Buch lesen: «Judentum», Seite 4

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Da die Torah alle Lebensbereiche abdeckt, also auch die richtige politische und soziale Ordnung beinhaltet, ist grundsätzlich ein theokratisches Herrschaftskonzept vorgegeben und säkulare Staatskonzepte für einen Judenstaat stoßen auf traditionalistischer Seite auf tief verwurzelte Vorbehalte,58 andrerseits können sich moderne jüdische Richtungen und säkulare Juden mit der Torah-Theokratie der Tradition nicht mehr identifizieren.

Im Blick auf nichtjüdische Staaten hingegen verlangt das oben erwähnte Konzept der Noachidischen Gebote eher ein religiös neutrales Staatswesen bzw. eine staatliche Ordnung, die der jüdischen Torahpraxis möglichst keine Schranken setzt.

Der Zug durch die Wüste hin an die Grenzen des verheißenen Landes hat für jüdisches Geschichtsbewusstsein den Charakter einer Periode der Erprobung und Läuterung, als Vorbereitung auf die Erfüllung der Verheißungen erhalten. Auch die Heimkehr aus dem babylonischen Exil 538 v.Chr. und die Übergangszeit zum endgeschichtlichen Heilszustand, der messianischen Herrschaft bzw. Gottesherrschaft, wurden darum später als Wüstenzug umschrieben.

7. Die Landnahme und das Land Israel

Die Landverheißungen setzen voraus, dass Gott über das Land verfügt und er es Israel zur Verfügung stellt. Die dort ansässigen sieben Völker hatten daher die Wahl, sich zu unterwerfen und das Land für die Israeliten freiwillig zu räumen, oder dem Bann zu verfallen, der kriegerischen Unterwerfung mit Ausrottung aller männlichen Bewohner.

Dem verheißenen Land kommt nach jüdischer Tradition eine einzigartige Qualität zu, denn es ist als Land Israel der Bereich, in dem die Torah in allen ihren Detailbestimmungen praktiziert werden und damit die Gottesherrschaft durchgesetzt werden kann, und auch Prophetie ist nur in diesem Lande möglich.59 Die Grenzen des Landes Israel markieren also einen heiligen Bereich, in dem kein Fremdkult geduldet werden darf. Es ist folgerichtig ein Gebot, Fremdkultstätten im Land Israel zu zerstören, und Götzendiener darin nicht zu dulden. Wer sich als Fremder im Land Israel vorübergehend (als ger tôšab, Beisasse) aufhalten möchte, muss daher seine angestammte Religionsausübung aufgeben und die noachidischen Gebote einhalten (s. Reader, Nr. 4 und 11). Eine klare und einheitliche Definition der Grenzen des Landes gibt es im jüdischen Recht allerdings nicht, so dass die Vorstellungen über sein Ausmaß noch heute differieren. Die Landnahme wird im Buch Josua der Bibel als planvolle, gesamtisraelitische Eroberung des Landes Kanaan dargestellt. Und nach jüdischem Recht gilt zudem: Was immer durch einen autorisierten Wahlkrieg bzw. Angriffskrieg hinzu erobert wird, gilt genau so als Land Israel wie das einst unter Josua eingenommene.

Die jüdische Rechtstradition hat mit der Landnahme drei Vorschriften verbunden: »Drei Gebote sind Israel zur Zeit des Eintritts ins Land befohlen worden: (1) Sich einen König zu ernennen, denn es heißt (Dt 17,15): sollst du über dich setzen einen König (vgl. Mose b. Maimon, Sefär ha-Miçwôt, Gebot 173). (2) Die Nachkommenschaft Amaleks auszurotten, denn es heißt (Dt 25,19): Du sollst austilgen das Andenken Amaleks (a.a.O. Gebot 188); (3) Das Haus der Erwählung (den Tempel) zu bauen, denn es heißt (EX 24,8): Und sie sollen mir ein Heiligtum machen (MT, Hilkôt melakîm I, 1).«

8. Von der Landnahme bis zur Zerstörung des Ersten Tempels

8.1 Die Richterzeit

Die Bücher Josua, Richter, 1–2 Samuel und 1–2 Könige, die »Frühen Propheten«, werden in der atl. Wissenschaft als deuteronomistisches Geschichtswerk bezeichnet. Kennzeichnend ist eine schematisierte Geschichtsauffassung, auf Grund deren Personen und Ereignisse danach positiv oder negativ bewertet werden, ob sie den Forderungen der Torah entsprechen oder nicht. Israels Geschick hängt also von seiner Torahpraxis ab, und weil Israel als einziges Volk auf die Torah verpflichtet ist, kommt ihm eine Art Stellvertreterrolle zu: für den Lauf der Heilsgeschichte ist allein Israels Verhalten relevant, die Völker ringsum sind nur soweit von Bedeutung, als sie Israel behindern oder gewähren lassen und eventuell sogar fördern. Diese Überzeugung kennzeichnet das jüdische Geschichtsbewusstsein insgesamt.

