Seewölfe - Piraten der Weltmeere 159

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Seewölfe - Piraten der Weltmeere 159
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Impressum

© 1976/2015 Pabel-Moewig Verlag KG,

Pabel ebook, Rastatt.

ISBN: 978-3-95439-483-8

Internet: www.vpm.de und E-Mail: info@vpm.de

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

1.

Bleigrau stieg der Morgen des 8. August 1588 aus der See. Der Kanonendonner war verstummt, die Schlacht um die Armada vorbei.

Überall dümpelte Treibgut in der noch nachtschwarzen See. Auf den Sänden vor Calais ragten die zerfetzten Masten der Wracks in den Himmel, schwarz und düster wie der Tod, der in den vergangenen Stunden auf den Schiffen der Spanier grausige Ernte gehalten hatte. Auf manchen der Wracks schwelten immer noch an verschiedenen Stellen Brände. Dunkler, schwerer Rauch wurde vom Westwind langsam nach Osten über die Straße von Dover auf die nahe französische Küste zugetrieben.

Ein Tag des Grauens und eine Nacht der Verzweiflung waren vorüber. Von denen, die diese entsetzlichen Stunden überlebt hatten, wußte niemand, was dieser neue Morgen bringen würde.

Capitan Manuel de Diaz fuhr aus dem unruhigen, quälenden Schlaf der vergangenen Nacht hoch. Er wußte nicht, was ihn geweckt hatte, ächzend setzte er sich auf. Mit seinen entzündeten Augen blickte er sich um.

Die Erinnerung setzte ein und mit ihr das bestürzende Bewußtsein einer Niederlage, wie sie niemand an Bord der spanischen Schiffe für möglich gehalten hatte.

Langsam glitten seine Blicke über das Schiff. Was er sah, drehte ihm fast den Magen um. Zerschossene Schanzkleider, so weit der Blick die langsam weichende Dunkelheit durchdringen konnte. Zersplitterte Masten, nur der Besan auf dem Achterdeck war wie durch ein Wunder dem Kugelhagel aus den englischen Kanonen entgangen. An Deck des Schiffes lagen Tote, neben und zwischen ihnen Verwundete, zu schwach, um sich zu helfen. Wer diese Nacht und den Tag davor halbwegs unversehrt überstanden hatte, lag irgendwo an Deck in einem totenähnlichen Schlaf der Erschöpfung.

Capitan Manuel de Diaz zuckte zusammen. Vor seinen Augen entstand wieder das grauenhafte Bild der heransegelnden Brander, der Höllenschiffe, die der zersprengten und dezimierten Armada den Rest gegeben hatten. Auch sein Schiff, die „El Cid“, ein Zweidecker von rund 600 Tonnen, war beinahe das Opfer eines Branders geworden, der in der Nähe der „El Cid“ explodiert war und den Zweidecker mit brennenden Trümmern übersät hatte. Nur der todesmutige Einsatz aller verfügbaren Männer hatte das Schiff gerettet.

Capitan de Diaz erhob sich. Er mußte nach seinen Männern sehen, dann galt es festzustellen, ob sich auf der „El Cid“ noch eine Notbesegelung errichten lassen würde, die vielleicht die Heimreise ermöglichte. Außerdem mußten Lecks über der Wasserlinie abgedichtet werden, das Deck klariert und die Toten der See übergeben werden. Alles Dinge, an die während der Schlacht niemand auch nur einen Gedanken verschwendet hatte.

Der Capitan überquerte das Achterkastell, in der Absicht, zur Kuhl hinunterzusteigen. Als er den Niedergang fast erreicht hatte, hörte er das Geräusch gleichmäßig eintauchender und im Takt geschlagener Riemen, dazwischen hin und wieder Gelächter oder Gegröle.

Der Capitan spürte, wie eine eisige Hand ihm das Herz abzudrücken schien. Er brauchte nicht einmal eine Sekunde, um zu begreifen, wer sich da seinem Schiff in welcher Absicht näherte: die Leichenfledderer, die Küstenwölfe, die Beachcomber und Strandläufer der französischen Küste, die jetzt auf ihre Weise Nutzen aus der Schlacht um die Armada ziehen wollten.

