Buch lesen: «Kandenberg-Alt Schmiede», Seite 3

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Doch dann rechnete sie im Kopf die Summen zusammen. Als Barfrau ging das ziemlich schnell. Dabei war sie in der Schule echt nicht gut in Mathe gewesen. Für das Knoblauchbrot hatte sie 5,50 € bezahlt, für das Bier 2,80 €. Vorher hatte sie einen Kaffee und ein Stück Kuchen gehabt: 6,99 €. Dazu kamen noch das Eis (1,20€) und die Erdbeerbowle für 3,20 €. Das machte zusammen 19,69€.

Nie in hundert Leben hätte sich Nadine das als Studentin leisten können. Und heute verstand sie es als die „kleinen Dinge“. Als sie das in ihrem Kopf durchging änderte sich ihr Blick. Der Terrier bemerkte das, schnell gab er sich mehr Mühe. Sie redeten über typische Smalltalksachen. Filme, Musik und die besten Stände des Kandenberger „Freissmeilenfestes“. Irgendwann fragte der Terrier nach Nadines Instanamen, er wollte sie anschreiben. Doch stattdessen gab sie ihm ihre Handynummer. Es kam allerdings nie zu einem richtigen Treffen. Sie lud ihn in das „Paradiso“ ein, musste da aber selbst arbeiten. Sie kamen nicht wieder richtig ins Gespräch, aber es entstand auch keine komische Stimmung zwischen ihnen. Mit der Zeit wurde das „Paradiso“ so etwas wie die Stammkneipe für die Gruppe um Astra und den Terrier.

Für den Terrier war der Weg zu der Bar auch wirklich nicht weit. Vorausgesetzt, er musste nicht erst einmal in die Stadt, um jemanden abzuholen. Wenn er direkt zu der Bar wollte, musste er nur vor der zweiten Brücke rechts abbiegen und den Pfaffenstieg hochlaufen. Kurz bevor es zu Nadines Sackgasse ging, war die Stelle, an der sich die beiden hätten oft treffen können, aber doch nie sahen. Dann ging man einen nicht verdichteten Weg entlang, der in den Stadtpark führte. An der einen Seite standen Laubbäume, die die Sicht versperrten. Die andere Seite war durch Büsche und Wildbeerenwuchs gekennzeichnet. Der grüne Untergrund erhob sich ein Stück. Oben thronten alte Stadtvillen, die auf den Park und den Weg hinabschauten. Nun erhob sich auch die mit Bäumen bewachsene Seite zu einem Wall. Der Weg schnitt durch ein Tal. In regelmäßigen Abständen waren an der Seite Mülleimer und Bänke hingestellt. Manche der Bänke waren ganz vermodert. Das Holz hatte sich grün gefärbt und Teile faserten ab. Pilze wuchsen darauf und sorgten dafür, dass die Bänke wie fantastische Wesen wirkten. Übergroße Faultiere, die in verschwurbelten Worten den Helden auf seine Reise schicken würde. Eine Reise, die durch den Kandenberger Stadtpark ging und ganz woanders enden sollte. Doch zunächst musste sich der Held entscheiden, ob er den Weg weiter folgen wollte und durch den nächsten Tunnel gehen würde. Nadine und der Terrier gingen nie durch den Tunnel. Zumindest nicht, wenn sie in das „Paradiso“ wollten. Dann mussten sie auf den Weg, der über dem Tunnel verlief. Dafür konnte man rechts eine Treppe benutzen, die aber aufgrund ihrer Richtung und der gestreckten Bauform einen Umweg von mindestens anderthalb Minuten bereithielt oder man ging nach links auf den Trampelpfad. Das war schneller. Helden hatten es eilig. Nadine und der Terrier nahmen immer den Trampelpfad. Zumindest, wenn sie in das „Paradiso“ wollten.

Der über den Tunnel führende Weg war ein großer asphaltierter Ring. Er zog sich um den gesamten Stadtpark und über den Fluss. So umschloss er auch den Kandenberger See, auch Johsee genannt. Auf der einen Seite fiel der Hang weiter ab. Stand man auf dem Asphaltweg konnte man auf das Wasser sehen, in dem an einem Januarabend niemand schwamm. In den Sommermonaten sammelten sich Eingeborene und Studenten an den künstlich angelegten Sandstränden der zwei Bäder. Dem Joh-Beach und der Joh-Wiese. Da man dort allerdings keine Glasflaschen bei sich haben durfte, wurden auch die kleinen Abschnitte zwischen den Bäumen zum Ausbreiten genutzt. Der See war ein Segen für Kandenberg. Von dort hatte man es auch nicht weit in die Stadt und zu den Kneipen. Man musste nur den Ring hochlaufen und dann eine, der in den Wall eingelassenen, Treppen nehmen. Eine der Treppen führte genau vor das „Paradiso“, in dem sich Astra, Elif, Lion und der Terrier nach dem zweiten Mal Finger heben viel angeregter unterhielten. Die Sitzformation war erhalten geblieben und der Terrier war Elif noch nicht nähergekommen.