Die Periode der Richter hat vergleichsweise wenig Eindruck hinterlassen. Es gilt vielmehr, dass die nach dem Tod Josuas amtierenden »Ältesten« ihren Aufgaben nur unzureichend gerecht geworden sind. Gott musste Israel daher von Zeit zu Zeit durch eine charismatische Retterfigur vor dem Schlimmsten bewahren. Der Höhepunkt der Fehlentwicklung wurde unter dem Priester Eli am Heiligtum der Bundeslade zu Schilo erreicht, doch mit der Berufung des Samuel und danach mit der Herrschaft Davids und Salomos setzt wieder eine positivere Entwicklung ein. Das Feindbild, das die Schilderung dieser Periode bestimmt, stellen die (unbeschnittenen!) Philister dar, die aus dem Heiligtum von Schilo die Bundeslade als Beute mit sich genommen hatten und Israel lange Zeit zu unterwerfen suchten.

8.2 Saul und David: Der ungehorsame und der gehorsame Gesalbte des HERRN

Im jüdischen Recht wird für den Fall der Verfügung über das Land Israel die Einsetzung eines Königs (einer eigenen Regierung) zwar als Gebot verzeichnet, aber nicht ohne Vorbehalte. Gemeint ist nämlich eine Herrschaft nach Gottes Willen, also eine theokratisch legitimierte, in alter Zeit durch die priesterliche Institution, später durch den rabbinischen Großen Sanhedrin, unter der Ägide der Torah-Autorität.60 Der König untersteht nämlich der Torah und seine Befugnisse werden im Vergleich zur Umwelt und als Reaktion auf eigene Erfahrungen erheblich eingeschränkt. Seine Befugnisse reichen indes immer noch derart weit, dass die Monarchie ausdrücklich negativ gewertet wird. Schon in 2 Sam 8–10 wird nachdrücklich auf die Schattenseiten der monarchischen Staatsordnung verwiesen, sie wird sogar als Missachtung des alleinigen Herrschaftsanspruchs Gottes über Israel bezeichnet. Gegen 100 n.Chr. vertrat der jüdische Historiker Flavius Josephus die Meinung, dass diese Herrschaftsform für Israel unangemessen sei, da die Torah (und deren priesterlich kontrollierte Anwendung) völlig genüge, um Israel zu regieren. Und am Ende des Mittelalters hat der Exeget Isaak Abrabanel ausdrücklich festgestellt, dass Dt 17,14–20 eine Kannbestimmung enthält: falls Israel sich entschließt, einen König einzusetzen, dann muss nach dem Königsrecht der Torah verfahren werden. Hat man aber einmal einen König eingesetzt, ist man vertraglich gebunden, wie gut oder schlecht der Monarch dann auch regieren mag.

Von da aus beurteilt, konnte die Richterzeit als Periode einer unmittelbareren Herrschaft Gottes über Israel gelten und auch glorifiziert werden; so in der Moderne durch Martin Buber, der dafür den Begriff Theopolitik geprägt hat, bei ihm allerdings abgelöst von der traditionellen Torahtheologie. Das politische Denken des Judentums ist jedenfalls bis heute von der Voraussetzung bestimmt worden, dass die Torah im Grunde auch die gottgewollte politisch-soziale Ordnung Israels darstellt.61

Die monarchische Herrschaftsform hat nach dem 1. Samuelbuch in Israel als Mittel der Selbstbehauptung angesichts kriegerischer Bedrohung Eingang gefunden. Der vorprogrammierte Konflikt mit dem Alleinherrschaftsanspruch Gottes scheint aufgelöst, wenn das Gottesvolk (und damit ein jüdischer Staat) sich als Werkzeug Gottes zur Durchsetzung der Gottesherrschaft versteht und damit eine messianische Funktion zu erfüllen glaubt. Die messianische Erwartung bzw. eine (pseudo-) messianische Bewegung erweist sich sowohl politisch wie religiös als Versuchung, die eigene aktuelle Situation als eine endzeitliche zu verabsolutieren.