Capitan Manuel de Diaz war augenblicklich hellwach. Das bedeutete Tod, Folter, neues, qualvolles Sterben. Denn diese Kerle waren keine Menschen, sondern Bestien, der Capitan kannte sich aus.

Sein Alarmruf schallte über das Deck und weckte einige der Schläfer.

„Kämpft, Männer, wenn euch euer Leben lieb ist!“ schrie der Capitan und riß seinen Degen heraus. „Die Küstenwölfe kommen, gebt kein Pardon, wehrt euch eurer Haut!“

Es war wie ein Wunder. Diejenigen, die die Nacht überlebt hatten, begriffen schnell. Ihre Schläfrigkeit verflog, sie griffen zu ihren Waffen und scharten sich um ihren Capitan.

„Aufs Achterkastell! Rasch! Ladet eine Drehbasse, Pulver und Munition ist noch da! Aber beeilt euch, oder die Kerle schlachten uns ab!“

Die Männer rannten los. Einige von ihnen griffen sich eine der herumliegenden Musketen, andere stürzten an die Drehbasse. Vom Wasser her wurde der Alarmruf des Capitans mit wüstem Gebrüll beantwortet, einzelne Musketen- und Pistolenschüsse krachten, und ihnen folgte wieder wüstes französisches Gebrüll.

Der Capitan behielt kühlen Kopf. Ihm blieb noch Zeit, das Laden der Drehbasse zu überwachen. Anschließend stellte er sich selber hinter die nach allen Seiten drehbare und in jede Richtung schwenkbare Kanone.

Er hörte, wie das Boot der Küstenwölfe gegen die Bordwand der „El Cid“ prallte. Wenige Augenblicke später tauchte das Gesicht des ersten Leichenfledderers über dem zerschossenen Backbordschanzkleid auf.

Eiskalt wartete der Capitan. Durch eine Handbewegung hatte er seine Männer angewiesen, in Deckung zu gehen und sich ruhig zu verhalten.

Die Leichenfledderer versammelten sich auf der Kuhl und steckten die Köpfe zusammen. Die ganze Sache war ihnen unheimlich. Einer von ihnen, ein wüst aussehender riesiger Kerl, der in der Rechten ein breites Entermesser und in der Linken eine Pistole hielt, brüllte einen Befehl.

Die Franzosen wollten auseinanderspritzen und sich über das obere Geschützdeck des Zweideckers verteilen, aber es war zu spät.

Der Capitan drückte die Lunte, die er bisher hinter seinem Rücken verborgen gehalten hatte, auf das Pulver. Donnernd entlud sich die Drehbasse und schickte in ihrem langen Mündungsfeuer Tod und Verderben zu den Küstenwölfen hinüber. Gleichzeitig sprangen seine Männer, ein kleines Häufchen von knapp zwanzig Mann, aus ihren Deckungen.

„Kämpft, Männer! Kämpft um euer Leben, kämpft um euer Schiff! Wir haben die Schlacht um die Armada überlebt, wir haben den Branderangriff überstanden, jetzt werden wir auch noch mit diesen Kerlen fertig!“

Die Spanier brüllten aus Leibeskräften. Dann packten sie ihre Waffen und drangen auf die Franzosen ein, die entnervt zurückwichen und die neue Lage nicht schnell genug begriffen.

Nur der Anführer, der den Bleihagel der Drehbasse überlebt hatte, erfaßte die Situation.

„Deckung, Leute!“ überschrie er das Kampfgetümmel. „Laßt sie nicht an euch heran, wir wollen Beute, nicht den Tod. Jeden Moment müssen Marcell und seine Männer hier sein, dann räumen wir auf mit den Dreckskerlen da hinten!“

Er zog sich zurück und sprang geschmeidig über ein paar Tote. Aber die Spanier erkannten ihre Chance. Außerdem hatte der Capitan, der der französischen Sprache teilweise mächtig war, ungefähr verstanden, was der Anführer der Küstenwölfe befohlen hatte. Manuel de Diaz wußte, daß sie sofort siegen mußten, wenn sie auch nur eine geringe Überlebenschance behalten wollten. Deshalb feuerte er seine Männer an, und mit wildem Gebrüll drangen sie auf die dezimierten und entnervten Franzosen ein.

