Seewölfe - Piraten der Weltmeere 31

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Seewölfe - Piraten der Weltmeere 31
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Impressum

© 1976/2013 Pabel-Moewig Verlag GmbH,

Pabel ebook, Rastatt.

ISBN: 978-3-95439-273-5

Internet:

www.vpm.de

 und E-Mail:

info@vpm.de




Inhalt





Kapitel 1.







Kapitel 2.







Kapitel 3.







Kapitel 4.







Kapitel 5.







Kapitel 6.







Kapitel 7.







1.



Um sie herum tobte die Hölle. Eine Hölle aus Finsternis, Brechern, zukkenden Blitzen und salzigem Gischt, der fast das Atmen unmöglich werden ließ. Seit fast achtundvierzig Stunden taumelte, schlingerte, stampfte und rollte die „Isabella III.“ durch das Inferno himmelhoher Kreuzseen, die von allen Seiten zugleich auf das Schiff einhämmerten.



Eine Verständigung war an Bord der „Isabella“ nur noch durch lautes Brüllen möglich. Der Seewolf hatte sich auf dem Achterdeck am Besan angelascht. Am Ruder kämpften Bete Ballie, Ben Brighton und Ed Carberry gegen die Titanenkräfte der über das Schiff hereinbrechenden See. Die Kuhl, das Hauptdeck und die Back wurden seit Stunden schon ständig überflutet. Wo immer sich Windschutz oder Deckung vor den schweren Brechern boten, hockten die Männer der Crew. Naß, halb erfroren, total erschöpft. Keiner von ihnen hatte je ein solches Unwetter erlebt. Nicht einmal damals, als sie mit der „Golden Hind“ vom Sturm nach Kap Horn verschlagen worden waren und monatelang um ihr Leben kämpften.



Zum ersten Mal in seinem Seefahrerleben war der Seewolf soweit, einfach aufzugeben. Die „Isabella“, ein rankes, schlank gebautes Schiff, einer jener Schnellsegler, wie sie die Piraten der Karibik häufig benutzten, normalerweise durch kein Wetter umzubringen, nahm Wasser. Seit Stunden schon. Die schweren Seen hatten einige der dicken Bohlentüren, die die Zugänge ins Innere des Schiffes sicherten, in Stücke geschlagen. Auch Ferris Tucker, dem hünenhaften Schiffszimmermann, war es nicht gelungen, die Niedergänge wieder abzusichern. Immer wieder waren er und seine Männer von überkommenden Seen ins Innere des Schiffes geschleudert oder über die Decks gewaschen worden. Hinzu kam, daß die „Isabella III.“ schwere Ladung fuhr. Bis zum Oberdeck war sie vollgestopft mit Gold, Perlen, Edelsteinen, indianischem Schmuck. Sie lag tief im Wasser und reagierte nur noch träge auf das Ruder und die wenigen Sturmsegel, unter denen sie sich im Schneckentempo durch die Kreuzseen kämpfte.



Ferris Tucker fluchte lauthals, als ihn ein schwerer Roller der „Isabella“ vom Niedergang in den Laderaum schleuderte, noch ehe er es schaffte, das Vierkantholz, daß das neue Schott aufnehmen sollte, zu verbolzen.



Er schlug der Länge nach auf die Planken des Laderaums, seine große überlange Axt wurde ihm aus der Hand geprellt.



„Blacky, Smoky, Dan!“ brüllte er. „Hierher, verflucht noch mal! Batuti – he, wo steckt dieser Kerl bloß schon wieder?“



Ferris Tucker rappelte sich auf. Mit beiden Händen fuhr er über den Boden des Laderaums, bis er seine Axt entdeckt hatte. Unterdessen hatten sich Blakky, Smoky, Dan und Batuti bei ihm eingefunden. Der riesige Gambia-Neger hielt sich stöhnend den Schädel. Der Roller hatte ihn über das Hauptdeck geschleudert, und er war gegen eine der Geschützlafetten geprallt.



„Verfluchtes Sturm!“ radebrechte er wütend vor sich hin. „Nix fressen, nix saufen – leeres Magen, Sturm, Wasser –, verdammtes Scheiß, Batuti Schnauze voll!“



Ferris Tucker grinste den Schwarzen an und rieb sich ebenfalls den schmerzenden Schädel.



