Die Frau in Rot

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Die Frau in Rot
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Jo Phantasie

Die Frau in Rot

Zehn romantische Liebesgeschichten

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Ein kurzes Vorwort

Die Kirschen in Nachbars Garten

Luna Mond und Stella Stern

Geliebte Schlampe

Bagdad – Berlin

Tango mit Sofa

Das 20-Euro-Paradies der Reza Reznovan

Kuss der Eurydike

Muschi Muschi

Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern

Die Frau in Rot

Über den Autor

Impressum neobooks

Ein kurzes Vorwort
Die Frau in Rot

Zehn romantische Liebesgeschichten

von

Jo Phantasie

Begehren, Eifersucht, Raserei, Abhängigkeit!

Verwirrung, Verirrung, Verliebtheit, Verlust!

Wollust, Trieb, Rausch, Sinnestaumel!

...

...

Worte. Schöne und aufregende Begriffe zwar, aber unser Geist fordert mehr, er verlangt regelrecht danach, alle Zusammenhänge um die gesamte Geschichte erfahren zu können.

Haben Sie schon einmal nach vielen Jahren den Menschen wiedergetroffen, in den Sie unsterblich verliebt waren? Das passiert relativ häufig. Was jedoch selten geschieht, ein Blitz der Erkenntnis durchzuckt Ihren Rückblick auf die letzten Jahre: Sie haben Ihr bisheriges Leben mit dem falschen Partner vergeudet.

Und nun?

Es gibt nur die eine Möglichkeit!

Wieso sitzt im kalten stürmischen November eine hübsche junge Frau in einem roten Minikleid an einer ungemütlichen Straße auf der Bank? Eine Stunde, zwei Stunden, und das jeden Nachmittag? Nein, nicht was Sie denken, denn so etwas erträgt nur eine Frau, die wirklich liebt. Gesund ist das natürlich nicht und du solltest ihr unbedingt helfen!

Hilflose Frau vor der Wohnungstür! Es mag sein, dass manche Männer einseitig gepolt sind und bevorzugt hübschen jungen Frauen aus Notsituationen retten. Doch sehen wir es bitte nicht so verklemmt, auch denen muss geholfen werden.

Natürlich ...!

Ansonsten hörst du den Namen dieses Mädchens in allen Liedern, selbst unter der Dusche. Es gibt kein Entkommen, sie hat bereits deinen Geist eingefangen!

Tanzstunde gefällig? Darf es Tango sein? Es gibt wenige junge Männer, die darauf sofort „hier“ schreien würden. Es sei denn, der Ersatz für die eigene Partnerin kommt aus Argentinien, ist überaus attraktiv, erfahren und sehr sehr emotional. Dann möchte man Tango besonders schnell lernen, um sich nicht zu blamieren, sondern um zu glänzen.

Um ..., na was wohl?

Klischee?

Der junge Mann ahnt noch nicht, wie das Ganze endet!

Insgesamt zehn romantische Liebesgeschichten warten auf Sie.

Lehnen Sie sich im Sessel zurück und lassen Sie sich verzaubern!

Hier einige Kommentare von Lesern und Redakteuren:

... zum Heulen schön!

... werde sie sicher noch mal lesen und noch mal und noch mal ...

... in meinen Augen eine wundervolle, aufmunternde und belebende Geschichte!

Die Kirschen in Nachbars Garten

Mein Gefühl, wenn denn so etwas Wertvolles in mir überlebt haben sollte, es sagt mir jedenfalls, dass sie es sein muss. Ihre halblangen lockigen Haare berühren leicht die Schultern, nicht aufliegend, sondern sanft streichelnd, so wie sie es immer gemocht hatte.

„Das ist toll, wenn es so schön kitzelt!“, hatte sie auf meine Frage geantwortet, weshalb sie manchmal den Kopf ohne erkennbaren Grund hin und her schaukeln würde.

Sie steht am Buffet, sucht wohl mit Bedacht und ohne große Eile etwas aus. Es war die Haarfarbe, die meinen Blick in ihre Richtung gelenkt hat. Erinnerungen an braune Palmen mit einem leichten Stich Kastanie steigen in mir empor. Es ist diese sanfte rötliche Aura, die nicht dominiert, sondern nur gegen einen hellen Hintergrund, den der heutige blaue Himmel bildet, zu erkennen ist.

