Buch lesen: «Der reiche Mann», Seite 3
Glücklicherweise nicht eine jener neumodischen Pantomimen von diesem Wagner.
Er setzte seinen alten Claque auf, der mit seinem ungeheuren Umfang und der vom Gebrauch abgenutzten Krempe einem Sinnbild besserer Tage glich, zog ein paar alte, sehr dünne, lavendelfarbene Glacéhandschuhe hervor, die infolge der gewohnten Nachbarschaft mit dem Zigarrenetui in der Rocktasche stark nach Juchtenleder dufteten, und stieg in eine Droschke.
Der Wagen rasselte lustig durch die Straßen, deren ungewöhnliche Belebtheit den alten Jolyon überraschte.
»Die Hotels müssen ein ungeheures Geschäft machen,« dachte er. Vor ein paar Jahren hatte es hier noch keins dieser großen Hotels gegeben. Mit Befriedigung erinnerte er sich eines Grundstücks in der Nähe, das ihm gehörte. Sein Wert mußte mit rapider Geschwindigkeit steigen! Was für ein Verkehr!
Aber dann versank er in eine jener sonderbaren unpersönlichen, für einen Forsyte so uncharakteristischen Betrachtungen, auf denen aber zum Teil das Geheimnis seiner Überlegenheit über die andern beruhte. Was für Atome waren doch die Menschen, und was für eine Menge es gab. Und was wurde aus ihnen allen?
Er stolperte, als er aus der Droschke stieg, gab dem Kutscher genau den Fahrpreis, ging an die Kasse, um sein Billett zu kaufen und stellte sich mit der Börse in der Hand davor hin – er trug sein Geld immer in einer Börse bei sich und hatte die Gewohnheit es lose in der Tasche zu tragen, wie so viele junge Leute es heutzutage taten, nie gebilligt. Der Kassierer steckte den Kopf heraus wie ein alter Hund aus seiner Hütte.
»Ist's möglich!« sagte er in überraschtem Tone, »Sie sind's, Mr. Jolyon Forsyte! Wirklich! Habe Sie seit Jahren nicht gesehn! Du lieber Himmel! Die Zeiten haben sich geändert! Ja, ja, Sie und Ihr Herr Bruder und der Auktionator – Mr. Traquair und Mr. Nicholas Treffry – Sie hatten hier regelmäßig sechs oder sieben Plätze in jeder Spielzeit. Und wie geht's Ihnen denn, Mr. Forsyte? Man wird nicht jünger!«
Die Farbe in den Augen des alten Jolyon vertiefte sich; er zahlte seine Guinee. Man hatte ihn nicht vergessen. Er schritt unter den Klängen der Ouverture hinein wie ein altes Schlachtroß in den Kampf.
Seinen Hut zusammenklappend, setzte er sich, zog die lavendelfarbenen Handschuhe in gewohnter Weise aus und sah sich mit seinem Glas lange im Hause um. Endlich ließ er es auf seinen zusammengeklappten Hut sinken und heftete den Blick auf den Vorhang. Schmerzlicher denn je fühlte er, daß es mit ihm aus und vorbei war. Wo waren all die Frauen, die schönen Frauen, von denen das Haus sonst so voll gewesen? Wohin war das alte Gefühl im Herzen, wenn er auf eine der großen Sängerinnen gewartet? Wo jene Empfindung des Lebensrausches und der Macht das alles zu genießen?
Der eifrigste Opernbesucher seinerzeit! Jetzt gab es gar keine Oper mehr! Dieser Wagner hatte alles verdorben; keine Melodie mehr und keine Stimme sie zu singen. Ach! die wundervollen Sängerinnen! Dahin! Mit einem starren Gefühl im Herzen folgte er den altbekannten Szenen.
Von der Silberlocke überm Ohr bis zur Haltung, seines Fußes in den mit Gummizug versehenen Lackstiefeln war nichts Schwerfälliges oder Schwächliches an dem alten Jolyon. Er hielt sich ebenso – beinahe ebenso aufrecht wie in jenen alten Zeiten, da er jeden Abend hier gewesen; seine Augen waren noch ebenso – fast ebenso gut wie damals. Aber welch ein Gefühl von Müdigkeit und Enttäuschung!
Er war sein Leben lang gewohnt gewesen alles zu genießen – selbst Unvollkommenes – und es gab viel Unvollkommenes – er hatte alles mit Maß genossen, um sich jung zu erhalten. Aber nun hatten ihn seine Genußfähigkeit und seine Philosophie verlassen und ihm blieb nur dies furchtbare Gefühl, daß alles vorbei war. Nicht einmal der Chor der Gefangenen, noch Florestans Gesang vermochten die Trübsal seiner Einsamkeit zu zerstreuen.
