Paradies am Teich

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Aus der Reihe: Metamour #2
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Paradies am Teich
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Jörn Holtz

Paradies am Teich

Metamour Teil 2

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Inhaltsverzeichnis

Titel

PROLOG

Rendezvous

Gelebte Utopie

Dubios

Der karnivore Geliebte

Apologie

Beltane

Hereinbrechende Gestirne

Bizarrer Habitus

Provokative Reunion

Himmel, Erde und Anderswelt

Pavor

Die Erkenntnis

Das Ende des Festes

Morgendämmerung

Kompensierende Fairness

Drangsal

Zurück in Saint Tropez

Succubus

Chère grand-mère

Die neuen Sommergäste

Ein kleines Universum, in einer großen Petrischale

Jähe Entfaltung

Zwielicht

Futuristik

Martyrium

Zäsur

Offenbarung

Palingenese

EPILOG

Impressum neobooks

PROLOG


Der ärgste Feind, ist nicht um uns herum, er ist in uns

und meldet sich dann immer zu Wort,

wenn es still um uns herum wird.

Ihn kannst du nicht bekämpfen,

ihn kannst du nur lernen zu verstehen,

und zu lieben. Lerne wieder zu Lieben!“

Für Frau S.

Wieso?‘, fragte er sich gerade noch, als er mit einem Mal hellwach war. Danach war er nicht mehr in der Lage, auch nur irgendeinen Gedanken zu erfassen, da ein in doppeltem Sinne wahnsinniger Schmerz von seinem rechten Bein ausgehend, den ganzen Körper hinauf strahlte. Wie von Sinnen wälzte er sich daraufhin auf seiner Schlafstätte hin und her, während er seinen rechten Oberschenkel fest umklammert hielt. Doch das Gefühl, als ob man ihm gerade ein glühendes Stück Eisen in die Wade rammte, wollte nicht nachlassen.

Wieso?‘, fragte er sich erneut, als er nach einer gefühlten Ewigkeit völlig verschwitzt und außer Atem auf den Atlantik hinaussah.

Jedoch nach dem Warum, fragte er schon lange nicht mehr. Denn er hatte sehr schmerzhaft lernen müssen, dass wenn man diese Frage zu beharrlich stellt, man aufpassen sollte, was man als Antwort zurückbekommt.

Außerdem wollte er nicht mehr trauern oder sich selbst bemitleiden. Vor allem aber wollte er kein Mitleid mehr in den Blicken der anderen entdecken, wenn sie ihn ansahen. Denn jeder dieser Blicke brannte sich in seine Seele und verfolgte ihn des Nachts in seinen Träumen. Und auch wenn er für jeden dieser Blicke einen Euro bekommen hätte und er aufgrund dessen jetzt wohl ein reicher Mann wäre, könnte er sich dennoch nicht das kaufen, wonach er sich an meisten sehnte, neben all den anderen Dingen, die er damals in nur einer Nacht verloren hatte.

Zwar hatte er gelernt mit den Folgen zu leben, dennoch spürte er seinen Verlust auf Schritt und Tritt.

Aus diesem Grund, sowie aus der Summe der vielen anderen kleineren Befindlichkeiten erwuchs in ihm irgendwann die Erkenntnis: Dass, wenn sich die Dinge nicht mehr ändern lassen, man dennoch die Wahl hat, wie und wo man weiter vegetiert. Und so war er über diverse Umwege hier gelandet.

Hier das ist die Playa de las Arenas, ein Traumstrand vieler Aussteiger, die hier, ebenso wie er, nach dem Sinn des Lebens oder irgendwas anderem suchten. Doch bis auf die Erkenntnis, dass dieser Traumstrand nicht weiß, sondern schwarz ist, war seine Suche bisher erfolglos geblieben, was sich wunderbar in seine Gesamtsituation einfügte.