„Wartet! Bevor wir das trinken, will ich noch ein Foto machen.“

Elif stellte die Gläser zu einer Raute zusammen.

„Schließlich wollen meine Follower*innen sehen, was ich für ein spannendes Leben habe“, lachte sie. Der Terrier runzelte die Stirn. Man wusste nicht, ob er das machte, weil ihm das Bier für ein doofes Foto weggenommen wurde, oder weil ihm die Genderei von Elif zuwider war.

„Ich verstehe ja wirklich, warum man das macht. Aber das ist übertrieben“, behauptete Terrier.

„Das war ja nur ein Scherz, ich packe das Bild einfach nur in die Story, dann ist es bald weg und meine Freunde schauen sich das an und wir hören mal wieder voneinander“, antwortete Elif.

„Das meinte ich nicht ...“

Der Terrier wollte auf seinen Punkt zurückkommen, doch Astra lehnte sich nach vorne, unterbrach ihn und versperrte seine Sicht auf Elif.

„Warum postest du eigentlich keine Pics mehr von Theo?“

„Ja stimmt, ist mir auch aufgefallen. Hat Hanna ihr Veto eingelegt?“, lachte Lion.

Er imitierte Elifs Mitbewohnerin: „Wenn du süße Katzenbilder willst, kauf dir dein eigenes Tier!“

„Das war aber richtig weit weg von Hanna“, sagte Astra.

„Können ja nicht alle, eine goldene Zunge wie du haben“, rechtfertigte sich Lion.

„Auch das klingt falsch. Jungs, aus euren Mündern, will ich so etwas nicht hören“, schritt der Terrier ein.

Lion hatte gerade einen Schluck aus seinem Bierglas genommen und musste sich die große Hand beim Lachen vor den Mund halten. Astra haute dem Terrier den Ellenbogen in die Rippen und zeigte ihm den Mittelfinger.

Elif hatte sich auf ihren Hocker leicht nach rechts gedreht und konnte nun allen drei in die Augen schauen (höchstwahrscheinlich nicht gleichzeitig), dann sagte sie: „Ich bin mir gar nicht so sicher, weshalb ich von Theodor Tatze keine Bilder mehr gemacht habe. Wenn man bedenkt, wie oft ich ihn früher fotografiert habe, denn er sieht ja aber auch immer zuckersüß aus. Das ist ja auch ein richtig schönes Tier, aber auch echt ein lieber Kater. Ein richtiger Charakter. Das ist ja bei Katzen häufig so. Die haben ihren eigenen Kopf. Einen Hund kann man zum Kuscheln rufen. Eine Katze entscheidet, ob sie zum Kuscheln kommt. Und wenn Theo dann kommt, bin ich froh. Will die Zeit nicht mit Fotos verschwenden. Am Anfang dachte ich, dass so die Erinnerungen erhalten blieben. Aber ein Bild ist ja dann doch wie das andere. Sicherlich, wenn er jetzt besonders lustige Sachen macht. Was weiß ich, Zunge beim Schlafen rausstrecken zum Beispiel, dann mach ich noch ein Bild. Aber ansonsten ... Außerdem hat man bei Theodor Tatze wirklich das Gefühl einen Mitbewohner zu haben. Da kann man ihn ja auch nicht einfach so fotografieren, ohne seine Erlaubnis.“

„Da kann ich nur zustimmen, Theo entscheidet wirklich selbst, ob er einen mag oder nicht“, sagte der Terrier.

„War bei dir nicht so?“, fragte Lion

„Nee, war bei mir nicht so“, grinste der Terrier.

„Wenn ihr ein Haustier hättet, hättet ihr dann lieber einen Hund oder eine Katze?“, fragte Elif.

„Hund“, sagte Lion.

„Ja, bei mir auch“, stimmte der Terrier ihm zu.

„Stehen nur die beiden Tiere zur Auswahl?“, fragte Astra.