Der Capitan und seine Männer ahnten nicht, daß der Schuß aus der Drehbasse auch noch andere Männer alarmiert hatte, deren Schiffe vor Calais westlich der „El Cid“ in der Straße von Dover ankerten.

Als sich die Drehbasse der „El Cid“ donnernd entlud, schreckte Ed Carberry, der eisenharte Profos der „Isabella“, aus seinen wirren Träumen. Er stemmte sich aus seiner Taurolle auf der Back, aber sogleich fuhren seine Hände zum Schädel, der dröhnte, als habe ihn jemand zur Trommel degradiert.

„Mast und Schotbruch!“ sagte der Profos und hielt sich ein paar Sekunden lang den Schädel. Doch dann war er plötzlich hellwach, denn durch die Morgendämmerung drangen Musketenfeuer und Männergebrüll an seine Ohren.

Carberry sprang auf. Schädel hin und Schädel her. Saufen, ein paar Fässer Rum nach gewonnener Schlacht mit den Seewölfen lenzen, das war die eine Sache. Der Drehbassenschuß und das wüste Gebrüll, das in diesem Augenblick zu ihm herüberschallte, die andere.

Carberry sprang ans Schanzkleid des Vorderkastells. Wieder Musketenfeuer, und diesmal wies es seinem Blick die Richtung.

Er sah das große spanische Schiff, das offenbar nicht aufgelaufen war, sondern vor einem der Sände geankert hatte.

„Ein Zweidecker!“ murmelte Carberry und starrte hinüber. „Und da muß ganz hübsch was los sein!“

Seine scharfen Augen versuchten, die Dämmerung, die sich nur zögernd am Horizont hochschob und langsam das Dunkel der Nacht verdrängte, zu durchdringen. Und dann sah er sie: die Boote und ein paar Schaluppen, die von der Küste her auf die Sände zuhielten, auf denen die Wracks der spanischen Schiffe lagen, und zum Teil damit beschäftigt waren, Treibgut aus der See zu fischen.

Carberry brauchte nicht länger als der spanische Capitan, um zu begreifen, welches Drama sich dort anbahnte. Er ballte seine gewaltigen Pranken zu Fäusten.

 

„Wartet, ihr verlausten Leichenfledderer, ihr sollt den alten Carberry kennenlernen!“

Der Profos sauste in die Kuhl. Dann baute er sich auf, holte tief Luft, und im nächsten Moment erzitterte das Schiff unter seiner gewaltigen Stimme.

„Hurtig, hurtig, ihr verdammten Penner, ihr miesen Bilgenkakerlaken. Reise, Reise, aufstehen, oder ich mache euch Beine. Ich ziehe euch einzeln die Haut von euern Affenärschen in Streifen ab, wenn ihr nicht bald hoch seid!“

Das Gebrüll hätte Tote erweckt. Sogar der Seewolf in seiner Kammer im Achterkastell fuhr hoch. Auch er brauchte einen Moment, bis er wußte, daß Carberry aus irgendeinem Grund da draußen an Deck herumbrüllte. Aber er wußte auch, daß der Profos dazu einen triftigen Grund haben mußte.

Hasard fuhr in die Stiefel, wischte die Haare aus der Stirn und eilte aus der Kammer.

An Deck erwartete Carberry ihn bereits, genauer gesagt – der Seewolf prallte gegen den Profos, als er auf die Kuhl stürmen wollte.

Carberry grinste ihn an, während seine gewaltigen Pranken den Seewolf packten und damit verhinderten, daß er unfreiwillig an Deck ging.

„Was ist los, Ed?“ fragte Hasard und blickte dann seine Männer an, die zwar noch einen benebelten Eindruck machten, aber mit Ausnahme Luke Morgans, der wegen seiner schweren Verbrennungen, die er sich beim Branderangriff in der Nacht zugezogen hatte, seine Koje nicht verlassen durfte, alle auf den Beinen waren. Sogar Smoky mit seinem Schulterschuß und Ferris Tucker mit seiner Kopfwunde.