Wenn doch Jo nur bei ihm wäre! Der Junge mußte jetzt nah an vierzig sein. Er hatte fünfzehn Jahre vom Leben seines einzigen Sohnes vergeudet. Und Jo war kein Paria der Gesellschaft mehr. Er war verheiratet. Der alte Jolyon war nicht imstande gewesen es sich zu versagen, seinem Sohn als Zeichen seiner Anerkennung dieser Tatsache einen Scheck über fünfhundert Pfund zu schicken. Der Scheck war in einem Brief aus dem ›Hotch Potch‹ zurückgekommen, der folgenden Wortlaut hatte:
›Mein liebster Vater.
Dein großmütiges Geschenk war als ein Zeichen dafür willkommen, daß Du schlimmer von mir hättest denken können. Ich schicke es Dir zurück, aber solltest Du gewillt sein, es zugunsten unseres kleinen Buben anzulegen (wir nennen ihn Jolly), der unsern Vornamen und als Vergünstigung unsern Familiennamen trägt, so würde ich mich sehr freuen.
Ich hoffe von ganzem Herzen, daß Deine Gesundheit wie immer nichts zu wünschen übrig läßt.
Dein dich liebender Sohn
Jo.‹
Der Brief sah dem Jungen ähnlich. Er war immer ein lieber Kerl gewesen. Der alte Jolyon hatte folgende Antwort geschickt:
›Mein lieber Jo.
Die Summe (fünfhundert Pfund) ist als Guthaben deines Jungen unter dem Namen Jolyon Forsyte in meine Bücher eingetragen und wird pünktlich mit fünf Prozent verzinst werden. Ich hoffe Du bist wohlauf. Mit meiner Gesundheit steht es gegenwärtig gut.
In alter Liebe
Dein getreuer Vater
Jolyon Forsyte.‹
Und alljährlich hatte er am ersten Januar ein Hundert und die Zinsen hinzugefügt. Die Summe wuchs an – am nächsten Neujahrstag mußten es fünfzehnhundert und etliche Pfund sein! Und es ist schwer zu sagen, welche Befriedigung ihm diese jährliche Transaktion gewährte. Aber die Korrespondenz hatte ein Ende.
Trotz der Liebe zu seinem Sohne und trotz eines Instinktes, der zum Teil in seiner Natur lag, teils wie bei Tausenden seiner Klasse ein Resultat fortwährender Handhabung und Bewachung von Geschäften war und ihn befähigte eine Handlungsweise mehr nach ihren Resultaten als nach Prinzipien zu beurteilen, blieb auf dem Grunde seines Herzens doch ein gewisses Unbehagen zurück. Sein Sohn hätte den Umständen nach auf den Hund kommen müssen. Das war in allen Predigten, Romanen und Theaterstücken, die er je gehört, gelesen oder gesehen hatte, das übliche.
Als er den Scheck zurückbekommen hatte, schien ihm da irgend etwas nicht in Ordnung zu sein. Warum war sein Sohn nicht auf den Hund gekommen? Doch wer konnte wissen?
Er hatte natürlich erfahren – das heißt, er hatte sich bemüht ausfindig zu machen – daß Jo in St. Johns Wood lebte, in der Wistaria Avenue ein Häuschen mit Garten besaß, seine Frau mit in Gesellschaft nahm – eine sonderbare Art von Gesellschaft wahrscheinlich – und daß sie zwei Kinder hatten – den kleinen Jungen, den sie Jolly nannten (den Namen fand er in Anbetracht der Verhältnisse geradezu zynisch, und der alte Jolyon fürchtete und verabscheute allen Zynismus) und ein Mädchen namens Holly, das nach der Heirat geboren war. Wer weiß, in was für Verhältnissen sein Sohn eigentlich lebte. Er hatte das von seinem Großvater mütterlicherseits erhaltene Erbteil zu Geld gemacht und eine Anstellung beim Lloyd genommen; und er malte Bilder – Aquarelle sogar. Der alte Jolyon wußte das, denn er hatte sie von Zeit zu Zeit heimlich gekauft, als er zufällig einmal den Namen seines Sohnes unter einer Themseansicht im Schaufenster eines Händlers entdeckt hatte. Er fand sie schlecht und hängte sie der Unterschrift wegen nicht auf, sondern bewahrte sie verschlossen in einem Schubfach auf.