Das alles erinnert mich an das Bild. Mumbai, damals hieß die Stadt noch Bombay, der misslungene Abzug eines Fotos taucht in meinem Kopf auf.

„Half quality, half price!“, seinem Wortschwall war nicht zu entnehmen, was er damit meinte, aber er schwenkte ein postkartengroßes Foto vor unseren Augen hektisch hin und her. Sheela, seit fast einem Jahr waren wir jetzt zusammen, sie war belustigt und beschimpfte ihn gleichzeitig als Betrüger und Versager. Ich nahm das Foto in die Hand. Unsere schönsten Aufnahmen vom gemeinsamen Ausflug waren anscheinend allesamt ruiniert.

Palmen, die Korallenbäume, das Gras, es war durchgängig braun eingefärbt. Der Himmel, das Meer, sie waren etwas heller als hellbraun und mit einer kastanienfarbenen Aura umgeben. Braun dominierte in allen Details. Aber es gab auch Ausnahmen. Mitten in der Sonnenscheibe hatte ein kleiner roter Fleck überlebt. Eine der Palmen zeigte, dem monochromen Entwicklungsbad trotzend, einige dunkelgrüne Blattreste und bei den Wellen des Indischen Ozeans konnte man bläuliche Ränder ausmachen. Ganz nah musste ich es vor die Augen halten, dann wirkte das Foto wie eine transzendentale Illusion, wie ein Gemälde mit künstlerischer Verfremdung. Zu einem Kunstwerk wurde es jedoch erst, als Sheelas Tränen tatsächlich dazu befähigt waren, zahlreiche rötliche Farbflecken in dieses Meer von Braun hineinzubrennen. Mein Projekt in Indien war beendet. Von Sheela ist mir nichts Weiteres geblieben, als ihre Verschönerung des Bildes zu einer rotbraun verweinten Impression. Das Ende unserer Beziehung hatte ich emotionslos verkündet: „Mein Flieger geht morgen. Ich fliege alleine.“

*

Meine Eltern hatten darauf bestanden, dass ich kommen sollte: „Du wohnst seit einem halben Jahr in München, das ist doch keine Entfernung. Wir reden kein einziges Wort mehr mit dir, wenn du nicht zu unserer goldenen Hochzeit erscheinst!“

Mein innerer Widerstand war grenzenlos. Befürchtungen, Erinnerungen, unendlich große Fehler und dann all diese unverdrängten Erinnerungen. „Sie“ würde auch kommen, und noch einige mehr. Das war genau das Dilemma. Mit Absagen hatte ich nie ein Problem gehabt. Bei meiner Mutter, da schaffte ich das nicht. Sie steht mit einem Glas Sekt in der Hand neben einer jüngeren Frau und versucht durch Winken meine Aufmerksamkeit zu erregen. Ich werde sie nicht beachten, denn ich weiß, wer diese Frau ist: Sandra, frisch geschiedene Tochter einer Freundin meiner Mutter. Natürlich erkenne ich auch, was sie beabsichtigt und sehe einfach nicht hin.

Die Auswahl am Buffet scheint langwierig zu werden, sie steht jedenfalls immer noch an der gleichen Stelle. Ihre Emotionen kann ich natürlich nicht erkennen, aber seit einigen Minuten ist ihr Blick zumindest auf eine bestimmte Attraktion direkt vor ihr gerichtet.

Es ist auch dieses Kleid, das mir die Gewissheit gibt: Blumen, Blümchen, Millefleurs. Der Stoff fließt über ihren Rücken, gleitet perfekt am Gesäß herunter. Diese Blümchen hat sie schon immer geliebt. Sehr genau kann ich mich noch an ihre Lackschuhe mit ähnlichem Muster erinnern: „Sieh mal, ich laufe in Tausendblümchenschuhen!“ Dabei hatte sie immer so hell gelacht, dieses Lachen, das bis heute oft in meinen Träumen auftaucht. Schuhe, jeder Gang in ein Geschäft wird für mich zur Suche nach Erinnerungen. Lackschuhe im Millefleursmuster fand ich nirgends, so sehr ich auch in der ganzen Welt danach gesucht hatte.