„Naja eigentlich; eigentlich schon. Nur die beiden. Wieso was willst du denn haben?“

„Einen Otter“, sagte Astra

„Du musst immer übertreiben, Alter. Wir wissen doch, dass du ein Paradiesvogel bist. Das ist ja gut. Das ist ja schön, aber du labst dich da ´rin förmlich“, echauffierte sich der Terrier.

Lion und Elif mussten beide in sich hinein grinsen, denn sie wussten, dass jetzt die berühmte Astra-Terrier-Zankerei losgehen würde.

„Was soll das denn heißen? Ich labe mich überhaupt nicht in Sachen. Ich kann ja nichts dafür, dass du so lame bist.“

„Dicker, letztens, als wir über Farben geredet haben, musstest du darauf bestehen, dass ,Metallic Weinrot´ deine Lieblingsfarbe ist. Wo ich herkomme, hätte man dir da Eine auf den Deckel gegeben.“

„Jooo wahrscheinlich, tu noch so, als ob du aus der ,Bronx´ kommen würdest. Du kannst ja nicht mal sagen, was dein Problem ist.“

„Nur weil du extravagant bist, müssen nicht alle deine Antworten extravagant sein. Es gibt auch so etwas wie common sense. Wenn man gefragt wird, wer der beste Fußballer ist, sagt man Messi oder Ronaldo. Das hässlichste Auto ist der Fiat Multipla. Der coolste Dino der T-Rex und der coolste Bär ist der Eisbär. Manchmal ist die Welt einfach langweilig und es gibt nur eine richtige Antwort. Aber du würdest auf die gleichen Fragen mit Jess Bhamra, Twizy, Archaeopteryx und Koala antworten."

„Ey, der Film war so scheiße. Ich verstehe nichts von Fußball. Absolut gar nichts und habe das gemerkt. Jedes Mal, wenn die Spielerinnen geschossen haben, kam ein Cut. Und dann haben sie gezeigt, wie der Ball in den Winkel geflogen ist", sagte Elif und Elif mochte eigentlich jeden Film mit weiblichen Hauptrollen.

„Koala ist kein Bär", grummelte Lion.

„Der Archaeopteryx ist schon verdammt cool", sagte Astra

„Ja gut, das war ein schlechtes Beispiel", musste der Terrier zugeben.

„Ich bin halt etwas Besonderes."

„Ja, aber nicht so besonders. Zu sagen, dass ,metallic weinrot´ die Lieblingsfarbe ist, ist effekthascherisch."

„Effekthascherisch?", Astra riss lachend die Augen auf, sein Fischerhut rutschte ihm dabei fast vom Kopf, dann sagte er: „Lass uns um deinen Effekt spielen."

„Darts?"

„Yes, Sir."

„Einsatz?"

„Wenn du verlierst, musst du heute in jedem Gespräch einmal erwähnen, dass deine Lieblingsfarbe ,metallic weinrot´ ist und wenn ich verliere das Gleiche mit ,rot´."

Beide schlugen ein, tranken aus und gingen zu der Dartscheibe.

Vor der Dartscheibe standen zwei junge Erwachsene, der Terrier kannte sie nicht. Er fragte sie, wie lange sie noch brauchen würden und sie meinten, dass sie gleich fertig wären. Deshalb lehnte sich der Terrier an den Billardtisch, auf dem im Moment niemand spielte. Er beobachtet die beiden Männer, die eine ziemlich große Wurfstreuung hatten. Auch bei der Berechnung des Punktestandes verzweifelten sie. Jetzt hatten die Jungs auch noch die Blicke des Terriers im Nacken. Dieser schaute allerdings gar nicht wirklich hin. Er nahm sich den weißen Spielball und ließ ihn über den grünen Tisch gleiten. Dann schaute er auf und wollte sehen, wo Astra bliebe. Der stand bei Nadine am Tresen. Er nahm zwei Kurze in die Hand. Zu Nadine meinte er: „Mach am Besten epische Musik an, dein Terrielappen wird jetzt zerstört.“

Nadine hob entschuldigend die Hände. Die Handflächen gen Decke gestreckt, keine Fingernägel.

„Ich habe leider nicht so viel Musik.“

„Ja das merke ich, ,Wolke 4´ kommt jetzt zum dritten Mal.“

„Das Lied gefällt mir halt.“

Denn schließlich beschrieb kaum ein Lied die Gefühlslage von Nadine so gut wie dieses.

Wenn Astra mit Lion zusammen war, schwebte er immer auf Wolke 7. Die Kurzen in seiner Hand machten die Flügel noch leichter. Er reichte einen dem Terrier.