In dem großen Opernhaus überkam ihn eine heftige Sehnsucht nach seinem Sohn. Er gedachte der Tage, wo er ihn in einem braunen Leinenkittelchen zwischen den Beinen hatte hin und her schwingen lassen, der Zeiten, wo er neben dem Pony des Jungen hergelaufen war und ihn reiten gelehrt, und des Tages, an dem er ihn zum ersten Mal in die Schule gebracht. Er war ein liebevoller, liebenswürdiger kleiner Kerl! Als er nach Eton gekommen war, hatte er vielleicht ein wenig zu viel von den wünschenswerten Manieren angenommen, die, wie der alte Jolyon wohl wußte, nur an solchen Orten und mit großen Kosten zu erwerben waren; aber er war immer umgänglich geblieben. Immer ein guter Kamerad, selbst nach dem Aufenthalt in Cambridge – vielleicht ein wenig von oben herab infolge der Vorteile, die er dort gehabt. Des alten Jolyon Gefühle den öffentlichen Schulen und Universitäten gegenüber schwankten nie, und er bewahrte seine rührende Bewunderung wie sein Mißtrauen gegen ein System, das nur den Ersten des Landes zugute kam und an dem teilzunehmen ihm nie vergönnt gewesen war ... Jetzt, nachdem June fort war und ihn verlassen oder so gut wie verlassen hatte, wäre es ihm ein Trost gewesen, seinen Sohn wiederzusehen. Von diesem Verrat an seiner Familie, seinen Prinzipien, seinem Stande bedrückt, heftete der alte Jolyon seinen Blick auf die Sängerin. Ein armseliges Wesen – ein jämmerlich armseliges Wesen. Und dieser Florestan, ein wahrer Stock.
Es war aus. Die Leute waren heutzutage leicht zufrieden zu stellen.
Im Gedränge auf der Straße schnappte er einem kräftigen und viel jüngeren Manne vor der Nase eine Droschke weg, die dieser bereits als die seine betrachtet hatte. Der Kutscher wich vom gewohnten Wege ab, und der alte Jolyon öffnete die Klappe (er konnte Umwege nicht leiden), doch als sie wendeten, sah er sich plötzlich dem ›Hotch-Potch‹ gegenüber, und die geheime Sehnsucht, die ihn den ganzen Abend nicht verlassen hatte, trug den Sieg davon. Er ließ den Kutscher halten. Er wollte hinein und fragen ob Jo noch dazu gehörte.
Er ging hinein. Die Halle sah noch genau so aus wie damals, als er mit Jack Herring hier zu speisen pflegte und sie die beste Küche in London führten. Er sah sich mit dem scharfen festen Blick um, der ihm sein Leben lang dazu verholfen hatte besser bedient zu werden als die meisten Leute.
»Ist Mr. Jolyon Forsyte noch Mitglied des Klubs?«
»Jawohl, Sir, er ist augenblicklich hier. Wen darf ich melden?«
Der alte Jolyon war bestürzt.
»Seinen Vater,« sagte er.
Und nachdem er dies gesagt, stellte er sich rückwärts an den Kamin.
Im Begriff den Klub zu verlassen, hatte der junge Jolyon den Hut aufgesetzt und wollte eben die Halle kreuzen, als der Portier ihm begegnete. Er war nicht mehr jung, sein Haar fing an grau zu werden, und das Gesicht – eine genaue Kopie desjenigen seines Vaters, mit demselben herabhängenden großen Schnurrbart – war sichtlich abgezehrt. Er erbleichte. Das Zusammentreffen nach all den Jahren war furchtbar, denn nichts in der Welt war so furchtbar wie eine Szene. Sie gingen auf einander zu und reichten sich ohne ein Wort die Hände. Dann sagte der Vater mit einem Beben in der Stimme:
»Wie geht's dir, mein Junge?«
Der Sohn erwiderte:
»Und dir, Papa!«
Des alten Jolyon Hand zitterte in dem dünnen lavendelfarbenen Handschuh.
»Wenn du den gleichen Weg hast, kann ich dich ein Stück mitnehmen.«
Und als wären sie gewohnt sich gegenseitig jeden Abend nach Hause zu begleiten, gingen sie hinaus und stiegen in die Droschke.