„Ich habe auch die Schnauze voll, Batuti“, sagte er. „Aber das hilft jetzt einen Dreck. Wenn wir diesen verdammten Niedergang nicht endlich dichtkriegen, dann saufen wir ab wie die Ratten, so wahr ich Ferris Tucker heiße. Los, ran, ich habe nicht die geringste Lust, mit diesem Eimer zu den Fischen zu gehen.“ Er torkelte auf den Niedergang zu und packte die schweren Bohlen, die er schon vorbereitet hatte. Aber die wilden Bewegungen des Schiffes warfen ihn immer wieder zurück.



„Verflucht – her mit euch, ihr dreimal kalfaterten Decksaffen! Glaubt ihr, daß ich die Bohlen bei diesem Wetter allein nach oben kriege, he?“



Blacky, Smoky, Dan und Batuti schossen auf den Schiffszimmermann zu. Dan, zum erstenmal in seinem Leben seekrank und völlig grün im Gesicht, keuchte, als er eine der schweren Bohlen packte. Er befand sich in einem Zustand, in dem es ihm völlig gleichgültig war, ob die „Isabella“ absoff oder nicht, wenn dies hier nur ein Ende hatte. Aber zäh, wie Dan war, riß er sich zusammen.



Gemeinsam wuchteten sie eine der Bohlen unter unsäglichen Mühen den Niedergang hoch. Sie hatten es fast geschafft, da stieg der Bug der „Isabella“ steil auf einem heranlaufenden Brecher hoch. Die Männer im Laderaum hörten das Brüllen der See, spürten die wahnwitzigen Bewegungen des Schiffes, und jeder von ihnen krallte sich an den Stufen des Niedergangs fest. Die schwere Bohle ließen sie wie auf Kommando sausen. Sie registrierten noch, wie sie irgendwo auf die Planken des Laderaums krachte. Dann brach das Inferno über sie herein.



Wasser überflutete die Decks der „Isabella“ und erreichte den offenen, immer noch ungeschützten Niedergang. Gurgelnd schoß es auf die Männer zu, staute sich für einen winzigen Moment und brach schließlich mit elementarer Wucht über die Männer auf dem Niedergang herein. Es wusch sie die Stufen hinunter und wirbelte Truhen und andere Behälter durcheinander, in denen Gold, Silber, Perlen und mannigfaltiger Schmuck verstaut waren.



Ferris Tucker ruderte verzweifelt mit den Armen und versuchte sich irgendwo festen Halt zu verschaffen, aber es glückte ihm nicht. Genauso wie seine Kameraden wurde er von den Wassermassen im Laderaum herumgewirbelt, daß ihm Hören und Sehen verging.



Endlich hatte sich das Wasser verlaufen, und Ferris Tucker gelang es, sich wieder festen Stand zu verschaffen. Er rief nach Dan und den anderen, während ihm bei jeder Bewegung des Schiffes das Wasser um die Füße schwappte. Nach und nach meldeten sie sich.



Ferris Tucker fluchte lauthals. Sein ganzer Körper schmerzte. Er wußte nicht mehr, wie oft er sich innerhalb der letzten Stunden den Schädelangeschlagen hatte.



Im Laderaum war es stockfinster. Die letzte Ölfunzel, die noch gebrannt hatte, war jetzt wahrscheinlich ebenfalls zum Teufel.



„Einer muß zu Hasard!“ brüllte der Schiffszimmermann. „Die anderen müssen an die Pumpen, ganz gleich, ob sie noch können oder nicht. Pumpen – oder wir saufen innerhalb der nächsten Stunden ab, die ‚Isabella‘ hat ...“



Das Schiff erhielt einen schweren Schlag. So schwer, daß es in seinen ganzen Verbänden erzitterte. Gleich darauf donnerte wieder etwas draußen gegen die Bordwand – und diesmal splitterte Holz. Ganz deutlich hörten es Ferris Tucker und seine drei Gefährten.



Die ‚Isabella‘ holte weit nach Backbord über, und die vier Männer klammerten sich an Truhen und Kisten fest. Das Wasser, das sich im Laderaum befand, brandete um ihre Füße.



Plötzlich ertönten an Deck wilde Schreie, begleitet von einem eigenartigen Donnern und Bersten, von einem Getöse, das Ferris Tucker und seinen Gefährten durch Mark und Bein ging.



Der riesige Schiffszimmermann verlor keine Sekunde. Er stieß sich von der Truhe ab, an der er sich festgeklammert hatte und schoß zum Niedergang. Mit aller Kraft, die noch in ihm war, zog er sich die Stufen hoch und taumelte an Deck.