Mein Blick ist heute sehr viel ausgeprägter. Die schwachen Einkerbungen an der Hüfte und an den Oberschenkeln verraten es so, als wenn ich durch Millefleurs hindurchschauen könnte. Kein String, kein normaler Slip, sie trägt eine Panty. Sie hat sich für eine Nummer kleiner entschieden, damit sie unter dem Kleid nicht aufträgt. Zu unserer Zeit hätte ich niemals ein Auge für solche Details gehabt. Erst mit Amelie ist mein Bewusstsein dafür erweckt worden.

*

Brazzaville, es war der Start eines Projektes vor mehr als zehn Jahren. Mein Blick wurde von einer Schönheit an der Hotelbar magnetisch angezogen. Sie kam aus Paris und war für die Konkurrenz im Geschäft, bevor wir beschlossen, uns zusammenzutun. Als wir zum Aufzug schritten, blieb meine Hand wie zufällig auf ihrer Hüfte liegen, strich von dort in die Tiefe und fühlte immer noch nichts. Zu dem Zeitpunkt war ich ein Ignorant, was Schmuckstücke unter Kleidern anbelangte. Auf meine ordinäre Frage, was das denn für ein Slip sei, der sich weder abzeichnete, noch ertasten ließe, zeigte sie es mir im Fahrstuhl. Seitdem habe ich gelernt, jede mich interessierende Frau mit diesem Mikrometerblick abzutasten und zu analysieren. Manchmal gelingt es mir sogar, die Farbe zu erkennen. Den Unterschied zu einem „Nichts“, wie Amelie es mir im Lift präsentierte und einer Panty erkenne ich in einer Sekunde.

 

Deutlich länger allerdings, nämlich fast zwei Jahre hat dann die Liaison mit Amelie angedauert. Es war das Projekt mit der bislang höchsten Überschreitung an Zeit und Budget. Zerstörte Infrastruktur durch den Bürgerkrieg, unklare Verhältnisse, wen man wie bestechen musste, ein halbes Jahr ging verloren, bevor ich die alternativen Wege im Griff hatte. Meine Entscheidungen wurden immer erfolgreicher, seitdem ich die Blicke dieser Männer, mit denen sie Amelie auszogen, analysieren konnte. Es gab drei Kategorien: Einmaliger Fick mit Amelie, Fick plus etwas Geld und dann die ganz Großen, die man ausschließlich mit sehr viel Geld überzeugen konnte, weil sie genügend eigene Frauen hatten.

Auf dem Kongo sind wir dafür Wasserski gefahren, hatten zusammen Krokodile und Warzenschweine geschossen und Berggorillas beobachtet. Letztendlich konnte ich nur froh sein, dass sie mir lediglich einen heute noch sichtbaren Cut an meiner rechten Augenbraue und eine aufgeplatzte Lippe verpasst hatte.

„Mein Flieger nach Deutschland geht morgen früh. Du weißt, dass ich dich nie geliebt habe. Leider bist du so unendlich schön. Das ist aber nicht dein einziger Fehler!“, meine Ankündigung hatte bei ihr eine halbstündige Gewaltattacke ausgelöst.

*

Als ob mein Blick auf ihrer Haut einen spürbaren Abdruck hinterlassen würde, richtet sie sich soeben kerzengerade auf und streicht ihr Kleid glatt. Meinen Atem lasse ich anhalten, meine Fantasien jedoch tiefer wandern, durch Millefleurs und Panty noch näher zur Hautoberfläche. In Erwartung, dass sie sich errötend umdrehen wird, schweben vor meinem inneren Auge diverse Variationen: Buschig, rasiert, sowie alle Styles, die mir Amelie als Auswahl präsentiert hatte. Es ist nicht fair, dass mein Gehirn mich gerade jetzt zwingt, über all diese unter Slips versteckten Geheimnisse zu sinnieren.

Ebenso werde ich gezwungen, näher an sie heranzutreten, um zu ergründen, was sie sich soeben in die Hand legt. Es gibt hier keine Äste, Blätter, Sträucher, die meine Annäherung durch Geräusche verraten könnten. Meine Schritte jederzeit lautlos unter Kontrolle zu halten, hatte ich im Dschungel von Lampang erlernt. Auch das Wittern versteckter Lagerfeuer durch ein Ansaugen der Luft durch geblähte Nüstern, langsames Ausatmen und dann eine Wiederholung für alle vier Himmelsrichtungen, das hatten sie mir beigebracht. Im „Goldenen Dreieck“ sind das überlebenswichtige Kenntnisse!