„Die Leichenfledderer sind unterwegs“, sagte der Profos. „Sie greifen die spanischen Wracks an. Wahrscheinlich metzeln sie alles nieder, was dort noch lebt. Diese verdammten Bastarde haben zwar nicht gekämpft, aber jetzt morden und plündern sie. Dort, dieser Zweidecker da, der wehrte sich erbittert. Aber sieh hin, zwei weitere Boote und eine Schaluppe halten auf ihn zu, damit ist das Schicksal der Dons besiegelt. Die Dons haben die Hölle hinter sich, wer jetzt noch lebt, der hat Anspruch auf Hilfe. Auf unsere Hilfe, auch wenn die Kerle gestern noch unsere Feinde waren. Die Schlacht ist vorbei, wir werden nicht zulassen, daß diese Mörder, Leichenfledderer und Plünderer dort alles niedermetzeln, was jetzt noch lebt. Das ist meine Meinung und auch die aller anderen.“

Erneutes Musketenfeuer und Gebrüll an Bord des spanischen Zweideckers unterstrichen seine Worte.

Statt einer Antwort winkte der Seewolf Bill, den jüngsten der „Isabella“-Crew, zu sich heran.

„Hol mir meine Waffen, Bill. Ein Boot zu Wasser. Batuti, Matt, Dan, Ed, Blacky, Stenmark, Ben, Pete – ihr kommt mit. Ferris, du übernimmst das Kommando während meiner Abwesenheit. Sei auf der Hut, auch von See her können diese Kerle angreifen, sie wissen schließlich nicht, daß wir Engländer und völlig intakt sind. Und wahrschaut die ‚Le Vengeur‘. Ribault und von Hutten sollen ebenfalls ein Boot klarmachen und sehen, was sonst noch an Spaniern lebt. Ich habe eine bestimmte Absicht dabei.“

Es war unnötig, daß Ed weitere Kommandos gab, die Seewölfe brachten ihr großes Beiboot in Rekordzeit zu Wasser. Inzwischen wahrschaute Ed Carberry mit seiner gewaltigen Stimme die „Le Vengeur“, die in Rufweite von der „Isabella“ ankerte.

Es dauerte eine Weile, bis sich dort jemand meldete, und der Profos stieß die schlimmsten Verwünschungen und Drohungen aus. Aber dann tauchte Jean Ribault an Deck auf und begriff sofort.

„In Ordnung, ‚Isabella‘, wir werden die Kerle ein wenig aufschwänzen!“

„Wurde aber auch verdammt Zeit, mein Freund!“ knurrte der Profos. Als er in die Kuhl abenterte, war das Boot bereits zu Wasser. Ohne ein weiteres Wort griff sich Carberry den Tampen, an dem es noch hing, und sauste hinunter.

„Los, ihr Rübenschweine, pullt, oder ich ziehe euch wahrhaftig die Haut in Streifen von euern Affen …“ Der Rest seines Lieblingsspruchs ging im tosenden Gelächter der Seewölfe unter, während sie sich in die Riemen legten. Der Seewolf hatte das Ruder übernommen, neben ihm saß Ben Brighton auf der Achterducht. Carberry baute sich vorn im Bug auf, eine Muskete in seinen Riesenpranken.

Das Boot schoß durchs Wasser, genau auf die „El Cid“ zu.

Es wurde allerdings auch allerhöchste Zeit, das sahen der Seewolf, Ben Brighton und Ed Carberry nur zu gut. Denn eben erreichten zwei weitere Boote den spanischen Zweidecker, und ihre Besatzungen enterten unter wüstem Geheul an Bord.

Capitan Manuel de Diaz und seine Mannen kämpften wie die Berserker um jeden Yard Deck. Aber die Übermacht war zu groß, langsam und stetig wurden sie zurückgedrängt, und das Häufchen von zwanzig Mann war bereits auf siebzehn zusammengeschrumpft. Auch der Capitan blutete aus mehreren Wunden. Er fühlte, wie seine Kräfte allmählich erlahmten.