Wieder holte die „Isabella“ über, diesmal nach Steuerbord. Das Schanzkleid verschwand im Wasser. Gleichzeitig überrannte sie ein schwerer Brecher von achtern. Gurgelnd schoß gischtendes Wasser über die Decks. Ferris Tucker hatte für einen Moment das Gefühl, als würde die Isabella endgültig unter Wasser gedrückt. Aber sie richtete sich wieder auf. Gleichzeitig zuckten an Back- und Steuerbord mehrere grelle Blitze aufs Meer nieder, begleitet von krachendem Donner und sintflutartigem Regen, der vom Orkan über das Schiff gepeitscht wurde und den Männern zusammen mitdem umherfliegenden Gischt den Atem raubte.



Ferris Tucker stand wie erstarrt. Er spürte nicht, wie sich hinter ihm Dan und Batuti aus dem Niedergang schoben. Er sah nur den fremden Mast, den der Brecher ihnen an Bord geworfen hatte und der jetzt mit der einen Seite im Steuerbordschanzkleid zwischen den Geschützen steckte.



Wieder zuckte ein gigantischer Blitz nieder und beleuchtete die makabre Szene. Ferris Tucker stieß sich vom Niedergang, den sein gewaltiger Körper völlig ausfüllte, ab. Gleichzeitig sah er den turmhohen Brecher, der von schräg achtern auf das Steuerbordschanzkleid zurollte. Und wie in einer Vision sah er den Seewolf, der eben über die Schmuckbalustrade in die Kuhl flankte. Ungeachtet des Brechers, ungeachtet der Lebensgefahr, in die er sich damit unweigerlich begab.



Ferris Tucker ahnte, was in den nächsten Sekunden geschehen würde. Verzweifelt blickte er sich nach einem geeigneten Schutz um und sah den Kutscher, der eben die Tür der Kombüse aufriß, irritiert durch das Gebrüll der anderen Männer, die die drohende Gefahr ebenfalls erkannt hatten und nun in wilden Sprüngen, soweit die heftigen Bewegungen der „Isabella“ das zuließen, vom Hauptdeck flüchteten.



Ferris Tucker überlegte nicht – er packte den Kutscher und riß ihn vom Kombüsenaufbau weg mit nach vorn in Richtung Back.

 



Der Brecher war heran. Er stemmte die „Isabella“ nicht hoch, sondern drückte sie an Steuerbord einfach unter Wasser. Dann schlugen seine Wassermassen über dem Schiff zusammen. Wieder zuckte ein Blitz, dem ein infernalischer Donnerschlag und unmittelbar darauf ein Bersten und Krachen folgten, so daß Ferris Tucker schon glaubte, die „Isabella“ sei auseinandergebrochen.



Männer schrien, aber ihre Stimmen wurden vom Orkan weggefegt. Danach herrschte plötzlich beinahe Stille. Irgendwo riß die tiefhängende Wolkendekke plötzlich auf, das kalte Licht des Mondes überflutete die Decks und entriß bleiche, erschöpfte, total verängstigte Gesichter dem Dunkel.



Ferris Tucker hielt den Kutscher noch immer in seinen Pranken. Ohne sich zu bewegen, starrte er zum Kombüsenaufbau hinüber. Er war verschwunden. Der Mast des fremden Schiffes, den ihnen ein Brecher an Bord gespült hatte, war ebenfalls weg. Aber er hatte den Kombüsenaufbau völlig zertrümmert, eines der Geschütze aus den Laschungen gerissen und an Steuerbord einen Teil des Schanzkleides zermalmt.



Ferris Tucker ließ den Kutscher los. Dann stürmte er auch schon zu dem Geschütz hinüber, das sich eben bei einer Rollbewegung der „Isabella“ in Bewegung setzte.



Ein paar Männer folgten ihm, unter ihnen der Seewolf. Keiner wußte später mehr zu sagen, wie es ihnen gelungen war, die schwere Kanone wieder festzulaschen, aber als die Männer sich endlich schweißtriefend und an allen Gliedern zitternd aufrichteten, alarmierte sie bereits der Schrei, den Dan ausgestoßen hatte.



Seine helle Stimme durchdrang das Heulen des Sturms und das Brausen und Dröhnen der See.



„Wassereinbruch im Vorschiff!“ schrie er. „Wir haben ein Leck an Steuerbord, die ‚Isabella‘ säuft ab ...“



Ferris Tucker und Hasard stürmten los. An den auf den Decks gespannten Strecktauen hangelten sie sich nach vorn und erreichten den immer noch brüllenden Dan.