Dennoch mochte er seine Einsiedelei direkt am Wasser. Denn nur im Wasser fühlte er sich wirklich frei und unbeschwert, da er nur dort alles vergessen konnte, was ihn im Alltag ansonsten behinderte. Außerdem hatte er die Hoffnung noch nicht ganz aufgegeben, ein paar Delphine zu treffen, auch wenn alles andere ihm zumeist hoffnungslos erschien.

Rendezvous

Mist, das hatten wir doch alles schon!‘, schreckte Martin aus einem dieser sich seit Jahren endlos wiederholenden Alpträumen hoch, als er von draußen eine ihm unbekannte Stimme hörte.

Wobei ihm bewusst war, dass er an diesem Strandabschnitt nicht allein war. Nur hatte er mittlerweile eine Abneigung gegen diese gemeinen Touristen entwickelt, die vor seiner Höhle immerzu dieselben Geschichten aus irgendeinem billigen Reiseführer vorlasen: ‚Ja, ja dies hier ist die legendäre Schweinebucht, mit dem noch gut erhaltenen Kackfelsen bla, bla, bla…‘. Als ob eine öffentliche Latrine eine Touristenattraktion sein könnte?

Und tatsächlich hörte er wieder jemanden diese Geschichte erzählen. Nur war die Geschichte dieses Mal viel lebendiger als sonst, so als ob die Erzählerin diese längst vergangene Zeit selbst miterlebt hatte. Doch nein, das konnte nicht sein, denn dazu hörte sich diese Stimme viel zu jung an. Deshalb erhob er sich neugierig von seiner Lagerstätte und schleppte sich zum Ausgang, um zum Strand hinunterzuspähen.

Geblendet von der schon tiefstehenden Sonne, kniff er zunächst einmal blinzelnd die Augen zusammen, dann betrachtete er die Gestalt der drahtigen, mittelalten Blondine im Gegenlicht, welche gerade diese Geschichte sehr anschaulich zwei anderen Personen erzählte, die ebenfalls nicht genau zu erkennen waren. Dabei stellte er ärgerlich fest, dass die Sonne gleich unter gehen würde.

Denn der Sonnenuntergang war eins der schönsten Dinge, was diese Bucht zu bieten hatte. Dies schienen wohl auch die Fremden zu wissen, da diese gerade ihre mitgebrachten Strandmatten ausrollten. Als die Blondine auch noch eine Gitarre vom Rücken nahm und anfing mitgebrachtes Holz aufeinander zu schichten, wurde er noch ungehaltener, da dies seinen Plan für den Abend wohl gänzlich vereitelte. Daher blieb ihn nichts anderes übrig, als im Schatten seiner Höhle zu verharren, wobei er die schmächtige Blondine des Trios beobachtete, die seine Aufmerksamkeit erregt hatte.

Sie schien anders zu sein, als ihre beiden Begleiter und das lag nicht nur an ihrer äußeren Erscheinung. Denn sie trug eine braune Culotte, ein passendes lilafarbenes, nabelfreies Top, ein gleichfarbiges Tuch, dass ihre Haare zusammenhielt sowie eine lange Holzkette, die aus mittelgroßen Kugeln bestand, dessen Ende ein Amulett aus Bernstein schmückte. Was in etwa seiner Vorstellung von den Freaks entsprach, die hier irgendwann einmal gehaust haben mussten.

Nachdem er sie eine Zeitlang beobachtet hatte, war er endgültig davon überzeugt, dass sie von dieser Insel stammen musste, auch wenn sie nahezu akzentfrei Deutsch sprach. Ihre beiden Begleiter hingegen, waren eindeutig deutsche Touristen.

Nachdem die Sonne endgültig im Meer versunken war und die zarte Blondine die Gitarre zur Seite gelegt hatte, erstarrte er überrascht. Denn plötzlich fing sie an sich auszuziehen und das nur knapp zwanzig Meter von ihm entfernt. Gut beleuchtet, durch das helle Licht des nahezu vollen Mondes, konnte er nun deutlich ihren sehnigen Körper erkennen, den sie völlig ungeniert vor ihren Begleitern präsentierte.