„Oar Mann, dafür ist es echt zu früh. Was ist das?“

„Pfeffi.“

Während sie den Kopf in den Nacken warfen, drehten sich die beiden Dartsspieler um, wollten aber nicht zugeben, dass sie sich verzählt hatten, sie gaben die Pfeile Astra und dem Terrier. Die weiße Billardkugel wurde in das Eckloch gerollt. Lion und Elif waren aufgestanden und zu ihren Freunden gegangen. Lion nahm Astra den Fischerhut ab und entschuldigte sich kurz, um eine Rauchen zu gehen. Elif setzte sich auf die Stelle, von der der Terrier gerade aufgestanden war. Elif ließ den Wetteinsatz durch ihre Finger gleiten und erinnerte die beiden noch einmal daran. Astra würde zuerst werfen. Er stellte seinen Schuh an die rote Linie.

Im Aufenthaltsraum der Uni gab es zwar eine Dartscheibe, aber keine rote Linie. Terrier und Astra hatten sich darauf geeinigt, die Linie des Parkettfußbodens zu benutzen. Wenn sie zu zweit waren, spielten sie eigentlich immer Darts. Ansonsten war dort auch noch ein Kicker. Astra riss immer so stark an den Metallstäben, dass der mittlere schon ganz verbogen war. Terrier hingegen war so gut im Tischkickern, dass es schon wieder uncool war. Hinter dem Tischkicker stand eine ausgediente senffarbene Sofagarnitur. Die Sitzkissen war schon so durchgenudelt, dass man mehrere Dezimeter in sie hinein versank. Die Dezimeter und die Couch waren froh, dass sich die Studenten trotzdem zu ihnen gesellten, denn sie waren einsam und wurden selten gebraucht. Neben der Holztür, die den Weg zum Keller der Studierendenschaft versperrte, war ein Snack- und ein Kaffeeautomat. Beide wurden häufig benutzt, obwohl man sie vom Flur aus nicht sehen konnte.

Der Terrier hatte mal ein Date mit einem Mädchen aus der Studierendenschaft. Sie hatte ihn für einen Filmabend in den Keller eingeladen. Die anderen Mitglieder hatten Popcorn in Plastiktüten aus dem Discounter gekauft und in eine Bambusschale gefüllt. Daneben standen ungekühlte Coladosen. Die Filmreihe dauerte mehrere Stunden und gefiel dem Terrier überhaupt nicht. Mehr als einmal stand er auf und ging die Treppe zum Snackautomaten hoch. Nach dem Date war er nie wieder in dem Keller gewesen, den Automaten nutzte er kaum noch. Er war eher von ihm genervt, denn wenn sich jemand daraus etwas nehmen wollte, stand derjenige meist zu nah an der, vom Terrier und Astra ausgewählten, Wurflinie.

Es gab noch genau sechs Pfeile, die, wenn man nicht mit ihnen spielte, in einer ausgedienten Vase, zusammen mit dem abgeplatzten Tischkickerball, auf dem Tisch vor dem Sofa lagen. Die Pfeile hatten Plastikspitzen und die Fassungen waren teilweise beschädigt. Sie wackelten. Deshalb kam es manchmal vor, dass der Wurf nicht vom Spielcomputer der elektronischen Dartscheibe gewertet wurde. Der Terrier und Astra ließen solche Würfe nicht wiederholen. Ein einziger Pfeil hatte eine gerade Spitze. Die beiden Freunde prügelten sich fast immer um ihn. Die Initialen LDJ eines unbekannten Studenten waren hinein geritzt. Wenn Astra dran war und der Terrier den Pfeil vorher erringen konnte, schaute er seinem Kompagnon nicht beim Werfen zu, sondern strich mit dem Fingernagel über die Einkerbungen. Dann schaute er auf die Leute bei der Couch.

Vor drei, vier Jahren saßen da ganz andere Menschen, vielleicht ein gewisser LDJ, der seinen eigenen Pfeil mitgebracht hatte. Vielleicht weil er genervt war, dass es nur fünf Pfeile gab. Und vielleicht sitzen die, die jetzt da sind, in fünf Jahren auch ganz woanders. In Kandenberg war man nie lange.

Der Spielcomputer meldete sich, es blinkte und eine elektronische Stimme rief: „triple“.

Astra jubelte. Der Terrier schaute auf.

Vor zwei Jahren kannten die beiden sich noch nicht.

Astra warf ein zweites Mal.