Dem alten Jolyon kam es vor, als sei sein Sohn gewachsen. Mehr Mann geworden, dachte er im stillen. Über dem von Natur liebenswürdigen Gesicht lag es wie eine Maske von Bitterkeit, als hätten seine Lebensumstände ihn genötigt, sich zu wappnen. Die Züge freilich verrieten völlig den Forsyte, aber der Ausdruck war mehr der eines in sich gekehrten Gelehrten oder Philosophen. Er hatte im Laufe dieser fünfzehn Jahre wohl auch häufig in sich hinein schauen müssen.
Den Sohn hatte der erste Anblick des Vaters offenbar erschreckt – er sah so abgezehrt und alt aus. Aber im Wagen schien es, als habe er sich kaum verändert, denn er hatte noch den wohlbekannten ruhigscharfen Blick und hielt sich aufrecht wie ehedem.
»Du siehst gut aus, Papa.«
»Ziemlich,« erwiderte der alte Jolyon.
Ihn quälte eine Angst, die er in Worte kleiden zu müssen glaubte. Nun er seinen Sohn wieder hatte, mußte er wissen, wie seine finanzielle Lage war.
»Jo,« sagte er, »ich wüßte gern, in was für Verhältnissen du lebst. Du hast vermutlich Schulden?«
Er wählte diese Form, um seinem Sohne das Geständnis zu erleichtern.
Dieser antwortete in seiner ironischen Art:
»Nein, ich habe keine Schulden!«
Der alte Jolyon sah, daß es ihn verstimmte und ergriff seine Hand. Es war ein Wagnis gewesen. Aber es war der Mühe wert, und Jo hatte ihm nie etwas übel genommen. Ohne das Gespräch wieder aufzunehmen, fuhren sie weiter nach Stanhope Gate. Der alte Jolyon forderte ihn auf mit hinein zu kommen, aber Jo schüttelte den Kopf.
»June ist nicht hier,« sagte sein Vater hastig. »Sie reiste heute fort auf Besuch. Du weißt doch, daß sie verlobt ist?«
»Schon?« murmelte der junge Jolyon.
Sein Vater stieg aus und gab dem Kutscher beim Bezahlen zum ersten Mal in seinem Leben aus Versehen ein Goldstück anstatt eines Schillings.
Der Kutscher steckte die Münze in den Mund, trieb sein Pferd verstohlen mit der Peitsche an und jagte davon.
Der alte Jolyon drehte den Schlüssel leise im Schloß herum, stieß die Tür auf und winkte. Sein Sohn sah ihn bedächtig, mit dem Ausdruck eines Jungen, der die Absicht hat Kirschen zu stehlen, seinen Rock aufhängen.
Die Tür des Speisezimmers stand offen, das Gas war heruntergedreht; ein Spirituskessel summte auf dem Teebrett und daneben auf dem Eßtisch lag eingeschlafen eine zynisch aussehende Katze. Der alte Jolyon scheuchte sie gleich hinaus und rollte seinen Hut hinter dem Tiere her. Der kleine Zwischenfall erleichterte es ihm, seine Gefühle zu verbergen.
»Sie hat Flöhe,« sagte er und folgte ihr hinaus. Durch die Tür in der Halle, die zum Erdgeschoß führte, rief er ein paarmal »Hßt!«, wie um sich vom Verschwinden der Katze zu überzeugen, als durch einen merkwürdigen Zufall der Butler unten erschien.
»Sie können zu Bett gehen, Parfitt,« sagte der alte Jolyon, »ich werde zuschließen und das Licht ausmachen.«
Als er ins Speisezimmer zurückkehrte, kam die Katze ihm unglücklicherweise zuvor, den Schwanz steil in die Höhe gerichtet, als wolle sie damit zu verstehen geben, daß sie das Manöver, den Butler zurückzuhalten, von vornherein durchschaut habe.
Die häuslichen Kriegslisten des alten Jolyon waren von jeher vom Mißgeschick verfolgt gewesen.
Jo konnte sich eines Lächelns nicht erwehren. Er hatte viel Sinn für Ironie, und an diesem Abend sah er alles von der ironischen Seite; die Episode mit der Katze ebenso wie die Nachricht von der Verlobung seiner Tochter. Er hatte an dieser ja nicht mehr Anteil, als an der Mieze. Und die poetische Gerechtigkeit, die darin lag, drängte sich ihm auf.
»Wie sieht June denn jetzt aus?« fragte er.
»Sie ist ein zartes Ding,« erwiderte der alte Jolyon; »sie soll mir ähnlich sein, aber das ist ein Unsinn. Sie gleicht mehr deiner Mutter – dieselben Augen und dasselbe Haar.«
»So! und ist sie hübsch?«
Der alte Jolyon war ein zu echter Forsyte, um irgend etwas unbedingt zu loben, namentlich etwas, das er wirklich bewunderte.