Floral, es ist ein Hauch von Lavendel, der mich an die Provence erinnert. Grasse, ehemalige Metropole der Duftproduktion, dort, wo mein schönstes Projekt bereits nach nur vier Wochen abgeschlossen war. Die Augen schließen, noch näher ...

Lavendel, eigentlich eine Herrennote, hier wird sie mit Orangenblüten und Patchouli sinnlich abgerundet. Ihre Nackenhärchen bewegen sich im Takt meiner Atmung. Sie hat mich bemerkt, ich erkenne es an den ersten Anzeichen einer Gänsehaut an ihrem Hals. Als sie sich abrupt umdreht, stoßen unsere Nasen fast zusammen.

Zuerst empört, dann belustigt sieht sie mich an: „Du musst Michael sein! Früher hast du mich immer mit einem Grashalm gekitzelt. Hast du den etwa immer noch hinter deinem Rücken versteckt?“

„Du, du bist so schön wie immer!“, unfähig, etwas Sinnvolles zu sagen bleibt mir nur diese Plattitüde.

„Ja, früher hatte ich ja auch diese Zahnspange, die hat alles etwas aufgewertet. Aber du, du siehst irgendwie, lass mich sehen, ja, reifer, reifer und erfahrener siehst du aus!“, sie hat dabei tatsächlich mein Kinn in ihre Hand genommen und meinen Kopf zur besseren Begutachtung nach links und rechts gedreht. Didaktisch war sie mir als kleines Mädchen schon überlegen. Ich hatte sie immer reden lassen und wollte ihr eigentlich nur zuhören.

„Wann haben wir uns das letzte Mal gesehen? Es muss doch bestimmt 19 Jahre her sein?“, wenn sie lacht, kommt dieses Grübchen hervor. Ich wollte sie immer nur zum Lachen bringen und dann meinen Finger in diese leichte Vertiefung am Kinn stecken. Das mache ich auch jetzt. Mein Blick fällt auf ihren Mund, kirschrot, die Farbe, die uns verbindet. Das Rot, das wie ihr Lachen in meinen Träumen erscheint und das jetzt auch in ihrer linken Handfläche aufblitzt.

„Du liebst immer noch diese Kirschen?“, mein Gesichtsausdruck bringt sie noch mehr zum Schmunzeln und meine Fingerkuppe wird durch ihr Grübchen fast umschlossen.

„Ja, die Kirschen. Aber du weißt, das hier sind nicht die richtigen. Diese sind nämlich von eurem Baum und die zählen nicht. So hatten wir es doch immer gehalten? Besser ich lege sie zurück und wir holen uns die guten!“, mit diesem Satz hat sie meine Hand, die ihr Kinn betastet hat, genommen und zieht mich in den Garten.

„Du bist damals so schnell weg, nach Indien, habe ich gehört?“, sie hat mich eingehakt, weil sie mit ihren Stöckelschuhen auf dem Rasen leichte Schwierigkeiten hat.

„Ja, Indien, dann Kongo, Thailand, später noch ..., ach, ich weiß alles kaum noch. Ich war überall und nirgends. In meinem Alter wird mir das jetzt zu anstrengend und deshalb habe ich mich seit einem halben Jahr in München selbstständig gemacht.

„Mein lieber Michael, du siehst überhaupt kein bischen überanstrengt aus. Außerdem, was soll das denn heißen, ‚in deinem Alter‘? Soweit ich mich erinnere, bist du knappe drei Jahre älter als ich!“, baff, sie hat mich wieder und sie hat auch noch Recht. Die Aufgabe meiner lange geliebten Reisetätigkeit hat ganz andere Gründe gehabt.

„Und du? Bist du immer noch verheiratet? Zwei Kinder hast du, habe ich gehört“, ich möchte vermeiden, über mich selbst reden zu müssen.

„Ja, Sarah ist jetzt 18 und studiert in Yale und Sophie ist als Au-pair in London. Sie tut sich schwer mit ihrer Studienentscheidung, aber wir lassen ihr Zeit!“, etwas Wehmut klingt in ihrer Stimme mit. Also ist sie jetzt anscheinend alleine. Bis auf ihren Mann natürlich.