Er konnte sein Glück noch gar nicht richtig fassen, da folgte die athletische Brünette ihrem Beispiel und ließ ihr Kleid einfach in den schwarzen Sand hinuntergleiten, was ihm endgültig den Atem verschlug.

 

Denn auch ihren Körper konnte er nun deutlich im silbrigen Mondlicht erkennen und diesen konnte man auch einfach nicht übersehen, da unter ihrem weiten Sommerkleid ein, für eine Frau ungewöhnlich muskulöser Rücken auftauchte, der wohl nur von jahrelangem exzessivem Training herrühren konnte.

Oh, man!‘, lechzte er leise, während er kurz neidisch auf ihren Begleiter starrte. Der jedoch unternahm zu seiner Überraschung keinerlei Anstalten, sich ebenfalls seiner Kleidung zu entledigen. Weshalb Martin verwundert seinen Kopf hin und her schüttelte. Denn wenn er an seiner Stelle wäre, würde er sich nicht zweimal bitten lassen. Aber er war nicht an seiner Stelle und wird es wohl auch nie sein, gestand er sich einen Augenblick später enttäuscht ein. Dabei glitt sein Blick an seinem bei weitem nicht makellosen Körper hinunter.

Missmutig und wieder mal mit seinem Schicksal hadernd, wollte er sich gerade von dem romantischen Schauspiel unten am Strand abwenden, da drehte sich die Brünette plötzlich zu ihm ins Profil und erregte so wieder seine Aufmerksamkeit.

Denn nun konnte er deutlich die Silhouette ihres überaus ansprechenden Busens erkennen, der sich über einen wider Erwarten nicht ganz flachen Bauch erhob. ‚Nanu, das ist ja merkwürdig?‘, stutzte er und kniff seine Augen noch mehr zusammen. Infolgedessen machte sich seine rechte Hand sich selbstständig, weil er augenblicklich seinen lang unterdrückten Gelüsten ergab, während sein Blick auf die athletische Brünette gerichtet blieb.

Doch als die Brünette plötzlich und ohne ersichtlichen Grund sich zu ihm hindrehte und auf ihn zugelaufen kam, blieb sein Blick zuerst auf ihrem sich geschmeidig hin und her wiegenden Busen hängen, bevor er sich seiner Situation bewusstwurde und innehielt. Dann duckte er sich im nächsten Moment in den Schatten des Felsens hinunter, der neben dem Eingang lag. Dort bemühte er sich vorsichtig seine Hose hochzuziehen, wobei er angestrengt den Geräuschen um sich herum lauschte. Deshalb konnte er deutlich hören, wie die hübsche Unbekannte erst schnell näherkam, bevor sie in seiner unmittelbaren Nähe stehen blieb.

Ach Martin, du bist ein Spanner und ein echt schlechter noch dazu!‘, ohrfeigte er sich gerade selbst innerlich, als er unerwartet deutliche Würgelaute aus ihrer Richtung vernahm. Verwirrt und neugierig zog er sich daraufhin am Felsen wieder ein Stück hinauf, wobei der noch offene Gürtel seiner Hose ein hörbar kratzendes Geräusch erzeugte.

Mist!‘, fluchte er leise, wobei er verärgert sein Gesicht verzog und den Felsen wieder hinunterglitt. Dann lauschte er erneut und erbleichte, denn das wenig schicksame Geräusch erstarb augenblicklich und es folgte eine bedrückende Stille.

Erst nach einer gefühlten Ewigkeit, siegte bei ihm die Neugier über seine schamhafte Furcht, woraufhin er es abermals wagte, über den Felsen hinweg die gegenwärtige Situation in Augenschein zu nehmen. Dabei war er dieses Mal darauf bedacht, keine verräterischen Geräusche zu machen, während er sich erneut den Felsen hinaufzog.