„Triple.“

„Pass auf, jetzt 180.“

Astra traf die 5. Er fluchte und machte dem Terrier Platz. Auch der zielte auf die „triple 20“. Er traf die 1, er traf die 5. Dann hatte er nur noch seinen letzten Pfeil. Den Guten. Den Geraden. Er zielte, warf und traf die 20. Nur die 20. Das „LDJ“ auf der Seite war nicht mehr zu erkennen. Wenn der Pfeil mal zu weit fliegen würde, wird niemand mehr in diesen Raum an den unbekannten Studenten denken. Die, die ihr mal saßen, waren auch weg. Allerhöchsten trafen sie sich einmal im Jahr auf ein Bier und erzählten Geschichten aus tollen gemeinsamen Zeiten. Aber man schrieb keine neuen Geschichten mehr. Man erzählte nur noch von gemeinsamen Dartspielen, aber man spielte nicht mehr. Man erinnerte an das eine Mal: „Weißt du noch, als du fast eine 180 geworfen hast?“ Aber man stellte sich nicht mehr hin und versucht eine 180 zu werfen. Selbst die 20 zu treffen wurde schwer.

Was bei solchen Wiedervereinigungstreffen nie zählte, waren die Anzahl der gewonnenen Spiele, weil die außer der Spielcomputer niemand wirklich mitzählte.

Heute wurde gezählt, denn heute ginge es um etwas. Die Wette zwischen dem Terrier und Astra. Und da die Dartscheibe im „Paradiso“ nicht digital war, erklärte sich Elif für die Punkteüberwachung bereit.

Mit „301“ und „straight out“ konnte sie allerdings nicht viel anfangen, da sie im Gegensatz zu den Jungs in ihren Pausen etwas Besseres zu tun hatte; rauchen.

Astra hatte vom Terrier den Vortritt bekommen und stand an der Linie. Beim Zielen hielt er, wie ein Kellner, die Hand hinter dem Rücken. Der Pfeil mit der Metallspitze landete auf dem Feld mit der 1. Dort blieb er auch stecken. Im Aufenthaltsraum musste man immer Angst haben, dass er wieder rausfällt. Der Terrier lachte schon auf und verstummte dann schnell wieder, als die nächsten beiden Pfeile in der „triple 20“ landeten. Elif tippte die Werte in ihr Handy ein.

Terriers erster Pfeil landete neben der Scheibe. Er spürte Nadines bösen Blick in seinem Rücken. Sie fand es nicht sehr lustig, wenn die Pfeile gegen die Wand flogen. Meist blieben sie da nicht stecken, aber man konnte die Dellen deutlich erkennen. Insbesondere, wenn man nah an der Wand stand. Terrier zog die Luft durch die Zähne, den Nacken ein und hob um Entschuldigung bittend die Hände.

„Was tippe ich da jetzt ein Terrie? 0 oder Plus 100?“, stachelte Elif den Terrier auf.

Der änderte seine Taktik und visierte nicht mehr die „triple 20“, sondern die „triple 3“ an. Seine Würfe waren ja schon im nüchternen Zustand nicht die Geradesten, aber jetzt nach den Bieren merkte er, dass er noch schlechter warf. Und er konnte sich sicher sein, wenn er die „triple 3“ als Ziel auserkoren hatte, so würde er sie nicht treffen. Direkt neben dem Feld mit der 3 sind die Felder 19 und 17. Der Terrier warf zweimal und traf die 17 und die „triple 19“. Damit lag Astra zwar immer noch vorne, doch der Terrier konnte auf Astras große Schwäche hoffen. Sein Kumpel brauchte nämlich elendig lange, um die kleinen Zahlen zu treffen.

Es kam nicht selten vor, dass Astra mit 150 Punkten Vorsprung den Sieg noch verspielte. Er schaffte es nie, die gottverdammte 5 oder 7 oder welche Zahl auch immer zu treffen.

„Es steht jetzt 180 für Astra und 227 für Terrie. Soll ich das immer ansagen?“ fragte Elif die Jungs.

„Ne, von mir aus nicht“, meinte Astra.

„Also ich wäre schon ganz froh, wenn du das ansagst.“

„Na okay, wenn du das willst, mach ich das natürlich.“

In der nächsten Runde hatte Astra eher Pech, er traf beim ersten Pfeil zwar die 20, dafür danach nur zweimal die 5. Der Terrier rückte mit einer 17, einer 19 und einer „double 19“ näher heran. Beim letzten Pfeil hatte er eigentlich auf die 20 gezielt. Aber da er es niemanden verriet, konnte keiner wissen, wie sehr er den Wurf verrissen hatte. Schiefe Sachen konnten auch ansehnlich sein.