Nachhaltig hat auf das spätere Geschichtsbild die Schwarz-Weiß-Malerei der Bücher Samuel eingewirkt. Saul versagte als »Gesalbter des JHWH«,62 als theokratisch legitimierter Herrscher, der die »Kriege des JHWH« zu führen hat, weil er das Gebot der Ausrottung Amaleks nicht befolgte (1 Sam 15/1 Chr 10). Er wurde als Typus des ungehorsamen Gesalbten stilisiert.63 David hingegen wird ungeachtet manch dunkler Seiten seiner Geschichte zum Typus des torahgehorsamen Gesalbten. Durch seine Kriege sicherte er den Besitz des Landes und weitete dessen Grenzen aus, und sein Torahgehorsam gewährleistete nach 2 Sam 7 auch die dynastische Erbfolge. Für die Geschichte der jüdischen Religion war seine in Personalunion und im Namen des JHWH-Kultes ausgeübte Herrschaft über die beiden vereinten Königreiche Judah und Israel von grundlegender Bedeutung. Sie begründete verklärt das Bewusstsein einer Einheit namens Israel, für die später Jerusalem/Zion zum Symbol wurde, und gab dem Begriff Gott Israels einen dementsprechenden Inhalt. So wurde auch der Davidssohn zum Idealherrscher der Heilszukunft, zum »Gesalbten (König)« schlechthin, zum Repräsentanten der Gottesherrschaft,64 die man allen Enttäuschungen zum Trotz immer wieder erhofft.65 Der erwartete »Gesalbte« soll Israel von aller Fremdherrschaft befreien und Verhältnisse schaffen, die eine ungehinderte Torahpraxis ermöglichen. Aber er ist kein Erlöser im Sinne der christlichen Messiasauffassung bzw. Christologie (s. Reader, Nr. 12.2).

David gilt auch ferner als geistbegabter Autor liturgischer Dichtungen (s. Reader, Nr. 13) und als Organisator des Jerusalemer Kultbetriebes. Denn nachdem er die Bundeslade nach Jerusalem überführt hatte (2 Sam 6/1 Chr 15,1–16,6) soll er alles Nötige für den Tempelbau und den Kultbetrieb vorbereitet haben, alles gemäß der Torah und nach einem himmlischen Modell (2 Sam 24/1 Chr 21; 1 Chr 22–26; 28,11–21).

8.3 König Salomo und der Erste Tempel

Mit König Salomo haben sich drei Vorstellungskomplexe verbunden. Er gilt als friedliebender und weiser König, und daher werden die alten jüdischen Weisheitstraditionen auf ihn zurückgeführt. Zu seinen Kenntnissen gehörte angeblich auch die Magie, und mit ihrer Hilfe soll er in der Lage gewesen sein, Dämonen dienstbar zu machen.66 Am meisten Nachruhm brachte ihm aber der Tempel- und Palastbau in Jerusalem ein.67 Im Alten Orient galt jedes große Heiligtum als Repräsentation des Kosmos und als Nabel der Welt, als mythischer Ort, wo Himmlisches und Irdisches ineinander greifen. Der regelmäßige Kult hat die Aufgabe, die Ordnung des Kosmos aufrecht zu erhalten, und die Opfer sorgen für die Entsühnung des Kultpersonals, des Königs, des Volkes und des Landes. Auch die Feier der großen, jahreszeitlich gebundenen agrarischen Feste war an den Tempel gebunden, doch erhielten diese auch noch eine heilsgeschichtliche Bedeutung im Sinne der Vergegenwärtigung der großen Heilstaten Gottes an Israel.

8.4 Die Könige von Juda und Israel

Unter Salomos Sohn und Nachfolger Rehabeam trennten sich die Nordstämme von der davidischen Dynastie und gründeten unter Jerobeam I. das Königreich Israel. Vom Jerusalemer Hof aus beurteilt, war dies mehr als nur politische Abtrünnigkeit. Nach der Reichsteilung kam es nämlich zur Einrichtung eigener Staatsheiligtümer, Dan im Norden und Bethel im Süden, und diese Sünde Jerobeams ist sprichwörtlich geworden und hat wohl auch die Ausformung der Geschichte vom Kult des goldenen Kalbes am Sinai (Ex 32) inspiriert. Die Jerusalemer Tradition sah in der Eroberung und Annexion des Nordreichs durch die Assyrer im Jahr 722 v.Chr. folgerichtig die Strafe für den Abfall. Sie behauptet, dass fast alle Nordisraeliten nach Mesopotamien deportiert und dort verschollen sind und spricht daher von den zehn verlorenen Stämmen, deren Wiederauftauchen man zu Beginn der messianischen Herrschaft erhofft.68