„Der Mast, Hasard!“ keuchte Ferris Tucker. „Ich habe es im Laderaum vorhin gehört, er hat uns zweimal gerammt. Beim zweiten Mal hat er die „Isabella“ leckgeschlagen. Hol ein paar Leute, rasch – viel Wasser verträgt das Schiff jetzt nicht mehr, nicht bei der Ladung!“



Damit stürzte sich der Schiffszimmermann in den Niedergang unter der Back, dessen Bohlentür dem Wasser bisher standgehalten hatte.



Blacky und Smoky, die inzwischen ebenfalls mitgekriegt hatten, was passiert war, folgten ihm, während Hasard sich ein paar der Männer griff, die eben wieder aus ihren Dekkungen und Zufluchten auftauchten.



Sie erkannten auf den ersten Blick, daß es böse aussah für die „Isabella“. Der Mast, von welchem Schiff auch immer er stammen mochte, hatte die Bordwand der „Isabella“ auf einer Länge von fast zwei Yards eingedrückt. Ein Loch von einem halben Yard Durchmesser klaffte im Rumpf, zum Glück weit oberhalb der Wasserlinie. Nur dann, wenn das Schiff in eine See eintauchte, nach Steuerbord überholte oder von einem Brecher überrannt wurde, schoß gurgelnd Wasser ins Schiff.



Schweigend arbeiteten die Männer. Der Seewolf kniete neben dem Schiffszimmermann, immer wieder zurückgeworfen vom hereinbrechenden Wasser. Aber zusammen mit Blacky, Smoky, Dan und Batuti schafften sie es, das Leck zunächst mit geteertem Segeltuch, das für solche Zwecke, von Will Thornton, dem Segelmacher, bereitgehalten wurde, provisorisch abzudichten. Dann verbolzten Hasard und Ferris Tucker es nach und nach mit starken Bohlen, mit denen sie auch die eingedrückte Stelle der Bordwand verstärkten.



Endlich richteten der Seewolf und Tucker sich auf. Über ihre nackten Oberkörper rann der Schweiß in Strömen. Erst jetzt bemerkten sie, daß die „Isabella“ nicht mehr so schwer arbeitete und nicht mehr ständig von Brechern überflutet wurde.



„Der Sturm läßt nach, Ferris“, sagte Hasard.



Der Schiffszimmermann lauschte einen Moment in das Tosen und Donnern der Seen, in die der Bug der „Isabella“ wieder und wieder hineinstieß. Schließlich nickte er.



„Wurde aber auch Zeit“, sagte er und wischte sich mit der Hand den Schweiß aus dem Gesicht. „Ich weiß nicht, wie lange die ‚Isabella‘ das noch ausgehalten hätte. Unsere Ladung drückt sie zu tief ins Wasser, sie ist bei solchem Wetter zu schwerfällig. Wir haben Glück gehabt, daß uns die Seen nicht zusammengeschlagen oder die ‚Isabella‘ entmastet haben. – Wir müssen zur Küste. Dies hier“, er deutete auf das provisorisch abgedichtete Leck, „muß ich von außen klarieren. Das hält so nicht!“



Hasard nickte. Dann sah er die Männer an.



„Ich lasse jetzt Rum ausgeben. Außerdem werde ich dafür sorgen, daß der Kutscher auf irgendeine Weise etwas zu essen zaubert. Und dann an die Pumpen, wir müssen das Wasser aus dem Schiff kriegen! In diesen Breiten weiß man nie, ob das Abflauen eines Sturms von Dauer ist, oder ob er nur eine Pause eingelegt hat, um nachher um so schlimmer loszubrechen. Nutzen wir unsere Zeit!“



Ferris Tucker blieb mit Dan noch unter Deck im Vorschiff. Der Schiffszimmermann unterzog das abgedichtete Leck noch einmal einer gründlichen Inspektion. Erst als er noch einige Stellen zusätzlich verstärkt hatte, nickte er zufrieden. Danach ging auch er mit Dan an Deck und an die Pumpen.



Das Wetter hatte sich etwas beruhigt, aber die See ging noch immer hoch. Trotzdem — es klarte zusehends auf, und aus Erfahrung wußte Ferris Tucker, daß mit Sonnenaufgang der Sturm endgültig abflauen und ihm ein sonniger, heißer Tag folgen würde — als habe es diese letzten achtundvierzig Stunden nie gegeben. Achtundvierzig Stunden – so höllisch, wie sie bisher noch kein Mann der „Isabella“-Crew erlebt hatte.