Astra und Terrier schauten ihre Wettkampfaufsicht an. Elif hielt sich eine Hand seitlich vor den Mund und flüsterte laut zum Terrier: „150 zu 153.“

„Danke, aber wir verraten es nicht Astra“, flüsterte der laut zurück.

Astra stellte sich derweil wieder auf die rote Linie, den Arm wieder hinter dem Rücken. Diesmal merkte man, dass er sehr konzentriert war. Als Bestätigung dieser Beobachtung, flogen die ersten beiden Pfeile in die „triple 20“.

„Wenn du ausgerechnet jetzt eine 180 wirfst, lache ich mich tot“, sagte der Terrier.

„Wieso? Ich dachte, ihr wollt immer eine 180 werfen. Ist das nicht das Beste?“, fragte Elif.

Elif fragte immer nach, wenn sie etwas nicht wusste. Es wirkte dabei stets so, als würde sie sich für ihre Mitmenschen und das, was sie sagten, interessieren. „Wer fragt wirkt dumm!“ hielt sie schon als kleines Kind für eine rüsselrasseldämmliche Aussage. Schließlich wissen die, die es wissen, es auch erst seitdem, sie es nicht mehr nicht wissen. Die meisten waren am Anfang leer.

Terrier, der Elif nun mittlerweile recht gut kannte, schätze diese Eigenschaft an ihr sehr. Er selber hielt sich mit Fragen aller Art meist zurück. Aber auch ihm war aufgefallen, dass diejenigen, die beim Stellen einer dummen Frage lachten, beim Beantworten häufig ziemlich struggelten.

„Wenn Astra jetzt 180 wirft, ist er über 150. Und man darf nicht rüber gehen, dann zählt das quasi nicht.“

„Achso“, Elif wartete kurz, „dann drück ich die Daumen, dass du eine 1 wirfst.“

„Den Gefallen kann ich dir nicht tun“, sagte Astra und warf den Pfeil in die 20.

Nun stand Terrier etwas unter Druck. Da er damit nicht gut umgehen konnte, landeten die ersten beiden Pfeile jeweils in der einfachen 3. Der Terrier ärgerte sich und musste dann lachen. Er zielte auf die 3 und ärgerte sich dann, dass er traf. Wie dämlich, sagte er sich. Der dritte Pfeil landete in der 17.

„Wie steht es?“

Lion war vom Rauchen wiedergekommen und hatte zwei junge Frauen mitgebracht.

Elif fand es merkwürdig, dass Lion seine Begleiterinnen nicht vorstellte. So kannte sie ihn gar nicht. Das linke Mädchen sagte dann einfach von sich aus: „Hey, ich bin Nele und das ist Cassandra. Wir sind in einem Kurs mit Lion.“

„Ah stimmt, dich habe ich beim Tag der offenen Tür gesehen“, erinnerte sich Astra.

„Ja, genau“, lächelte Nele.

Man merkte, dass sie die Extrovertierte war und die introvertierte Cassandra adoptiert hatte.

Die Studierenden gaben sich die Hand, Elif und Terrier stellten sich auch vor. Dann zeigte Elif Lion ihren Bildschirm. Die Digitalzahlen zeigten 10:130 an.

„Oh, dann ist das ja gleich vorbei, wir holen uns noch etwas zu trinken. Wollt ihr auch gleich was?“, fragte Lion.

„Ja ich hätte gern noch ein Pils.“

„Ich bitte auch.“

Astra, der gerade wieder zu der Linie trat, musste seinem Freund natürlich nichts sagen, da die beiden sich auch ohne Worte verstanden.

„Wir setzen uns dann auf die Bank, da können wir uns besser unterhalten und passen alle hin“, sagte Lion, während er zu Nadine ging.

Astra zielte auf die 10, wollte das Spiel entscheiden, wollte die Wette gewinnen, wollte „metallic weinrot“ zu Terriers Lieblingsfarbe machen. Doch leider traf er die 15. Damit war er drüber.

Mit Schrecken musste er mit ansehen, wie Terriers Pfeile in die „triple 19“, „triple 17“ und in die 3 flogen.

„10 zu 19. Ouh, das wird spannend“, sagte Elif mit übertriebener Stimme, aus der man allerdings heraushören konnte, dass sie tatsächlich mitfieberte.