„Und Christoph, dein Mann, ist er gut zu dir? Schlägt er dich, misshandelt er dich? Wo ist er überhaupt? Wenn er nicht extrem gut zu dir ist, bekommt er es nämlich mit mir zu tun!“, dabei drücke ich ihre Hand und sehe in große braune Augen. Da ist es wieder, ihr Grübchen: „Christoph ist ein guter Mann. Ich habe mit ihm alles genauso bekommen, wie ich es mir gewünscht hatte. Mein Traumziel war eigentlich immer München, aber dann wurde es doch Oberried. Wir haben dort ein schönes Haus, einen großen Garten und eine Doppelgarage mit zwei Autos. Christoph ist noch bis vier Uhr in der Bank. Filialleiter, weißt du.“

Wir sind am Zaun angekommen. Es ist immer noch der alte, jedoch deutlich verwitterter und mit Büschen und Dornensträuchern zugewachsen. Da steht unser Baum, ist nur viel größer geworden.

„Sieh mal, man braucht gar nicht mehr rüberzusteigen. Die Äste sind so lang geworden, dass man von hier aus pflücken kann!“, ich habe bereits eine der dicken dunkelroten Süßkirschen in der Hand und werde dafür mit einem kräftigen Schlag auf meine Finger belohnt.

„Niemals! Das solltest du doch noch wissen, nur die aus Piesmanns Garten, die schmecken. Du musst rübergreifen, nur dort gibt es die guten!“, sie sieht ein wenig verärgert aus. Natürlich weiß ich es noch, aber ich war damals schon zu feige. Immer musste ich sie über den Zaun heben und es war manchmal sehr schwierig, sie auch wieder zurückzuziehen. Niemals konnte sie die Provokation unterlassen: „Pieselmann, Pieselmann, komm heraus, wir fressen deine Kirschen auf!“

Dann wartete sie immer noch, bis der alte Piesmann mit dem Handstock aus der Tür herausgetreten war, und rannte erst dann los. Schnell war er nie, aber vor dem Rüberklettern mussten ja zuerst die Kirschen an mich übergeben werden. Da war sie sechs und ich neun Jahre alt. Ich hatte mir fast in die Hose gepisst, aber sie hatte solche Abenteuer immer gebraucht.

Ich durfte ihr dann diese roten Kirschen in den leicht geöffneten Mund stecken. Das gefällt mir heute noch. Ich sehe, wie einige Tropfen des roten Saftes über ihre Lippen in das Grübchen laufen, als sie mich erwartungsvoll anlächelt: „Weißt du noch, was du danach immer machen solltest?“

Ja, jedes Detail hatte sich in mein Gehirn eingebrannt.

„Wenn man etwas Böses getan hat, muss man dafür bestraft werden. Du musst ganz fest ziehen!“, lächelnd und voller Vorfreude, so hatte sie mich jedes Mal angesehen. Ihr Ohrläppchen konnte ich jedoch nur ganz leicht in die Hand nehmen. Niemals hatte ich es geschafft, so fest zu ziehen, dass sie dabei Genugtuung empfinden konnte. Mädchen darf man nicht wehtun, das war in meinem Kopf fest verankert gewesen. Damals jedenfalls ...

„Ja, du bist immer schimpfend auf mich losgegangen. Dann hast du mich ein Weichei genannt und du hättest deshalb den ganzen Tag Bauchschmerzen, weil die Kirschen ja geklaut wären und du die Strafe dafür nicht bekommen hättest!“, schuldig halte ich meinen Kopf gesenkt, den sie mir mit ihrer Hand an meinem Kinn wieder aufrichten muss.

„Ich habe mich geändert, glaube mir, zu sehr verändert, befürchte ich!“, ich musste das noch nachschieben. Sie wischt dafür meine Träne weg.

„Du weißt das noch alles? Ich habe es auch niemals vergessen können. Aber das mit den Ohrläppchen war ja nur die eine Sache. Du konntest auch nicht treffen!“, baff, sie hat mich bei meinem zweiten großen Versagen erwischt. Sie war damals so um die 14 Jahre alt und in ihrer Entwicklung deutlich weiter als wir Jungs alle zusammen. Wie gebannt hatten meine Augen auf ihren Brüsten unter dem Millefleurs gehangen und ich dabei einen sehr trockenen Mund bekommen. Die Kirschen hatte sie mir bereits übergeben, sie stand noch auf der anderen Zaunseite. Piesmann kam schon lange nicht mehr heraus, seine Beine machten das nicht mehr mit.