Die Prognose von Ferris Tucker hatte sich als richtig erwiesen. Der nächste Morgen brachte einen wolkenlosen, tiefblauen Himmel und strahlenden Sonnenschein. Der Orkan, der seit achtundvierzig Stunden ununterbrochen getobt hatte, war vorbei. Statt dessen wehte eine leichte Brise aus Südost und trieb die „Isabella III.“ vor sich her auf die etwa hundert Meilen entfernte Küste Kolumbiens zu.



Die Männer an Bord der „Isabella“ erholten sich nur nach und nach von den Strapazen der vergangenen achtundvierzig Stunden. Hohlwangig, mit tiefen Ringen unter den Augen, standen sie noch immer an den Pumpen. Die Blicke des Seewolfs wanderten über die Decks seines Schiffes. Die „Isabella“ sah verheerend aus. Erst jetzt, im grellen Licht der südlichen Sonne, waren die Schäden, die der Sturm und der Mast des fremden, möglicherweise gesunkenen Schiffes, hinterlassen hatten, in ihrem vollen Ausmaß zu erkennen.



Der größte Teil des Schanzkleides an Steuerbord war total zertrümmert, die Nagelbank des Großmastes zersplittert. Ein Teil der Crew mühte sich damit ab, Pardunen, Fallen und Brassen zu klarieren. Es war ein Wunder, daß der Großmast, seines Halts beraubt, nicht über Bord gegangen war.



Hasards Blicke wanderten weiter. Der Kombüsenaufbau existierte nur noch als Fragment, die Trümmer, soweit sie nicht von der See über Bord gewaschen worden waren, wurden soeben von ein paar Männern und dem Kutscher beiseite geräumt.



Die Blinde und einen Teil des Bugspriets hatte die See abgerissen. Dadurch war das laufende und stehende Gut des Fockmastes in Unordnung geraten und mußte ebenfalls klariert werden.



Was dem Seewolf jedoch die meiste Sorge bereitete, war das Leck an Steuerbord, das ihnen der Mast geschlagen hatte. Zwar nahm die „Isabella“ kein Wasser, denn Ferris Tukker hatte das Leck abgedichtet, und außerdem befand es sich oberhalb der Wasserlinie. Aber — und das hatte der Schiffszimmermann erst nachträglich, nach Abflauen des Sturmes, herausgefunden – bei der Kollision mit jenem schweren Mastbaum war ein Spant im Vorschiff eingedrückt worden. Ein Schaden, der sich auf See nicht reparieren ließ, dessen Behebung sich auch für einen Mann wie Ferris Tucker als problematisch erwies und durch den die „Isabella“ erheblich an Seetüchtigkeit einbüßte.



Ben Brighton tauchte auf dem Hauptdeck auf. Er blickte nur kurz zum Seewolf hoch, ehe er von der Kuhl aus zum Achterdeck aufenterte. Hasard sah sofort, daß er keine guten Nachrichten brachte, denn seine Züge wirkten verschlossen, eine Seltenheit bei Ben.



Der Seewolf ging ihm entgegen.



„Wie sieht es unter Deck aus?“ fragte er, als Ben die letzten Stufen zum Achterkastell emporstieg.



Der Bootsmann, Gefährte vieler riskanter Unternehmungen, einer der engsten Vertrauten des Seewolfs, sah Hasard nur an.



„Miserabel“, erwiderte er. „Ferris kann an den verdammten Spant nicht heran, die Bruchstelle liegt zu weit unten. Der Mast muß ihn von unten her gerammt haben, ehe er das Loch in die Bordwand schlug. Die Bordwand ist unter der Back auf einer Länge von mehreren Yards eingedrückt, und wir können von Glück sagen, daß sie diesen Stoß überhaupt ausgehalten hat. Andernfalls befänden wir uns längst samt allem Gold, Schmuck und Silber bei den Fischen.“ Der Seewolf preßte die Lippen zusammen. Er wußte, was diese Nachricht bedeutete. Die „Isabella“ segelte auf die Küste Kolumbiens zu. Etwas weiter nördlich lag Panama, das Zentrum der spanischen Konquistadoren, ihr größter Stützpunkt für alle Aktionen an den Küsten der Neuen Welt. Eine weitere, schwerwiegende Gefahrenquelle. Blieb für die „Isabella“ nur die Möglichkeit, sich in eine versteckte Bucht zu mogeln und dort zu versuchen, die Schäden zu beheben. Aber da war noch eine zweite Möglichkeit.