Astra warf den ersten Pfeil in die 6. Da er ahnte, die 4 nicht treffen zu würden, zielte er auf die 3, in der der Pfeil dann auch tatsächlich landete. Einen Pfeil hatte er noch in die Hand, den warf er und traf die 1. Dann drehte er sich dreckig grinsend zum Terrier um und sagte: „So if my math is correct, that´s my win and my math is correct.“

Astra rechnete damit, einen griesgrämigen Terrier zu sehen, doch der sprang mit ausgestrecktem Arm und Zeigefinger über die rote Linie, wie Astra über die Holzbänke und zeigte auf den dritten Pfeil.

„Das ist keine 1. Der liegt im Doppel. Das ist ne 2. Astra Dicker du bist drüber. Lappen.“

„Quatsch!“

Astra ging vor zur Scheibe, selbst Elif stand vom Billardtisch auf und Lion schaute vom Tresen aus rüber. In der Tat steckte der Pfeil im grünen Feld der 1.

„Pass auf Tiger, ich mache jetzt fertig!“, sagte Terrier, während er sich eine Hand vor die Augen hielt und die 19 traf.

„Ah, fuck you.“ Astra dampfte ab.

„Mensch du wirst ja ganz rot“, sagte Terrier.

Er und Elif lachten. Lion, Nele und Cassandra hatten sich bereits an einen Tisch gesetzt. Astra setzte sich neben Lion und so saßen sich Elif und der Terrier endlich gegenüber.

Nachdem Astra den beiden Kommilitoninnen von Lion seine Lieblingsfarbe verraten musste, sprachen alle durcheinander, über weitere Beispiele, bei denen eigentlich nur eine Antwort richtig sein konnte. Nele und Cassandra wurden schnell in die Gruppe integriert, was vor allem an Neles offener Art lag. Die Gespräche flogen von einem Thema zum nächsten. Manchmal redeten Nele, Lion und Astra über etwas und Cassandra, Elif und der Terrier über etwas ganz anderes. Sehr lange hielten sie sich nie bei einem Thema auf. Jedenfalls nicht, bis sie zu der Schulzeit kamen. Jeder hatte Anekdoten und lustige Geschichten zu berichten. Cassandra erinnerte sich daran, wie sie einmal im Sportunterricht ihren Lehrer zur Weißglut gebracht hatten.

Die Klassen ihrer Schule wurden in zwei verschiedenen Sporthallen unterrichtet. Die größere von beiden stand in der Stadt und wurde mit mehreren Schulen geteilt. Dann gab es noch eine kleinere Halle, die auf dem Schulhof stand. Aufgrund ihrer Form wurde sie die „Coladose“ genannt. Cassandra erzählte, dass sie vor der Sportstunde noch eine große Pause gehabt hatten. Ihre Ranzen und Sporttaschen durften sie schon in die Umkleide stellen. Sie wusste, dass die Jungs- und Mädchenumkleide gleich aussahen. Eine lange Gerade, im rechten Winkel dazu eine kurze Gerade, der Eingang zur Dusche und auf der anderen Seite das Gleiche mit dem Eingang zur Sporthalle, in der die Luft stand, der Boden mit farbigen Markierungen und schwarzen Strichen von Nichtturnschuhen übersät war und die Sonne durch schmierige Fenster schien.

Ihre Hofpause durften sie nicht in der Umkleide verbringen. Sie mussten hinaus und trafen dabei auf ihren Sportlehrer, der zur Mensa ging und ihnen verriet, dass sie jetzt mit dem Dauerlaufen anfangen würden. Darauf hatte niemand Lust, in den Wochen zuvor hatten sie Unihockey gespielt. Die Jungs in ihrer Klasse kamen auf die Idee das Feld einfach aufzubauen. Sie öffneten das, in der Wand eingelassene, Tor in der gegenüberliegenden Seite der Turnhalle. Die Sportgeräte kamen zum Vorschein. Auf einem weißen Mattenwagen, dessen vorderes rechte Rad leierte, lagen blaue und graue Matten. Jeweils zwei Schüler, Cassandra packte auch mit an, nahmen die Matten an den kurzen Seiten und gingen damit in die zwei Ecken der einen Hallenhälfte. Die Ecken wurden ausgepolstert, damit sich niemand dort verletzen konnte. Derweil hoben andere Schüler die Holzbänke hoch. Sie legten sie auf die Seite und trennten damit zum einem das Spielfeld ab, indem sie die Turnhalle halbierten und zum anderen schufen sie eine Bande, an der der weiße Ball abprallen konnte.