Als er schließlich über den Felsen hinweg nach links linste, stellte er zu seiner Erleichterung fest, dass die Aphrodite vor ihm, viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt war, als dass sie ihn bemerkt haben konnte. Doch dann erstarrte er erneut, als er einen kurzen Blick auf ihr noch leicht rötlich verzerrtes Gesicht erhaschen konnte. Er wusste zwar, dass die Welt ein Dorf sein konnte, doch hätte er gerade sie hier nie erwartet.

Denn neben ihm im schwarzen Sand kniete seine heimliche Jugendliebe, die er vor über 10 Jahren fanatisch angehimmelt hatte, ohne auf Erwiderung zu hoffen, und die nun, gut dreieinhalbtausend Kilometer von zuhause entfernt, ihm unverhofft ihren unverhüllten Po entgegenstreckte.

Langsam versank die Sonne vollends im Meer und mit ihr die letzten Akkorde von Cat Stevens: Morning has Broken, die Lotta auf der alten Westerngitarre von ihrem kürzlich verstorbenen Vater gespielt hatte. Nach einem traurigen Seufzer hob sie langsam ihren Kopf und sah ihre Metamours mit leicht verquollenen Augen an. „Und, habe ich euch zu viel versprochen?“, fragte sie leise mit belegter Stimme.

„Nein, es war wirklich wunderschön“, sah Anne sie mitfühlend an, wobei sie ihrer Geliebten sanft über den linken Unterarm strich, „und irgendwie spürt man noch immer die Magie, die dieser Ort ausstrahlt“. Dabei wanderte ihr Blick den Strand entlang. Erst dann bemerkte sie das Lotta mit den Tränen kämpfte. „Ach Süßen, kann ich vielleicht irgendetwas für dich tun?“

„Nein, ist schon in Ordnung! Bernd würde es nicht wollen, dass man um ihn weint. Er hatte doch immer eine so positive Lebenseinstellung und vertrat die Meinung, dass wir durch unsere Gedanken und Taten in den anderen weiterleben!“, erwiderte Lotta, bevor sie aufstand, um aufs Meer hinauszublicken.

Während ihr Blick über die Wellen der Brandung glitt, tauchten vor ihrem geistigen Auge Szenen einer längst vergangenen Epoche auf. In denen hier noch überall am Strand Lagerfeuer brannten, um die sich ihre neu formierte Familie und ihr selbstgewählter Clan, sowie auch fremde Brüder und Schwestern scharrten. Sie alle waren aus ihrem schnöden Alltag ausgebrochen, in der noch prüden und grauen deutschen Nachkriegsgesellschaft, um hierher zu kommen, wenn auch viele nur für kurze Zeit.

Versunken in den psychedelischen Klang von Trommeln und Gitarren tanzten einige von ihnen in ekstatischen Bewegungen, meditierten, rauchten oder liebten sich hier öffentlich. Diese Bucht war ihnen lange Zeit ein Zuhause, Wohn-, Schlaf- und Badezimmer in einem. Bis eines Tages der Druck der einheimischen Bevölkerung gegen dieses, wie sie es nannten: gottloses Treiben, zu stark wurde, und die Alten ihres Clans beschlossen im Hinterland sesshaft zu werden.

Zwar kehrten sie immer noch regelmäßig hierhin zurück, um beispielsweise so wie jetzt den Sonnenuntergang zu genießen. Dennoch wurde es nie wieder so wie früher, wo es nur ums nackte Sein und ums Erfahren ging. Denn nachdem die Miliz den Strand geräumt und ihre behelfsmäßigen Unterkünfte in Brand gesteckt hatte, war diese unbeschwerte Ära ein für alle Mal vorbei.

Eine große Anzahl der Schwestern und Brüder kehrte enttäuscht oder aus sozialen Zwängen in ihr verpöntes, bürgerliches Leben zurück. Ein Teil von Lottas Clan jedoch blieb zusammen und schuf sich weit hinten im Tal ein neues Zuhause und eine eigene Gesellschaftsform, die hier ihren Ausgangspunkt genommen hatte.