»Sie sieht nicht schlecht aus – hat das echte Forsyte-Kinn. Es wird hier einsam werden, wenn sie fort ist, Jo.«
Der Ausdruck seines Gesichts erschreckte diesen wieder wie der erste Anblick des Vaters.
»Was wirst du dann anfangen, Papa? Sie ist wohl ganz vernarrt in ihn?«
»Was ich anfangen werde?« wiederholte der alte Jolyon mit ärgerlichem Ton in der Stimme. »Es wird ein elendes Leben sein, hier allein zu wohnen. Ich weiß nicht, was daraus werden soll. Ich wünschte wahrhaftig –« er hielt an sich und fügte hinzu: »Die Frage ist, was ich mit dem Hause anfangen soll?«
Der junge Jolyon sah sich im Zimmer um. Es war eigentümlich öde und leer mit seinen ungeheuren Stilleben – schlafende Hunde mit der Nase auf Möhrenbündeln und daneben Zwiebeln und Weintrauben in überraschend friedlicher Eintracht – er erinnerte sich ihrer noch aus seiner Knabenzeit. Das Haus stand zwar zwecklos da, aber er konnte sich das Leben seines Vaters in einer kleineren Wohnung nicht vorstellen; und umso größer schien ihm die Ironie, die darin lag.
In seinem großen Sessel mit dem Lesepult saß einsam wie nur je ein alter Mann in London, der alte Jolyon mit seinem weißen Haar und der hochgewölbten Stirn, der Typus seiner Familie, seines Standes und seines Glaubens, ein Repräsentant der Mäßigkeit, und Ordnung, und Liebe am Besitz.
Er saß da in der düsteren Behaglichkeit des Zimmers, ein Spielball in der Gewalt größerer Mächte, die sich nicht um Familie, Stand noch Glauben kümmerten, sondern maschinenmäßig und unerbittlich zu unerforschlichen Zielen führten. So sah es der junge Jolyon von seinem unpersönlichen Standpunkt aus.
Der arme alte Papa! Das also war das Ende, der Zweck, zu dem er mit so bewundernswerter Mäßigkeit gelebt hatte! Um einsam zu bleiben, älter und älter zu werden, voll Sehnsucht nach einer Seele, mit der er reden konnte!
Der alte Jolyon wieder sah zu seinem Sohne hin. Er hätte so gern über viele Dinge gesprochen, über die er in all diesen Jahren nicht hatte sprechen können. Es war unmöglich gewesen, June im Ernst anzuvertrauen, daß das Grundstück im Soho-Viertel seiner Überzeugung nach im Werte steigen werde, daß ihn das furchtbar lange Stillschweigen Pippins, des Leiters der New Colliery-Company, beunruhigte, dessen Vorsitzender er so lange gewesen, und daß er sich über das ständige Fallen der amerikanischen Golgotha-Papiere ärgerte, oder gar mit ihr zu beraten, wie durch eine Bestimmung irgend welcher Art die Zahlung von Abgaben zu vermeiden wäre, die seinem Hinscheiden folgen mußten. Jedoch unter dem Einfluß einer Tasse Tee, in der er ohne Ende rührte, fing er endlich an zu sprechen. Ein neuer Lebensausblick bot sich ihm, ein verheißenes Land des Sichaussprechens, wo er einen Hafen finden konnte vor den Wogen der Befürchtungen und der Sorge; wo er seine Seele mit dem Opium des Plänemachens einlullen konnte, wie sein Besitz abzurunden und das einzige, was von ihm zurückbleiben sollte, unsterblich zu machen war.
Sein Sohn war ein guter Zuhörer; es war eine seiner besten Eigenschaften. Er hielt den Blick fest auf des Vaters Gesicht gerichtet und stellte zuweilen eine Frage an ihn.
Die Uhr schlug eins, ehe der alte Jolyon geendet hatte, und beim Klang dieser Schläge stellten seine Prinzipien sich wieder ein. Mit einem überraschten Blick zog er seine Uhr hervor:
»Ich muß zu Bett, Jo,« sagte er.
Dieser erhob sich und streckte die Hand aus, um seinem Vater aufzuhelfen. Das alte Gesicht sah wieder fahl und eingefallen aus, die Augen hielt er beständig abgewandt.