Die Könige, auch die eigenen Könige aus Davids Geschlecht, beurteilte die Jerusalemer Tradition nach deren Verhalten im Sinne der Torahnormen.69 Und da 701 v.Chr. die Assyrer nach einer längeren Belagerung Jerusalems unter Sanherib unversehens abzogen, wurde diese Rettung zu einem heilsgeschichtlichen Exempel und eine Bestätigung des Jerusalemer Anspruchs, ganz Israel zu repräsentieren und den einzig gültigen Kult Israels, den JHWH-Kult, zu praktizieren. In der Tat sind in der letzten Phase der Königszeit die regionalen und lokalen Heiligtümer aufgelöst und der Kult in Jerusalem zentralisiert und »levitisiert« worden.

Im Jahr 587/6 v.Chr. eroberte der babylonische König Nebukadnezar das rebellische Königreich Juda, verwandelte es in eine babylonische Provinz und zerstörte den Tempel von Jerusalem. Diese Negativerfahrung stellte den Glauben an die Macht des Gottes Israels in Frage. Von nun an war das Problem der übermächtigen Weltmacht ein zentrales Thema der jüdischen Religion und man wünschte sich natürlich, dass der jeweilige fremde Herrscher zur Anerkennung des Gottes Israels als des einzigen wahren Gottes gelangt, was in allerlei Legenden auch so dargestellt wird.70

Das Ende der staatlichen Selbstständigkeit und der davidischen Herrschaft wurde als tiefer Einschnitt in den Lauf der Geschichte Israels erfahren, aber als noch folgenreicher empfand man die Zerstörung des Tempels. Sie musste angesichts seiner kosmologischen Symbolik als Katastrophe empfunden werden, und darum hat man sie chronographisch auch als Periodengrenze angesetzt.71 Der Grundüberzeugung nach hoben die Zerstörung der Anlage und die Unterbrechung des Kultes den mythischen Charakter des gotterwählten Kultortes jedoch nicht auf. Die Stadt des Heiligtums, Jerusalem bzw. Zion, hat daher ihre Bedeutung als zentraler Bezugspunkt jüdischen Selbstbewusstseins allen Realitäten zum Trotz behalten (s. Reader, Nr. 11bc).72 Die gefallene Stadt wurde zum Gegenstand liturgischer Klagetraditionen, und der Zerstörung des ersten – und zweiten – Tempels wird im Jahreszyklus bis heute mit einem Fasttag am 9. Ab gedacht.

9. Das babylonische Exil und die Heimkehr

Nebukadnezar veranlasste die Deportation der Oberschicht und der städtischen Eliten nach Mesopotamien. Man sprach rückblickend von einer Exilierung aller Judäer, ja des Volkes Israel überhaupt, und maß dem Ereignis paradigmatische heilsgeschichtliche Bedeutung zu. Auf Grund der herrschenden Geschichtsauffassung sollte auf diese bislang größte Katastrophe eine Heilswende folgen. Gerade seit damals verkündete man darum den Gott Israels auch als den einzigen Gott und Schöpfer schlechthin.

Eine Jobelperiode (49 Jahre) dauerte es, bis der Perserkönig Kyros (538 v.Chr.) die Heimkehr der Exilierten und den Wiederaufbau des Tempels zu Jerusalem gestattete, und 70 Jahre zählte man von der Tempelzerstörung bis zur Weihe des Zweiten Tempels (517/6 v.Chr.), symbolträchtige Zahlen, die zu spekulativen Berechnungen anregten, insbesondere zur Rechnung mit Geschichtsperioden zu 490 Jahren. Das Ende des Exils wurde als Heimkehr des ganzen Volkes dargestellt, als eine Art zweiter Exodus, und als Beginn einer neuen Ära, vor allem aber als Triumph der Macht des Gottes Israels (Jes 40 ff).