„Ja, dieser Ort ist wirklich magisch!“, nickte Lotta zustimmend, wobei sie sehnsüchtig erneut aufs Meer hinaussah. Während ihr Blick durch die Brandung glitt, verspürte sie auf einmal den Wunsch, sich mit ihnen zu vereinigen. „Habt ihr eigentlich auch Lust zu baden?“, zog sie kurzentschlossen ihre Hose aus, bevor sie ihre Begleiter, auffordernd, fragend ansah. Dann folgte ihr Top und das Tuch, dass sie um die Haare trug, sowie die Kette und so stand sie schon nackt vor ihnen, bevor die beiden irgendeine Antwort von sich geben konnten.

Überrascht, aber nicht verblüfft sahen sich Anne und Ole kurz an, was für Lotta aber schon zu lange dauerte. „Was ist, keine Lust? Ihr wollt mich doch nicht allein baden lassen, oder?“, stemmte sie ungewohnt ungeduldig ihre Arme in die Seite.

„Ähm, doch!“, kratzte Ole sich verlegen am Kopf, bevor er zu Lotta hochsah. „Ja aber, das geht doch nicht! Hier stehen doch überall Schilder herum, auf denen für jedermann gut lesbar steht: Kein FKK!“

„Ach Ole!“, schüttelte Lotta sich auf einmal vor Lachen und lies ihren kleinen rechten Zeigefinger vor seinem Gesicht hin und her wackeln. „Um diese Uhrzeit ist das schon okay. Denn um diese Uhrzeit schlafen die streng katholischen Gomeros schon“, griente sie ihn verwegen an.

Gelebte Utopie

Langsam erwachte Ole aus einem unruhigen Schlaf, während er zufrieden mit der linken Hand sanft über Annes muskulösen, unbedeckten Rücken strich. Vorsichtig bewegte er sich dabei etwas hin und her, um so eine bequemere Position für sich zu finden. Denn sein eigener Rücken schmerzte gerade unangenehm, obwohl er es mittlerweile gewohnt war, auf dem Rücken zu schlafen.

Dann jedoch schloss er erneut seine Augen, um weiter einen Gedanken nachzuhängen, der sich mit seiner neuen Heimat beschäftigte.

Seine neue Heimat war seit kurzem La Gomera, ein fast paradiesisch anmutender Fleck aus Vulkangestein, der aufgrund seiner geographischen Lage mit ewig frühlingshaften Temperaturen gesegnet ist. Daher ist diese wunderschöne Kanareninsel auch seit Jahrzehnten das Ziel vieler Aussteiger, die hier dem ungemütlichen Klima Mitteleuropas entfliehen.

Doch als Aussteiger sah er sich nicht, wenn dann schon eher als Umsteiger, den es durch die Verstrickung mehrerer glücklicher Umstände hierhergeführt hat. Zuvor hatte er sein altes Leben, als Support Engineer für ein großes amerikanisches Unternehmen, gegen das einfache Leben hier in dieser nahezu tropischen Landschaft eingetauscht.

Dabei stellte er bald fest, dass das einfache Leben hier, bei näherer Betrachtung auch nicht immer einfach war, auch wenn dieses zauberhafte Tal im Südwesten von La Gomera, mit seinen Bananenplantagen und mit seinen jahrhundertealten künstlichen Terrassen, auf den ersten Blick etwas anderes versprach.

Zwar plagten sich hier die Bewohner noch nicht mit den schnöden Wohlstandskrankheiten oder dem medialen Overflow einer westlichen Industriegesellschaft herum, doch war auch hier die Zeit nicht stehen geblieben und die meisten der verbliebenen deutschen Migranten waren mittlerweile weitestgehend in die Gesellschaft integriert. Dabei hatten sie einen mehr oder weniger ausgeprägten Unternehmergeist entwickelt, nur eben anders als in ihrer alten Heimat.