Unwillkürlich erschienen über Hasards Nasenwurzel wieder jene zwei tiefen und harten Falten, die er immer hatte, wenn ihn ein schwieriges Problem beschäftigte. Er ließ Ben Brighton stehen, ohne ein einziges Wort gesprochen zu haben und begann, unruhig auf dem Achterdeck hin und her zu wandern. Ben Brighton beobachtete ihn aus schmalen Augen. Er hatte schon längst gespürt, daß den Seewolf irgend etwas seit Tagen beschäftigte, daß er mit irgendeinem Entschluß rang.



Kurzentschlossen trat er auf Hasard zu.



„Was ist los mit dir?“ fragte er. „Wenn du ein Problem hast, dann sprich dich aus, bisher haben wir noch immer alle Schwierigkeiten zusammen gemeistert. Also?“



Der Seewolf war stehengeblieben. Dann nickte er.



„Gut, Ben. Es ist an der Zeit, daß ich die Katze aus dem Sack lasse. Die letzten Ereignisse, die Schäden, die uns dieser Sturm zugefügt hat, geben den Ausschlag. Hol Ferris, Carberry, Smoky, Ribault und von Hutten. Ich erwarte euch in meiner Kammer. Wir wollen die Sache dort zunächst unter uns besprechen, bevor ich der Crew etwas sage.“



Der Seewolf wandte sich um, verschwand in Richtung Niedergang und ließ den verblüfften Ben Brighton einfach stehen.



Der Bootsmann starrte ihm nach. Dann kratzte er sich am Schädel.



„Junge, Junge“, murmelte er. „Wenn mich nicht alles täuscht, dann hat er wiedermal ein ganz dickes Ei ausgebrütet. Na, wir werden sehen!“



Ben Brighton verschwand ebenfalls über den Niedergang, um die vom Seewolf benannten Männer zu holen.



Als Ben Brighton mit den anderen die Kammer des Seewolfs betrat, hatte Hasard ein paar der erbeuteten spanischen Seekarten ausgebreitet. Er bot den Gefährten Platz an und stellte eine Flasche Rum auf den Bohlentisch, der sich unterhalb eines Fensters an Steuerbord befand.



Ben und die anderen setzten sich.



Ferris Tucker fackelte nicht lange. Er goß sich einen gehörigen Schluck Rum ein und sah Hasard an.



„Schieß los! Ich kann nicht allzulange weg von da vorn.“ Er deutete mit dem Kopf in Richtung Back. „Das ist eine Sache, die der Schiffszimmermann selber regeln muß. Die alte ‚Isabella‘ hat heute nacht einen gehörigen Knuff einstek-ken müssen. Bei der Ladung, die wir im Bauch haben, bedeutet das, daß wir wie ein Stein absacken, sobald der Spant nachgibt und die Bordwand zusammenbricht. Das ist die Lage, Hasard.“



Der Seewolf trank ihm zu.



„Gut, daß du es so unverblühmt sagst, Ferris. Ich hätte dich nachher sowieso danach gefragt. Aber ich will zur Sache kommen.“



Er nahm abermals einen Schluck, dann sah er die Gefährten an.



„Unser Schiff ist randvoll. Wir haben keinen Platz mehr für weitere Beute. Mit anderen Worten: Es wird Zeit, daß wir nach England zurücksegeln. Dreiviertel der Beute für Elisabeth, ein Viertel für uns. Genug für jeden Mann der Crew, um bis an sein Lebensende als reicher Mann zu leben. Wenn ihr mir das nicht glaubt, dann überprüft die Ladung in einer ruhigen Stunde. Der Wert dessen, was wir in unseren Laderäumen haben, ist überhaupt nicht zu schätzen, das wird erst in England möglich sein.“



Carberry hatte den Kopf in beide Hände gestützt. Jetzt hob er ihn und stieß sein Rammkinn vor.

 



„Gute Idee, ich hätte wirklich nichts dagegen, Merry Old England mal wiederzusehen. Aber wie willst du mit diesem angeschlagenen Eimer dorthin segeln? Wir sind auf der anderen Seite der Neuen Welt. Wir müssen wieder zurück, zur Magellanstraße, in die Stürme am Kap der Dämonen. Und das mit dieser Ladung im Bauch, mit einem Schiff, das um vieles kleiner ist als damals die ‚Golden Hind‘, das erst noch gründlich repariert werden müßte. Hast du diese ganzen Punkte bedacht?“



Der Seewolf beugte sich über eine der Karten und nickte.