„Ein Mann nach achtern“, keuchte er. „Ich muß wissen, ob sich noch mehr Boote nähern. Wir dürfen nicht zulassen, daß uns die Kerle von hinten packen und uns dann in die Zange nehmen, indem sie auch achtern aufentern. Du, Pedro, sieh nach, du hast scharfe Augen! Ich decke dich!“

Der Capitan stürmte vor. In einem wütenden Ausfall drängte er den bereits triumphierenden Anführer der Küstenwölfe zurück. Blitzschnell zuckte sein Degen vor, wischte die Deckung des Gegners zur Seite und bohrte sich dann in dessen rechten Oberarm.

Der riesige Küstenwolf schrie auf, die Waffe entglitt seinen Händen, er stolperte über ein paar herumliegende Taue aus dem laufenden Gut der „El Cid“ und stürzte zu Boden.

Sofort war der Capitan heran, wieder zuckte sein Degen vor, traf den Gegner abermals, diesmal schwerer, und nur durch blitzschnelles Abrollen zur Seite entging der Anführer der Küstenwölfe dem Tod.

Ein paar der anderen, die das alles mitangesehen hatten, ohne ihrem Anführer helfen zu können, heulten vor Wut. Sie hieben sich den Weg frei und drangen auf den Capitan ein. Der Capitan mußte sich zurückziehen, und sofort setzten die Franzosen nach.

Aber es gelang den Spaniern, ihren Capitan in einem blitzartigen Ausfall herauszuhauen, dann zogen sie sich erschöpft zurück. Kämpfend erreichten sie die Stufen, die zum Achterdeck hinaufführten, und in diesem Moment geschah es.

An Steuerbord drang ein wüster Haufen neuer Küstenwölfe durch das zerschossene Schanzkleid. Etwas später geschah das gleiche an Backbord.

Der Capitan sah die Männer – und die Mordlust in ihren Augen. Das ist das Ende! durchzuckte es ihn.

„Aufs Achterkastell, Männer!“ brüllte er. Kämpfend deckte er seine Männer, bis auch der letzte die Stufen erstiegen hatte, dann zog er sich selber zurück und wunderte sich, warum keiner der Küstenwölfe auf ihn und seine Männer geschossen hatte.

Der Capitan wußte nicht, daß er das dem verletzten Anführer jener Plünderer zu verdanken hatte, die zuerst an Bord des Zweideckers geentert waren.

„Ich will diesen Bastard lebend!“ hatte er gesagt und mit der Rechten seine blutende Wunde am Leib zugehalten. „Ich will sie alle lebend, hört ihr?“ Er hatte sich auf die Füße gequält, unterstützt von zweien seiner Männer. Haß loderte in seinen Augen.

Die anderen respektierten seinen Befehl. Sie waren daran gewöhnt, ihm bedingungslos zu gehorchen.

Der Capitan erreichte das Achterdeck – und wieder geschah etwas völlig Unbegreifliches.

Pedro stürmte auf ihn zu.

„Ein Boot, Senor Capitan, schwer bewaffnete Männer versuchen …“

Weiter gelangte er nicht. Der Seewolf tauchte mit seinen Männern an Backbord auf. Zunächst unbemerkt von den Franzosen, die nur Augen für die immer noch kämpfenden, aber inzwischen merklich erschöpften Spanier hatten.

„Drauf! Ar-we-nack!“

Erst dieser Ruf ließ die Plünderer herumfahren. Zu spät, denn die Seewölfe brachen wie ein Orkan über sie herein. Neben Hasard der riesige Profos, der gleich zwei von ihnen packte, ihre Köpfe zusammenschlug und sie dann kurzerhand über Bord warf. Danach gab es kein Halten mehr. Mit ihren Fäusten und Entermessern räumten die Seewölfe auf. Batuti schwang seinen gewaltigen Morgenstern und rollte dabei mit seinen Augen geradezu furchterregend.

Die Plünderer begriffen nichts von alledem, was ihnen geschah. Sie begriffen nur eins, daß ihre einzige Rettung in der Flucht lag. Ein paar von ihnen sprangen über Bord. Die anderen folgten, als wären tausend Teufel hinter ihnen her.