Am meisten spürte er dies hier im El paraíso en el charco, einer kleinen Ansammlung von einfachen Fincas an einem wunderschönen, natürlichen Teich, hoch oben am nordöstlichen Ende der grünen Talzunge von Valle Gran Rey. Hierhin hatten sich Mitte der Siebziger Jahre einige der verbliebenen deutschen Immigranten zurückgezogen, um ihren Traum von einer anderen Gesellschaftsform in die Tat umzusetzen.

Als eine New Community wollten sie hier zusammenleben, lieben und arbeiten, um so eine im industrialisierten Westen längst verlorengeglaubte Ganzheit wieder zu beleben. Zwar hatte sich vieles seit damals verändert und weiterentwickelt, dennoch konnte man deutlich spüren, dass sie das Wesentliche ihres Traums nicht aus den Augen verloren hatten.

Für Ole hingegen als nüchterner, kopfgesteuerter Informatiker, stellte dieses Gegenmodel noch immer eine Art utopische Gesellschaftsform dar, die ihn jedoch sehr real umgab.

Denn während er weiterhin Anne zärtlich über den Rücken strich, kuschelte sich auf einmal auf der anderen Seite Lotta in seinen Arm. „Buenas Diaz! Hast du auch so gut geschlafen?“, gähnte sie leise, wobei sie ihm zärtlich einen Kuss auf die Wange gab.

„Hm“, brummte er gerade zustimmend, als ein lauter Gong erklang, der die zumeist noch schlafende Gemeinschaft zum Frühsport aufrief.

„Mist, schon so spät?“, sah sie überrascht auf die Uhr. „Mir kommt es vor, als wären wir gerade erst ins Bett gegangen“, wuselte sie dabei in ihren kurzen blonden Haaren herum, bevor sie sanft über Annes Wange strich, die daraufhin lächelnd die Augen öffnete.

„Nein, im Bett waren wir schon recht früh!“, küsste sie zuerst Lotta und dann Ole, bevor sie ihm überraschend munter direkt in die Augen sah. „Vamos!“, nickte sie ihn aufmunternd zu, bevor sie ihm einen weiteren Kuss auf die Lippen hauchte. „Dann mal raus aus den Federn! “, erhob sie sich und stieg über ihn hinweg aus dem Bett.

Ole dachte jedoch nicht daran aufzustehen, denn wie jeden Morgen genoss er zunächst einmal den Anblick ihres durchtrainierten Körpers, während sie vor dem bodentiefen Fenster, von dem man einen wunderschönen Blick ins Tal hatte, ein paar Dehnübungen machte, um sich fürs Laufen aufzuwärmen. Als der Gong zum zweiten Mal ertönte, wurde es auch für ihn und Lotta Zeit sich zu erheben, und anzuziehen.

Frühsport an sich und ausgedehntes joggen gleich nach dem Aufstehen in speziellem gehörten eigentlich nicht zu den Dingen, auf die Ole sich überschwänglich freute. Doch schien zumindest sein Körper sich zu assimilieren, so dass er es neuerdings sogar ein wenig genießen konnte, mit den anderen am Rande des immergrünen Nebelwaldes entlangzulaufen, ohne dass er von Seitenstichen oder Kurzatmigkeit geplagt wurde.

 

Den krönenden Abschluss, dieses sportlichen Ausfluges am Busen der Natur, bildete dabei stets ein gemeinsames Bad in dem großen, natürlichen Teich im Herzen ihrer kleinen Siedlung.

Als er zum ersten Mal an diesem öffentlichen Bad teilgenommen hatte, kam es seiner Vorstellung von einem Garten Eden sehr nahe. Denn egal, ob jung oder alt, alle gaben sich hier völlig natürlich und plantschten ausgelassen herum, wobei selbst die anwesenden Teenager keine Probleme mit ihren sich transformierenden Körpern hatten.