Zum Schluss wurden die Tore herausgeholt und aufgestellt. Als sie fertig wurden, läutete bereits die Schulglocke das Ende der Pause ein. Jetzt durften sie sich offiziell in der Sporthalle aufhalten. Sie waren sogar dazu angehalten, sich zügig umzuziehen. Das taten sie auch. Mit einem breiten Grinsen schauten gerade die Jungs hin und her. Von den Mädchen, sagte Cassandra, hatten nicht viele von der Aktion etwas mitbekommen. Daher konnten sie kein schlechtes Gewissen haben. Diejenigen, die mitgeholfen haben, hatten ziemlich Muffensausen. Ihr Sportlehrer, der die Jungen und Mädchen gemeinsam unterrichtete, kam von seiner Mittagspause wieder und lief bis unter den Scheitel metallic weinrot an. Er war stinksauer. Brüllte herum. Sofort sollte das Hockeyfeld wieder abgebaut werden. Er stampfte in den noch offenen Geräteraum und zog einen Stapel Pylonen aus einem Schrank. Die Kegel donnerte er einem Schüler vor die Füße. Spuckend wies er den Unglücksraben an, die Strecke auf dem Schulhof abzustecken.

So sauer hatte Cassandra ihren Sportlehrer erst zweimal gesehen. Das erste Mal war, als einer ihrer Klassenkameraden ein A4-Bild von Adolf Hitler, welches er für einen Geschichtsvortrag ausgedruckt hatte, unter der Tür der Lehrerumkleide geschoben hatte. Das zweite Mal war, als ein anderer Schüler nach einem verlorenen Volleyballspiel angefressen in die Kabine gestampft kam. Sein Platz, an dem sein Ranzen und die Sporttasche standen, die Jacke war aufgehangen, war auf der gegenüberliegenden Geraden. Mit dem rechten Fuß zog er sich im Gehen den linken Schuh aus und wollte ihn zu seinen Sachen kicken. Der Schuh fand auch sein Ziel. Zumindest zwischenzeitlich. Knöchelhoch flog er durch den Raum und prallte gegen die Rückenseite des nach vorn gekipptem Ranzen. Von dort flog der Schuh senkrecht zur Decke. Hinein in eine Deckenplatte.

Erst kam der Schuh wieder hinunter. Dann rieselte es. Die Schüler schauten auf das Loch Größe 43. Dann kam die Deckenplatte, die gegen den Jackenhaken krachte und sich zusammenfaltete, wie der Sportlehrer den Schuhkickenden.

Cassandra erinnerte sich sogar daran, dass der Schüler einen Tadel bekam und einen Aufsatz über Aggressionsbewältigung schreiben musste. Und das alles nur, wegen eines blöden Zufalls. Ein Gehirnfurz von Fortuna hatte dafür gesorgt, dass der Schuh dort oben landete. Wäre ein einziges Schulbuch mehr im Ranzen gewesen, dann wäre der Schuh einfach nur gegen den Jackenhaken geflogen. Ein Schüler hätte vom Aufschnüren seines eigenen Sportschuhes aufgeschaut, mit dem Kopf geschüttelt und die Sache wäre gegessen gewesen. Aber so gab es einen Haufen Ärger und einen spuckenden Sportlehrer.

Weiter als bis da, wurde der Lehrer nie gereizt. Doch an diesen Tag, an dem Cassandras Klasse draußen laufen sollte, war etwas anders. Und sie wusste damals nicht und weiß es auch heute nicht, welcher Teufel sie alle geritten hatte. Jedenfalls wurde die Strecke auf den Schulhof zwar ordentlich abgesteckt und alle Schüler gingen nach Draußen, allerdings machten sie sich nicht ans Aufwärmen, sondern versteckten sich vor ihrem Lehrer. Manche in den verwinkelten Eingängen, andere hinter der Turnhalle, hinter Bäumen und dem parkenden Lieferwagen des Cateringunternehmens, welcher das Schulessen in orangenen Boxen lieferte. Doch die meisten versteckten sich hinter einem riesigen Müllcontainer, der für den Bauschutt, des auf der anderen Zaunseite liegenden Kindergartens, herangeschafft worden war.

Mittlerweile kochte der Lehrer doppelt und dreifach. Er ging zu dem Container und schrie die Gruppe Schüler an. Drohte damit, dass alle eine sechs bekommen würden. Aber alle wussten, dass nie im Leben die ganze Klasse eine sechs bekommen würde und einzelne Schuldige konnte man nicht ausmachen. Es entwickelte sich eine Pattsituation. Es gab kein Vor und kein Zurück. Was so eine Pattsituation nun einmal ausmachte.

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