10. Die Zeit des Zweiten Tempels

10.1 Babylonier, Perser und Griechen

Die Restauration des Tempelkults unter der toleranten persischen Herrschaft hatte eine derart massive Privilegierung des Kultpersonals und eine dementsprechende Ausweitung des Kultbetriebs zur Folge, dass diese neue Situation auch in die Vergangenheit zurückprojiziert und auf diese Weise gerechtfertigt wurde. Sie erschien nun teils im Rahmen der Kultstiftung am Sinai, teils als Verfügung des Königs Davids auf Basis der Torah. Ansonsten hatten Daten der persischen Periode außer dem Kyros-Edikt von 538 v.Chr. und der Tempelweihe von 517/16 wenig heilsgeschichtstheologische Nachwirkungen. Im Nachhinein, nach negativen Erfahrungen unter hellenistischer Herrschaft, wurde aber auch das persische Weltreich mit einem großen Makel behaftet. Die Esther-Erzählung setzt eine Bedrohung der Existenz Israels in Persien voraus, verursacht durch den bösen Haman, einen Agag-Nachkommen, also einen Amalekiter. Und die Rettung erfolgt durch Mordekaj und die jüdische Königin Esther, gefolgt von der Vernichtung der Feinde. Man gedenkt dieser sagenhaften ersten großen Judenverfolgung und Rettung am Purimfest. Ansonsten wird in der jüdischen Überlieferung das Perserreich durchaus positiv bewertet, die Perser gelten wie die Griechen als Nachkommen des Noah-Sohnes Jafet.

Die jüdische Tradition schreibt eine Reihe von Reformen und Verordnungen einer »Großen Versammlung« (Ha-kenäsät ha-gedôlah) zur Zeit des Esra und Nehemia zu und sieht darin die Basis für das Judentum im rabbinischen Sinne. Esra wurde dabei gar zu einem zweiten Mose stilisiert.

10.2 Unter Jawan – Griechenland. Die Religionsverfolgung unter Antiochus IV. und die Rettung durch die Makkabäer

Der Name des Jafet-Sohnes Jawan bezeichnet auch die hellenistische Herrschaft nach Alexander dem Großen. Alexander hatte nach 333 v.Chr. mit dem Vorderen Orient auch Juda/Judäa seinem Reich einverleibt und dabei die Privilegien des Tempelstaates unangetastet gelassen. Sein Ruf als Weltherrscher blieb daher unter Juden ein durchwegs positiver, der Name Alexander wurde gern verwendet und Fassungen des in Antike und Mittelalter weit verbreiteten Alexanderromans wurden im Mittelalter hebraisiert und judaisiert.73

Unter der Herrschaft der Ptolemäer in Ägypten und der Seleukiden in Kleinasien/Syrien wurde die Verfügung über das Land Israel Anlass zu fünf Kriegen und die negativen Erfahrungen aus dieser Zeit haben das Bild von Jawan sehr getrübt. Als düsterstes Kapitel zeichnet die Tradition die Herrschaft des Seleukidenkönigs Antiochus IV. Epiphanes.74 Dieser hat demnach in Jerusalem/Judäa eine hellenisierende Richtung unterstützt, deren Ziel die Abschaffung der Torah und der spezifisch jüdischen Lebensweise war. Der König soll zur Durchsetzung dieser Ziele eine Religionsverfolgung und Zwangshellenisierung verfügt haben, Ansatz zu einer nachhaltigen martyrologischen Tradition.75 Dem Aufstand der Makkabäer/Hasmonäer und der Glaubenstreue der Verfolgten wird es zugute gehalten, dass die Religion Israels auf Basis der Torah gerettet und gestärkt aus den kriegerischen und religiösen Auseinandersetzungen hervorgehen konnte.76 Dieses Bild, von der hasmonäischen Geschichtsschreibung dramatisch entworfen und propagiert, hat infolge seiner Übernahme durch Flavius Josephus auch die christliche Sicht der Ereignisse bis heute bestimmt.

10.3 Die vier letzten Weltreiche

In hellenistischer Zeit kam im Orient ein Motiv auf, das zu einem historiographischen Schema von weit reichender Wirkung geworden ist. Man behauptete, dass der Geschichtslauf mit einer Reihe von 3–4 Weltreichen abschließt. Im Buch Daniel zählte man entsprechend der damaligen weltpolitischen Lage vier solche Weltreiche, mit »Jawan« als letztem (s. Reader, Nr. 14), später setzte man Rom an diese Stelle.