»Leb wohl, mein Junge, laß dir's gut gehen!«
Einen Augenblick noch, und der junge Jolgon hatte das Zimmer eilig verlassen. Er vermochte kaum zu sehen, die lächelnden Lippen zuckten. Niemals in den fünfzehn Jahren, seitdem er zuerst dahinter gekommen war, daß das Leben nicht so einfach sei, war es ihm so seltsam kompliziert erschienen.
Drittes Kapitel
Mittagessen bei Swithin
In Swithins hellblau und orangefarbenem Speisezimmer, das nach dem Park hinaus lag, war der runde Tisch für zwölf Personen gedeckt.
Ein geschliffener Kristallkronleuchter mit angezündeten Kerzen hing wie ein riesiger Stalaktit mitten darüber und warf seine Strahlen auf große, in Gold gerahmte Spiegel, auf die Marmorplatten der Seitentische und schwere goldene Stühle mit gewirkten Sitzen. Alles verriet jenen Schönheitssinn, der so tief in jeder Familie wurzelt, die sich aus dem Herzen des einfachen Volks herauf ihren Weg in die Gesellschaft hat bahnen müssen. Swithin war alle Einfachheit wahrhaft zuwider, und seine Vorliebe für Goldzierat stempelte ihn unter seinesgleichen zu einem Manne von großem, wenn auch etwas luxuriösem Geschmack. Und in dem Bewußtsein, daß niemand diese Räume betreten konnte, ohne den wohlhabenden Mann in ihm zu erkennen, hatte er ein wahres, dauerndes Glück gefunden, wie es ihm vielleicht nichts anderes im Leben gewährt hätte.
Seitdem er seinen Beruf als Häusermakler aufgegeben hatte, der namentlich wegen der dabei vorkommenden Auktionen tief in seiner Achtung stand, hatte er sich völlig aristokratischen Neigungen hingegeben.
In dem vollkommenen Luxus seiner späteren Lebenstage lag er eingebettet wie eine Fliege im Zucker; und seine Seele, in der vom Morgen bis zum Abend sehr wenig vorging, war von zwei merkwürdig entgegengesetzten Regungen beherrscht, einer leisen und trotzigen Genugtuung darüber, seinen eigenen Weg und sein eigenes Glück gemacht zu haben, und einer Empfindung, daß ein Mann von seinen Vorzügen seine Seele niemals mit Arbeit hätte besudeln dürfen.
In einer weißen Weste mit großen Knöpfen aus Gold und Onyx stand er am Büfett und paßte auf, wie sein Diener die Hälse von drei Champagnerflaschen tiefer in die Eiskübel bohrte. Zwischen den Ecken seines Stehkragens, den er – obwohl jede Bewegung ihn schmerzte – um keinen Preis hätte ändern lassen, blieb das blasse Fleisch seines Doppelkinns unbeweglich. Seine Augen schweiften von Flasche zu Flasche. Er überlegte und kam zu folgenden Schlüssen: »Jolyon trinkt ein Glas, vielleicht zwei, er ist ja so vorsichtig; James, der kann jetzt gar keinen Wein vertragen. Nicholas und Fanny würden sicherlich Wasser in sich hineinschütten! Soames zählte nicht mit, diese jungen Neffen – Soames war achtunddreißig – konnten ja nicht trinken! Aber Bosinney? Als er auf den Namen dieses Fremden kam, der etwas außerhalb des Bereiches seiner Philosophie lag, hielt Swithin inne. Eine Besorgnis erwachte in ihm! Man konnte nicht wissen! June war nur ein Mädchen und dazu noch verliebt! Emily, James' Frau, liebte ein gutes Glas Champagner. Für Juley, die gute alte Seele, war er viel zu trocken, sie hatte keine feine Zunge. Und Hatty Cheßman! Der Gedanke an diese alte Freundin beschwor eine Wolke von Befürchtungen herauf, die den hellen Glanz seiner Augen verdunkelte: es sollte ihn nicht wundern, wenn sie eine halbe Flasche trank!
Aber als er an seinen letzten Gast dachte – an Mrs. Soames – stahl sich ein Ausdruck über sein altes Gesicht wie der einer Katze, die eben anfängt zu schnurren. Sie trank vielleicht nicht viel, aber sie wußte zu schätzen, was sie trank, es war ein Vergnügen, ihr guten Wein vorzusetzen. Eine schöne Frau – und ihm so sympathisch!
Der Gedanke an sie war wie Champagner selbst! Ein Vergnügen, einer jungen Frau guten Wein vorzusetzen, die so gut aussah, die sich zu kleiden wußte und ein so reizendes, ganz vornehmes Wesen hatte – ein Vergnügen, sie zu bewirten. Er gestattete seinem Kopf zwischen den Ecken seines Kragens an diesem Abend die erste kleine, schmerzhafte Bewegung.