„Du hast recht, wenn wir den Seegang wählen, müssen wir wieder durch die Magellanstraße. Also an der ganzen feindlichen Küste entlang, an der wird die Dons durch unsere Aktionen in Aufruhr versetzt haben. Wir müßten damit rechnen, irgendwo von spanischen Schiffen aufgelauert und gestellt zu werden. Keiner von uns scheut den Kampf, aber gegen eine wirkliche Übermacht hätten auch wir keine Chancen, zumal unsere Pulvervorräte und unser Bestand an Kanonenkugeln, Stangenkugeln und so weiter ebenfalls zur Neige gehen. Auch die müßten wir den Dons in einem Handstreich erst wieder abnehmen. Das könnte zur Folge haben, daß die Dons in Panama an Schiffen mobilisieren, was sie flottkriegen können. Diese und andere Gefahren würden auf dem Seeweg auf uns lauern ...“



Smoky hatte sich, nachdem er gerade einen gewaltigen Schluck aus der Rumbuddel genommen hatte, plötzlich steil aufgerichtet.



„He, was soll denn das heißen, wenn wir den Seeweg wählen? Willst du unserer ‚Isabella‘ vielleicht Räder untermontieren und sie über Land karren?“



Jean Ribault, der Franzose, grinste plötzlich, auch von Hutten zog ein nachdenkliches Gesicht. Aber die beiden fanden keine Zeit mehr, etwas zu sagen, denn Hasard hatte eine der Karten herumgedreht, und vor den überraschten Gefährten ausgebreitet.



„Ich will zwar nicht die ‚Isabella‘ über Land karren, Smoky“, sagte er. „Aber an der Sache mit dem Weg über Land ist was dran. Da, seht euch diese Karte an.“ Er ging um den Tisch herum und stellte sich zwischen die Männer. „Wir erreichen die Küste Kolumbiens etwa hier, wenn wir den eingeschlagenen Kurs beibehalten.“



Die Männer beugten sich vor, während der Seewolf den Zeigefinger seiner Rechten auf eine Stelle südlich von Cap Corriente legte.



„Dort liegt die spanische Niederlassung Baudo“, erklärte er. „Nicht sehr groß, aber auch nicht klein. Gerade richtig für das, was ich vorhabe.“



Die Männer sahen ihn gespannt an, und dabei arbeiteten ihre Hirne bereits fieberhaft.



„Du willst tatsächlich ...“ stieß Ferris Tucker hervor.



„Wir werden auf der Höhe von Baudo ankern“, fuhr der Seewolf unbeirrt fort. „Baudo liegt etwa zehn Meilen landeinwärts. Von dort bis zum Fluß Atrato sind es etwa zwanzig Meilen. Um es kurz und klar auszudrücken – ich habe vor, die ‚Isabella‘ vor der Küste zu entladen und alles, was wir weiterhin brauchen — die Schätze eingeschlossen —, an Land zu bringen. Und zwar mit den Beibooten. Das ist Knochenarbeit, aber was soll’s? In Baudo wird ein Kommando unter Führung von Ribault und von Hutten genügend Maultiere besorgen, dann ziehen wir mit unserer Maultierkolonne bis zum Atrato, dort mieten oder kaufen wir uns von den Indios Boote, eventuell auch Ruderer und einen ortskundigen, zuverlässigen Führer. Flußabwärts verholen wir dann bis zum Golf von Darien, da!“ Wieder war sein Zeigefinger auf der spanischen Karte entlanggefahren. „Und dort entern wir ein gutes Schiff. Mangel daran wird es nicht geben, der Golf von Darien ist ein von den Dons stark besuchter Platz. Anschließend ab nach England. Das wär’s, Männer!“



Der Seewolf griff nach der Rumflasche, während ihn seine Männer aus großen Augen anstarrten.



Ferris Tucker war derjenige, der zuerst das Wort ergriff.



„Ho, Mann, die ganze Sache scheint mir bei näherem Überlegen gar nicht so schlecht!“ Er sah, wie Carberry nickte, obwohl er sein Gesicht in bedenkliche Falten gelegt hatte.



Auch Ben Brighton nickte, aber dann stellte er die unvermeidliche Frage, die allen auf der Seele brannte:



„Und die ‚Isabella‘ – was geschieht mit ihr?“



Hasard sah ihn an, und in seinen eisblauen Augen brannte jenes Feuer, das Ben von vielen Unternehmungen her kannte.



„Sie wird von Ferris und ein paar Männern aus der Bucht gesegelt und versenkt, damit sie uns nicht zum Verräter werden kann.“



Sekundenlang herrschte in der Kammer des Seewolfs Schweigen. Nur die Atemzüge der Männer durchdrangen die Stille.