Während des darauffolgenden gemeinschaftlichen Frühstücks, fühlte Ole sich durch das Bad im eiskalten Wasser erfrischt und voller Tatendrang, was neu für ihn war, ebenso wie das Gefühl, sich als ein Teil einer großen informellen Gemeinschaft zu fühlen. Dieses Gefühl gefiel ihm mittlerweile sehr, nach all der Zeit, der zumeist selbst gewählten Einsamkeit und der körperlichen Gebrechen. So haderte er auch mit der Meinung von einigen der älteren Kommunarden. Denn diese sogenannten Stones betrachteten Anne und ihn bisher lediglich als Sommergäste von Lotta. Nur hoffte er nicht, dass sie am Ende Recht behielten. Lag sein altes Leben gerade nicht nur entfernungsmäßig sehr weit weg von diesem lebens- und liebenswerten Ort.

Als kleine Anerkennung, so empfand er es zumindest, war ihm seit kurzem die Aufgabe übertragen worden, sich um die wirtschaftlichen Belange der Gemeinschaft zu kümmern. Denn diese verpönte monetäre Aufgabe war den meisten der Stones, aufgrund ihrer antimaterialistischen Haltung, naturgemäß zuwider, wollten sie sich doch lieber mit höheren Dingen beschäftigen. Dies konnte er nachvollziehen, was ihn jedoch wunderte, war dass sie sich dann aus seiner Sicht eher niederen Tätigkeiten zuwandten, wie beispielsweise der Landwirtschaft, handwerklichen Tätigkeiten oder dem Betreiben von Restaurants, von denen die Gemeinschaft insgesamt drei Stück besaß.

Ole hingegen freute sich über seine neue Aufgabe, da es ihm die Möglichkeit bot, hinter die Funktionsweise des HFNCI zu schauen. Anne hingegen, als quasi zweite Novizin der Gemeinschaft, wurde als angehende Pädagogin und Mutter die Aufgabe zuteil, sich um die Betreuung der Kleinen der Kommune zu kümmern, was sie auch liebevoll tat.

Die Hippe Freak New Community International oder kurz HFNCI, war die Organisation, die Lottas Vater mit ein paar Gleichgesinnten vor gut dreißig Jahren gegründet hatte, um ihren Traum von einer idealen Welt im Kleinen zu erhalten, nachdem ihnen die Gründe, die Anfang der siebziger Jahre zum Scheitern der Countercultur in Amerika geführt hatte, wie ein Fanal erschien. Denn zu diesem Zeitpunkt kehrten auch hier viele ihrer Brüder und Schwestern ernüchtert oder aus sozialen Zwängen in das schnöde Leben ihrer Elterngeneration zurück. Deshalb unternahm Lottas Clan etwas, dass man ihnen als ein Teil eines bis dahin nicht arbeitenden, mystisch orientierten Strang dieser Subkultur eigentlich nicht zugetraut hatte, und schuf mit dieser Organisation etwas Nachhaltiges.

Etwas Nachhaltiges hatte diese Gemeinschaft auch bei Anne schon hinterlassen. Nachdem sie sich von dem Schock erholt hatte, dass sie von einem eher enttäuschenden one-night Stand schwanger war, konnte sie sich im Kreis der Gemeinschaft dazu durchringen, das ungeborene Leben zu behalten, entgegen ihren eigentlichen straff organisierten Zukunftsplänen.

Als äußeres Zeichen dieser inneren Einkehr und als eine Art Initiationszeichen, hatte sie sich einen fröhlichen Smiley, der frech seine Zunge rausstreckte auf den Po tätowieren lassen. Dieser sollte den Bruch mit ihrer Vergangenheit dokumentieren, in der sie sich ohnmächtig unter der Knute ihres übermächtigen Vaters wähnte.

Nach dieser Renaissance stand sie auch öffentlich zu ihrer, bis dahin sorgsam unterdrückten, sexuellen Neigung für beide Geschlechter und die Polyamory geprägte Umgebung hier ermöglichte ihr das unbeschwerte Ausleben ihrer Persönlichkeit.

Dieser Smiley, den Lottas Mutter als junge Designstudentin entworfen hatte, war mit der Zeit nicht nur ein modisches Accessoire, sondern auch das Markenzeichen des HFNCI geworden und zierte ebenfalls viele Produkte der Organisation.

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