10.4 Edom/Esau: Rom als viertes Weltreich Daniels

Rom wurde nach der Einverleibung Judäas ins Römische Reich als eine immer bedrohlichere Macht empfunden, obwohl unter Caesar für die Juden Privilegien festgeschrieben wurden, die eine freie Religionsausübung gewährleisteten. Der zwiespältige Eindruck verfestigte sich unter der Herrschaft des durch Rom eingesetzten Königs Herodes, der aus einer idumäischen Familie stammte. Als Ahnvater Edoms galt von alters her Esau, der Zwillingsbruder Jakobs. Als geläufiges Bild für diesen gefährlichen Nachbarn im Süden diente das »Wildschwein« aus Ps 80,14. Im 1.Jh. n.Chr. war Edom zur Bezeichnung des Römischen Reiches geworden, und nach der Tempelzerstörung im Jahr 70 n.Chr. kam dazu die Parallelisierung mit Babel, der Weltmacht, die den ersten Tempel zerstört hatte, und beide Heiligtümer sollen sogar am selben Jahrestag zerstört worden sein, am 9. Ab, der folglich als jährlicher Fast- und Bußtag begangen wird. Die martyrologischen Traditionen aus der Makkabäerzeit wurden auf dir römische Herrschaft übertragen und verdichtet, der Gegensatz zwischen Israel und den Weltvölkern erhielt dadurch noch schärfere Konturen und es entstand eine bis in die Gegenwart wirksame literarische Konvention drastischer Verfolgungs- und Bedrohungsszenerien in Darstellungen der jüdischen Geschichte.

Die Edom- und Babel-Symbolik wurde auch in das Vierreiche-Schema eingetragen (s. Reader, Nr. 14) und Edom/Esau, das Wildschwein aus dem Wald von Ps 80,14, galt von nun an als letzte Weltmacht, deren Fall man erhofft, damit der Übergang zur messianischen Herrschaft erfolgen kann. Bis dahin muss sich der kleinere Jakob, der das Erstgeburtsrecht erworben hat und dem daher der Vorrang eigentlich zusteht, mit dem großen, gewalttätigen Zwillingsbruder Esau arrangieren. Wann nach dem göttlichen Heilsplan diese Frist zu Ende geht, war allerdings schwer zu kalkulieren. Im Falle kriegerischer Bedrohungen hoffte man auf den Fall Roms und wagte sogar den militärischen Aufstand. Seit den verlustreichen und vergeblichen Revolten von 66–70 n.Chr. und 135–138 n.Chr. galt Rom als die gottfeindliche, frevelhafte Herrschaft schlechthin.77 Diese Einschätzung ging nahtlos auf das christliche Rom über, das Christentum erschien daher in jüdischen Augen nicht primär als Religion, sondern als feindliche Weltmacht. Der Antagonismus Jakob-Esau beherrscht das traditionelle jüdische Geschichtsdenken bis heute. In geringerem Maß gilt dies auch für den Antagonismus Isaak-Ismael (der islamischen Weltmacht). Und wann immer weltpolitische Veränderungen anstanden, eine der beiden Mächte zu fallen schien, knüpften sich daran auf der jüdischen Seite messianische Hoffnungen.

11. Die messianische Herrschaft

Die endgeschichtliche Verwirklichung der Gottesherrschaft besteht in der Durchsetzung der Torah, insbesondere im Land Israel (s. Reader, Nr. 12.2). Und dies ohne Behinderung durch Weltvölker, die auf ihre angestammte Religion verzichten, den Gott Israels als einzigen Gott und die Torah grundsätzlich als oberste Autorität anerkennen, und die sieben noachidischen Gebote einhalten müssen. Diese theokratische Friedensordnung muss gegebenenfalls mit Gewalt durchgesetzt werden, und das ist die Aufgabe des Gesalbten (des HERRn) aus dem Haus Davids. Nur in diesem politisch-militärischen Sinn kommt dem Gesalbten (Messias) eine Erlöserfunktion zu. Erst in der Neuzeit kam über spätkabbalistische und häretische Tendenzen (Sabbatianismus) eine Erlöserfunktion hinzu, die das Seelenschicksal betrifft und gewisse Entsprechungen zu Christologie aufweist. Unterwerfen sich die Völker freiwillig, erübrigt sich ein endzeitlicher König Israels, denn die Verfassung Israels ist ja die Torah, und tatsächlich taucht die Messiasfigur nicht in allen Darstellungen der Endzeitereignisse auf. Der ideale Davidssohn repräsentiert als Herrscher ja nur auf vorbildliche Weise den Torahgehorsam und damit die theokratische Ordnung. Für das seit der Tempelzerstörung rabbinisch geprägte Judentum galt die eigene Verfassungsvorstellung als Inhalt der Torah, und darum wurden die Institutionen des rabbinischen Establishments, vor allem das Große Sanhedrin, auch bis in die Zeit der Sinaioffenbarung zurückprojiziert. Da aber die Torah bei genauerem Hinsehen keine eindeutige Verfassungsdefinition enthält, blieb die konkrete Gestalt der messianischen Herrschaft durchwegs vage und variabel definiert. Sie konnte auch nicht zum maßgeblichen Glaubensgegenstand werden, weil die entscheidende Glaubensfrage nie im WIE, sondern immer im WANN bestand. Wird durch die Behauptung, die Zeit sei gekommen, also durch das Einsetzen einer messianischen Bewegung, die Terminfrage aktuell, steht jeder vor der Entscheidung, ob er diese Einschätzung der Gegenwart teilt oder ablehnt. Das Zusammenspiel zwischen konkreter Politik und utopischen Gesichtspunkten verlieh den messianischen Bewegungen eine eigentümliche Dynamik, denn man kämpfte im Bewusstsein, dass es um die letzte Chance Israels in der Geschichte geht. Die Folge war ein Trend zu Intoleranz, sowohl gegenüber abweichenden Einschätzungen der geschichtlichen Lage, als auch in der Frage der »richtigen« Torahpraxis.