„Und die Dons?“ fragte Ben Brighton schließlich. „Wie willst du den Dons beipulen, daß der Seewolf mit seiner Crew und einer ganzen Mulikolonne zum Golf von Darien zieht, um dort eins ihrer Schiffe zu kapern und dann nach England zu segeln?“



Der Seewolf grinste.



„Wetten, daß ihr euch alle diese Frage längst beantwortet habt? Aber dennoch, damit keinerlei Unklarheiten bestehen: Wir sind natürlich nicht die Crew von der ‚Isabella‘, sondern die Crew der ‚Valparaiso‘, und ich bin Capitan Diaz de Veloso. Ich bin vom Gouverneur von Chile beauftragt, die ‚Valparaiso‘ mit ihrer Ladung nach Panama zu segeln. Die Ladung selbst ist für den König von Spanien bestimmt. Aber leider hat die ‚Valparaiso‘ bei dem letzten Orkan so schwere Schäden erlitten, daß wir gezwungen sind, die Ladung per Maultiertransport nach Panama zu schaffen. Die ‚Valparaiso‘ leckt so stark, daß wir Mühe hatten, die Ladung gerade noch an Land zu schaffen, bevor uns das Schiff unter den Füßen wegsackte. So oder so ähnlich lautet die Version, die wir den Dons auftischen werden. Und sie werden sie schlucken, darauf könnt ihr euch verlassen. Ben und ich regeln das schon!“



Der Seewolf richtete sich ruckartig auf.



„Das wollte ich euch sagen. Ruft jetzt die Crew zusammen, wir wollen abstimmen. Wer keine Lust hat, sich in dieses Abenteuer zu stürzen, der kann nach dem Entladen der ‚Isabella‘ abmustern. Er kriegt einen höheren Anteil aus der Beute, aber er muß auch sehen, wie er mit den Dons hier fertig wird. Zur Crew gehört er dann nicht mehr.“



Ferris Tucker ließ seine Rechte krachend auf den Bohlentisch fallen.



„Ho, du bist ein ganz verfluchtes Schlitzohr! Du sprichst von Abstimmung, aber du weißt schon jetzt, wie sie ausfallen wird. Denn dir ist klar, daß wir mit der ‚Isabella‘ in ihrem jetzigen Zustand nicht die geringste Chance haben, durch die Magellanstraße zu segeln. Und du erwartest von mir, daß ich das der Crew verklickere, so denkst du dir das doch, oder nicht?“



Der rothaarige Hüne lachte dröhnend.



„Aber keine Sorge, ich tu’s wirklich. Ich möchte doch mal sehen, wie der alte Tucker sich als Maultiertreiber benimmt. Bis auf wenige Ausnahmen werden die Jungs genauso denken wie ich. Auf, an Deck, Männer! Ich freue mich schon jetzt auf die dummen Gesichter dieser Klabautermänner!“



Ferris Tucker stand auf, und die anderen erhoben sich ebenfalls. Ben Brighton blieb noch zurück, während Tucker und die anderen bereits die Kammer verließen.



„Ja, Ben?“ Der Seewolf sah seinen Bootsmann an. „Was hast du noch für Kummer?“



„Unsere Crew spricht kein Spanisch. Sobald sie in Baudo den Mund aufreißen, sind wir geplatzt. Wie hast du dir das gedacht?“



Der Seewolf trat dicht an Ben Brighton heran.



„Sie werden eben das Maul halten, Ben. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht. Und ihr, du, Carberry, Ferris, Smoky und noch ein paar aus unserer Crew werden dafür sorgen, daß keiner der Kerle dusselig in der Gegend rumquatscht. Aber ich werde ihnen das noch selber sagen, gehen wir erstmal an Deck und bringen wir die Sache hinter uns.“



Die Crew der „Isabella III.“ hatte sich in der Kuhl versammelt. Atemlos lauschten die Männer den Worten Hasards, während die „Isabella“ mit windgeblähten Segeln Meile um Meile in Richtung Küste zurücklegte.



Als der Seewolf zu Ende gesprochen hatte, herrschte genau wie zuvor in seiner Kammer Stille. Ferris Tucker, der zusammen mit Ben Brighton neben dem Seewolf stand, richtete sich zu seiner vollen, hünenhaften Größe auf.



„Männer, ihr kennt mich alle. Bei mir werden keine Sprüche geklopft, bei mir zählen nur Tatsachen. Wenn ich den Vorschlag des Seewolfs für schlecht oder undurchführbar h

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