»Adolf,« sagte er. »Setzen Sie noch eine Flasche hinein.«
Er selbst durfte eine ganze Menge trinken, denn dank Blights Verordnung fühlte er sich außerordentlich wohl, und er war so vorsichtig gewesen, nicht zu frühstücken. Er hatte sich seit Wochen nicht so wohl gefühlt. Die Unterlippe vorschiebend, gab er seine letzten Anordnungen.
»Adolf, eine Spur von dem Westindischen, wenn der Schinken kommt.«
Er ging ins Vorzimmer und setzte sich mit gespreizten Knieen auf den Rand eines Stuhles. Seine große, wohlbeleibte Gestalt fiel alsbald in eine seltsam erwartungsvolle, ihm eigentümliche Reglosigkeit zurück. Er war bereit, sich jeden Augenblick zu erheben. Seit Monaten hatte er niemand zu Tisch geladen. Dies Mittagessen zu Ehren von Junes Verlobung war ihm anfangs lästig und langweilig erschienen (die Forsytes hielten andächtig an dem Brauch fest, Verlobungen durch Gastmähler zu feiern), aber nachdem die Mühe, Einladungen zu versenden und das Essen zu bestellen, überstanden war, fühlte er sich angenehm angeregt.
Und als er fett und glatt und prächtig, wie eine abgeplattete Butterkugel, mit der Uhr in der Hand da saß, dachte er an nichts.
Ein langer Mensch mit einem Backenbart, der früher in Swithins Dienst gestanden hatte, jetzt aber Grünkramhändler war, kam herein und meldete:
»Mrs. Cheßman, Mrs. Septimus Small!«
Zwei Damen traten ein. Die vordere, ganz in Rot gekleidet, hatte große Flecke von der gleichen Farbe auf den Wangen und ein hartes, blitzendes Auge. Sie ging auf Swithin zu und streckte ihm die Hand in langem primelfarbenen Handschuh entgegen:
»Nun, Swithin,« sagte sie, »ich habe dich eine Ewigkeit nicht gesehen. Wie geht's? Aber, lieber Junge, wie du stark wirst!«
Nur der starre Blick in Swithins Auge verriet Erregung. Ein dumpfer, zürnender Groll schwellte seine Brust. Es war ordinär stark zu sein, von Starksein zu reden; er hatte eben eine breite Brust. Er wandte sich zu seiner Schwester, ergriff ihre Hand und sagte in gebieterischem Ton:
»Nun, Juley!«
Mrs. Septimus Small war die größte der vier Schwestern; ihr gutes, rundes altes Gesicht war ein wenig säuerlich geworden; zahllose Schmollfältchen durchzogen es, als hätte es bis zu diesem Abend in einer eisernen Drahtmaske gesteckt, die, plötzlich entfernt, kleine Wülste rebellischen Fleisches über ihrem ganzen Antlitz zurückgelassen hatte. Selbst ihre Augen blickten schmollend. Auf diese Weise gab sie ihren beständigen Groll über den Verlust von Septimus Small zu erkennen.
Sie war bekannt dafür, immer das Verkehrte zu sagen, und hartnäckig wie ihre ganze Sippe, hielt sie daran fest, wenn sie einmal etwas gesagt hatte und fügte immer noch etwas Verkehrtes hinzu. Seit dem Hinscheiden ihres Gatten hatten die Familienhartnäckigkeit und Familiennüchternheit keinen fruchtbaren Boden mehr bei ihr gefunden. Sie war sehr gesprächig, wenn sie Gelegenheit dazu fand, konnte ohne die geringste Aufmunterung stundenlang mit epischer Eintönigkeit von den zahllosen Anlässen erzählen, bei denen sie vom Schicksal mißbraucht worden war und merkte nie, daß ihre Zuhörer mit dem Schicksal übereinstimmten, denn sie hatte ein gutes Herz.