Die messianische Zeit wird in antiken Quellen teils als ideale, aber doch geschichtlich-irdische Endperiode beschrieben, teils auf üppige Weise ins Übernatürliche verklärt, weil eine klare begriffliche Unterscheidung zwischen Diesseits und Transzendenz noch nicht üblich war. Die Übergangsphase wird oft als harte Krisen- und Verfolgungsperiode dargestellt, als Zeit der »Wehen des Gesalbten«. Anfangserfolge bestärkten solche Annahmen, aber die Realität wird alsbald an der Utopie gemessen, und entspricht sie der Utopie nicht, spricht man von einer pseudo-messianische Bewegung. Die systemgerechte Konsequenz lautet dann: die Generation war noch nicht würdig, es bedarf einer intensiveren Torahfrömmigkeit, um zum Ziel der Heilsgeschichte zu gelangen. Damit alle Israeliten diese Möglichkeit vollkommener Torahpraxis wahrnehmen und Versäumtes nachholen können, wird die Auferstehung der Toten (Israels) für den Beginn dieser Heilsperiode erwartet. Die Möglichkeit ungehinderter Torahverwirklichung für ganz Israel ist somit der eigentliche Zweck der messianischen Herrschaft, alle anderen Begleiterscheinungen sind demgegenüber zweitrangig (s. Reader, Nr. 12i).

12. Die Kommende Welt – der transzendente Heilszustand

In der Antike und zum Teil auch noch später wurde zwischen der endgeschichtlichen Heilszeit und dem endgültigen Heilszustand nicht oder nicht eindeutig unterschieden. Im Mittelalter wurde die übliche Rede von »messianischer Zeit« und »Kommender Welt« dazu benutzt, um einen vorbereitenden, endgeschichtlich -irdischen, und einen endgültigen transzendenten Heilszustand systematisch zu unterscheiden. Gebildete waren sich darin einig, dass man über die Kommende Welt genau so wenig auszusagen vermag, wie über die jenseitige Gottheit. Neuplatonisch Orientierte, weitaus die Mehrheit, glaubten zudem an eine präexistente, unsterbliche Seele, die nach ihrer Zeit in einem irdischen Leib wieder an ihren überirdischen Ursprung zurückkehrt, sofern sie sich als würdig erweist und nicht erst (durch Seelenwanderung bzw. Wiederinkorporierung) geläutert werden muss. Aristotelisch Orientierte sahen im erworbenen Intellekt ihre Unsterblichkeit verbürgt. Beide hielten die Torahpraxis für das beste Mittel zur Erreichung der göttlichen Zweckbestimmung des Menschen. Der Volksglaube malte freilich die messianische Zeit weiterhin in übernatürlichen Farben aus, versah die Kommende Welt phantasievoll mit übertriebenen irdischen Zügen und schwelgte in Beschreibungen eines Paradieses, in dem die Frommen nach dem Tod oder nach dem Endgericht Aufnahme finden.

