er mir den Musterer12 her! Wenn nötig schleif ihn an Haaren zu mir!“ Dem Herzog blieb nichts anderes über, als den unsympathischen Kerl – sie konnten sich gegenseitig nicht leiden – anzuweisen, aus den Bürgern der Stadt noch mehr Geld herauszupressen. Ein Vorhaben, dem sich der Bürgermeister sicher widersetzen würde, wusste der Herzog.

Genauso war es dann auch!

„Durchlaucht! Ich glaube nicht, dass die Bürger der Stadt noch über ausreichende Mittel verfügen, um eurem Wunsch nachzukommen“, salbaderte der Bürgermeister und verbeugte sich.

„Das ist kein Wunsch! Das ist ein Befehl“, schnauzte Albrecht zurück.

„Gewiss, gewiss, Durchlaucht! Wie ihr aber sicher auch wisst, haben wir zurzeit ernsthafte Probleme mit dem Handel und dem Stapelrecht. Wenn sich die Lage bessert, dann könnten wir…“

„Das wagst du mir zu sagen, elender Hund?“

Musterer verharrte gebückt und schwieg.

Albrecht war die derzeitige Krise wohl bekannt: Vor dem Hintergrund zahlreicher politischer Umbrüche in Österreich und Wien selbst, wie auch in den Nachbarländern, entstanden in der Stadt immer wieder Spannungen und miteinander im Widerstreit liegende Gruppierungen.

All dies hatte ausgesprochen negative Auswirkungen auf die Wiener Wirtschaft und deren Träger die um diese Zeit durchaus überregionales Profil und Bedeutung besaßen. Das meist exportierte Gut der Stadt war damals der Wein.

Die Schwerpunkte des Handelsgeschehens verlagerten sich noch dazu immer mehr vom Mittelmeer nach Westeuropa und das Stapelrecht Wiens13 erwies sich als immer weniger wirkungsvoll.

„Durchlaucht! Habt ihr sonst noch irgendwelche Wünsche, die ich euch erfüllen darf?“, fragte Musterer.

„Ha! Wünsche? Oh ja! Scher dich auch zum Teufel, du stingender Hunt14! Und komm‘ mir demnächst nicht mehr unter die Augen! Raus mit dir!“

Musterer ging unter vielen Verbeugungen hinaus. Albrecht blieb allein. Er stützte seinen Kopf in die Hände und begann bitterlich zu weinen. Tränen der Wut und der Enttäuschung!