Minuten später herrschte Stille an Bord der „El Cid“. Capitan Manuel de Diaz lehnte nach Atem ringend an der Schmuckbalustrade des Achterkastells. Er sah die Männer an, vor allem ihren Anführer. Einen Riesen mit eisblauen Augen, pechschwarzen schulterlangen Haaren, die im Wind wehten. Er hatte irgendwann und irgendwo einmal von diesem Mann gehört, aber er war viel zu erschöpft, um seine Gedanken wirklich ordnen zu können.

Der Capitan stieß sich von der Schmuckbalustrade ab und wollte hinunter in die Kuhl, zu jenen Männern, die ihn und die Seinen vor einem schmählichen und entsetzlichen Ende bewahrt hatten, aber der Seewolf war schneller. Er enterte zusammen mit Ben Brighton die wenigen Stufen zum Achterkastell auf. Dann trat er auf den Capitan zu, um den sich die übrigen siebzehn Spanier im Halbkreis geschart hatten und ihm erwartungsvoll entgegenstarrten.

Capitan de Diaz streckte dem Seewolf die Hand entgegen.

„Wer Sie auch sein mögen, Senor, ich danke Ihnen, ich und diese Männer da. Sie waren buchstäblich in allerletzte Sekunde zur Stelle“, sagte er in erstklassigem Spanisch.

„Sie haben mir nichts zu danken, senor Capitan. Wir dulden nicht, daß tapfere Männer, die die Schlacht um die Armada überlebt haben, von dieser feigen Mörderbrut gemeuchelt werden. Wir werden Ihnen helfen, Ihr Schiff aufzuklaren, Notmasten zu errichten und Ihnen eine Besegelung anfertigen, die Sie befähigt, aus eigener Kraft nach Spanien zurückzukehren. Freunde von uns suchen indessen nach überlebenden Spaniern, sie werden zu Ihnen an Bord gebracht. Auf diese Weise kriegen Sie eine Besatzung zusammen.“

Der Capitan starrte ihn an. Lange.

„Und wer, Senor, sind Sie? Wem verdanke ich das alles?“

Statt des Gefragten antwortete ein anderer. Ed Carberry hatte sich zwischen Ben Brighton und Hasard geschoben.

„Man nennt ihn den Seewolf, Senor. Und das dort ist Mister Brighton, der erste Offizier und Bootsmann der ‚Isabella‘ …“

Der Capitan spürte, wie das Schiff um ihn zu kreisen begann. Er merkte nicht, daß der eisenharte Profos zupackte und ihn stützte.

Durch die Spanier ging ein Raunen. „El Lobo del Mar“, hörte Carberry sie flüstern, und scheue, ehrfürchtige Blicke streiften den Seewolf.

Der Capitan hatte sich wieder gefaßt.

„Senor, Sie, ein Engländer, retten mir und meinen Männern nicht nur das Leben, sondern Sie bieten mir auch noch großzügig Ihre Hilfe an?“

Wieder sah er den Seewolf lange an, und dann nickte er.

„Ja, das paßt zu all den unglaublichen Geschichten, die ich über Sie gehört habe. Es muß an meiner Erschöpfung liegen, daß ich Sie nicht sofort erkannt habe, daß ich …“

Er sackte plötzlich in sich zusammen. Carberry bettete ihn vorsichtig auf die Planken. In seinen sonst so harten Zügen war Mitleid, als er den Seewolf anblickte.

„Es muß für sie alle, die Hölle gewesen sein, ich glaube, wir sollten …“

Hasard nickte, ehe Carberry seinen Satz beendet hatte.

„Der Kutscher muß her, und unser Segelmacher. Diese tapferen Männer sollen aus eigener Kraft nach Hause segeln!“

Alle Seewölfe waren sofort einverstanden, und schon begannen sie, an Deck des Zweideckers aufzuklaren. Sie legten die Toten zur späteren Bestattung zusammen, beseitigten die gröbsten Trümmer und untersuchten das Schiff auf seine Seetüchtigkeit. Die Spanier halfen ihnen dabei, immer noch grenzenlose Verwunderung in den Augen.

Das kleine Beiboot brachte den Kutscher an Bord. Ebenfalls den Segelmacher Will Thorne. Auch diese beiden Männer begaben sich schweigend an die Arbeit. Doch dann geschah etwas, womit niemand gerechnet hatte und das die friedliche Szene mit einem Schlage wieder veränderte.

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