Da die gute Seele lange Zeit am Bette von Septimus Small (einem Manne von schwächlicher Konstitution) hatte verbringen müssen, war es ihr zur Gewohnheit geworden, und sie hatte später zahllose Gelegenheiten gehabt, bei Kranken, Kindern und andern hilflosen Personen zu sitzen und sie zu zerstreuen, war aber nicht davon abzubringen, die Welt für die undankbarste Stätte zu halten, in der man leben konnte. Sonntag für Sonntag saß sie zu Füßen des außerordentlich geistreichen Predigers Thomas Scoles, der einen großen Einfluß auf sie ausübte; aber es gelang ihr jedermann zu überzeugen, daß selbst dies ein Unglück sei. Sie war sprichwörtlich in der Familie geworden, und wenn man einen von ihnen besonders verstimmt sah, wurde er ›eine wahre Juley‹ genannt. Ihr Gemütszustand hätte jeden, der kein Forsyte war, zu vierzig Jahren ins Grab gebracht; aber sie war vierundsiebzig und hatte nie wohler ausgesehen. Und man fühlte, daß Genußfähigkeiten in ihr schlummerten, die noch zutage treten konnten. Sie besaß drei Kanarienvögel, den Kater Tommy und einen halben Papagei – die andere Hälfte gehörte ihrer Schwester Hester, und diese armen Geschöpfe (sie wurden Timothy sorgfältig ferngehalten – er mochte keine Tiere) erkannten besser als die Menschen, daß sie für ihr Mißgeschick nichts konnte, und hingen leidenschaftlich an ihr.
Sie erschien an diesem Abend in der düstern Pracht ihres schwarzen Seidenkleides mit dem malvenfarbenen Einsatz und dem schüchtern dreieckigen Ausschnitt, den ein schwarzes Samtband um den Ansatz ihres dünnen Halses abschloß. Schwarz und Malvenfarbe für eine Abendtoilette galt bei fast allen Forsytes für sehr vornehm.
Schmollend sagte sie zu Swithin:
»Ann hat nach dir gefragt. Du bist eine Ewigkeit nicht bei uns gewesen.«
Swithin steckte die Daumen in die Armlöcher seiner Weste und erwiderte:
»Ann wird sehr klapprig, sie sollte einen Arzt zu Rate ziehen!«
»Mr. und Mrs. Nicholas Forsyte!«
Die rechtwinkligen Brauen hochgezogen, kam Nicholas Forsyte lächelnd herein. Es war ihm im Laufe des Tages geglückt, einen Vorschlag zur Verwendung von Eingeborenen aus Oberindien in den Goldminen von Ceylon zur Annahme zu bringen. Ein Lieblingsplan von ihm, der trotz großer Schwierigkeiten schließlich doch zur Ausführung gekommen war – er konnte wohl zufrieden sein. Es mußte den Ertrag seiner Minen verdoppeln, und, wie er oft mit Nachdruck hervorgehoben hatte, zeigte alle Erfahrung, daß Menschen sterben müssen. Ob sie nun im eignen Lande an Altersschwäche starben oder frühzeitig an der Feuchtigkeit auf dem Grunde einer Mine in der Fremde, war sicherlich von geringer Bedeutung, vorausgesetzt, daß die Veränderung ihrer Lebensweise dem Britischen Reiche einen Nutzen brachte.
Seine Fähigkeiten waren nicht zu verkennen. Er pflegte die eingeknickte Nase zu seinem Zuhörer emporzuheben und hinzuzufügen:
»Aus Mangel an ein paar Hundert dieser Kerle haben wir jahrelang keine Dividende zahlen können. Sehen Sie nur wie die Aktien stehen, ich bekomme nicht zehn Schillinge dafür.«
Er war auch in Yarmouth gewesen und mit dem Gefühl zurückgekehrt, sein Leben wenigstens um zehn Jahre verlängert zu haben. Er ergriff Swithins Hand und rief in scherzhaftem Tone:
»Ja, da wären wir wieder hier!«
Seine Gattin, ein verblühte Frau, lächelte hinter ihm ein Lächeln verschüchterter Munterkeit.
»Mr. und Mrs. James Forsyte! Mr. und Mrs. Soames Forsyte!«
Swithin schlug die Hacken zusammen, seine Haltung war bewunderungswürdig wie immer.
»Na, James, na Emily! Guten Tag, Soames! Und wie geht's dir?«
Seine Hand umschloß die Irenens, und seine Augen vergrößerten sich. Sie war eine schöne Frau – ein wenig zu blaß, aber diese Figur, diese Augen, diese Zähne! Viel zu schade für diesen Soames!
Die Götter hatten Irene mit dunkelbraunen Augen und goldenem Haar ausgestattet, jener seltsamen Zusammenstellung, die die Blicke der Männer reizt und das Zeichen eines schwachen Charakters sein soll. Und die volle weiche Blässe ihres Halses und der Schultern über einem goldfarbenen Gewand, gaben ihrer Persönlichkeit eine verführerische Fremdartigkeit.