1 So auch wieder STERN, S., Time and Process in Ancient Judaism, Oxford/Portland, OR 2003.

2 PATAI, R., Ethnohistory and Inner History: The Jewish Case, JQR 67 1976/7, 1–15; KOCHAN, L., The Jew and his History, 1977; YERUSHALMI, Y. H., Zakhor: Jewish History and Jewish Memory, Seattle/London 1982.

3 OHANA, D./WISTRICH, R. S. (Hg.), Mîtûs we-zikkarôn, Tel Aviv 1996/7.

4 KEEL, O./SCHROER, S., Schöpfung. Biblische Theologien im Kontext altorientalischer Religionen, Fribourg/Göttingen 2002; VAN KOOTEN, G.H. (Hg.), The Creation of Heaven and Earth: Re-interpretations of Genesis I in the Context of Judaism, Ancient Philosophy, Christianity, and Modern Physics, Themes in Biblical Narrative 8, Leiden 2005; NEUSNER, J., Judaism’s Story of Creation, Leiden 2000; GATTI, R., bere’shit. Interpretazioni filosofiche della creazione nel Medioevo latino ed ebraico, Genf 2005.

5 LAU, D., Wie sprach Gott: »Es werde Licht«? Antike Vorstellungen von der Gottessprache, Lateres 1, Frankfurt a. M. 2003.

6 SAMUELSON, N.M., Judaism and the Doctrine of Creation, Cambridge 1994. Erst seit der späten Antike wurde ebenso wie im Christentum die Schöpfung aus dem Nichts postuliert; vgl. MAY, G., Schöpfung aus dem Nichts. Die Entstehung der Lehre von der creatio ex nihilo, AKG 48, Berlin 1978. Der hebr. Ausdruck lautet (Schöpfung) ješ me-′ ajin (Bestehendes aus Nichts). Neuplatonisch und kabbalistisch orientierte Denker des Mittelalters verstanden dies als Emanation aus dem Nichts als transzendenter Gottheit.

7 COUDERT, A. P. (Hg.), Die Sprache Adams, Wolfenbütteler Forschungen 84, Wolfenbüttel 1999.

8 HARALICK, R.M., The Inner Meaning of the Hebrew Letters, Northvale, NJ 1995; ISAACS, R.H., The Jewish Book of Numbers, Northvale, NJ 1996.

9 ENDRES, F. C./SCHIMMEL, A., Das Mysterium der Zahl, Köln 1984; GLAZERSON, M., The Geometry of the Hebrew Alphabet, Jerusalem 2004.

10 GRÖZINGER, K.E. (Hg.), Sprache und Identität im Judentum, Wiesbaden 1998.

11 GOTTLIEB, F., The Lamp of God. A Jewish Book of Light, Northvale, NJ 1989.

12 GLAZERSON, M., Torah, Light and Healing, Jerusalem 22004.

13 MAIER, J., Die Qumran-Essener, Bd.3 München 1996, 52–100.

14 BASNITZKI, L., Der jüdische Kalender. Entstehung und Aufbau, Königstein/Ts. 1986.

15 MAHLER, E., Handbuch der jüdischen Chronologie, Leipzig 1916 (Nachdruck Hildesheim 1967); AKAVIA, A.A., Lûa le-šeššet ′alafîm šanah. Calendar for 6000 Years, Jerusalem 1976.

16 NOVAK, D./SAMUELSON, N. (Hg.), Creation and the End of Days: Judaism and Scientific Cosmology, Boston 1986; AVIEZER, N., Am Anfang. Schöpfungsgeschichte und Wissenschaft, Frankfurt a. M. 2000.

17 SEGAL, A. F., Two Powers in Heaven, Leiden 1977.

18 CHIESA, B., Creazione e caduta dell’uomo nell’esegesi giudeo-araba medievale, Brescia 1989; LUTTIKHUIZEN, G. H. (Hg.), The Creation of Man and Woman, Leiden 2000.

19 LUTTIKHUIZEN, G.P. (Hg.), Paradise Interpreted, Leiden 1999.

20 MARTINEK, M., Wie die Schlange zum Teufel wurde, Wiesbaden 1996.

21 VON STUCKRADT, K., Das Ringen um die Astrologie. Jüdische und christliche Beiträge zum antiken Zeitverständnis, RVV 49, Berlin 1999; DERS., Geschichte der Astrologie. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 2003.

22 MAIER, J., Jüdische Kultur, in: GRABNER-HAIDER, A. (Hg.), Ethos der Weltkulturen. Religion und Ethik, Göttingen 2006, 183–248.

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