„Wenn du triffst, darfst du mit mir machen, was du willst!“, dabei war ihr die Vorfreude ungleich deutlicher anzusehen gewesen, als bei der Aufforderung zur Ohrläppchenorgie.

Elf Kirschen hatte ich vergeudet. Ihr Gesicht hatte danach wie ein Masernausbruch in der Hochblüte ausgesehen. Aber ihren Mund, soweit sie den auch aufgerissen hatte, den hatte kein einziger meiner Kirschkerne getroffen. Gedemütigt und voller Wut auf mein Versagen war ich damals einfach weggerannt. Mehrere Tage konnte ich ihr einfach nicht mehr in die Augen sehen.

„Ich hätte nicht weglaufen sollen. Heute mache ich das auch nicht mehr!“, ich muss doch etwas sagen, nachdem sie mir auf Antwort wartend in meine Wange kneift.

„Ja, du hättest bleiben sollen und einfach nur fragen. Dann hättest du es trotzdem machen können, ich meine, das mit mir.“

„Wirklich?“, mehr bekomme ich nicht heraus. Wie gebannt starre ich dabei auf ihren linken Augenwinkel, in dem sich die Tränenflüssigkeit bereits sammelt, aber sich standhaft weigert, als Tropfen den Weg nach unten zu nehmen.

Die Kirschen hat sie in meine Hand gedrückt. Wie immer. Ich halte mit der anderen Hand ihre, warm in warm. Ganz langsam gehen wir zurück.

„Ja, du hattest es damals mit dem ‚Weglaufen‘. Sogar bei unserem allerletzten Treffen wolltest du nicht länger bleiben. Weißt du noch?“, sie hat mich wieder untergehakt und ich spüre schmerzvoll die Wärme ihrer Hüfte. Es sind die Gedanken und die verdeckten Sehnsüchte der ganzen letzten 19 Jahre, die sie jetzt an die Oberfläche zerrt. Es war ihr Polterabend. Mein Studium in München stand vor dem Abschluss und ich wollte sie einfach nur sehen. Mutter meinte, ich müsste unbedingt etwas zum Poltern mitnehmen: „Unsere Suppenterrine, die mit dem Blümchenmuster, Goldrand und Deckel, wer braucht das heute noch?“

Verloren hatte ich vor ihrem Haus gestanden, auf der Garagenzufahrt, auf der schon fein säuberlich etliche Scherbenhäufchen zusammengefegt lagen. Aus der Haustür schallten Popmusik und lautes Gejohle. Lachend kam sie mir entgegengelaufen: „Du bist gekommen!“

Ihr kurzer Blick auf meine Schüssel: „Die musst du jetzt schmeißen und uns dazu Glück wünschen. Los mach es, mach es schon!“

Dann sah ich sie an. Mein Blick war zwischen der Suppenschüssel und ihrem strahlenden Lächeln hilflos hin und her gewandert. Ich hatte es einfach nicht gekonnt. Ganz behutsam hatte ich die Schüssel abgesetzt und sie einfach nur angesehen. Ihre Arme um meinen Hals geschlungen, ihre Lippen kirschrot: „Wenn du mich noch aufhalten willst, dann musst du es aber jetzt machen!“

 

Es war der erste und letzte Kuss, den ich von ihr bekommen hatte.

Er brennt heute noch auf meinen Lippen.

Ich Idiot hatte mich einfach umgedreht und war gegangen.

Eine Woche später war ich schon in Mumbai.

In ihre Augen zu sehen, vermeide ich tunlichst, denn diesmal sind es zwei Tränen bei mir. Aber sie bemerkt es trotzdem, meine Hand, die sie hält, die zittert leicht.

„Ah, da ist Christoph ja schon!“, sie lächelt zwar, aber nicht mit dem Lächeln, das sie mir geschenkt hat. Ihn wollte ich jetzt eigentlich nicht sehen. Aber ich muss gestehn, er ist groß, stattlich und sieht auch ein wenig sportlich aus. Ich darf nicht eifersüchtig sein, sie hat alles richtig gemacht. Smalltalk kann ich überhaupt nicht. Es reicht mir, wenn ich dabei ihren roten Mund betrachten kann. Die beiden Tränen konnte ich wegwischen, nicht jedoch deren Spuren auf meinen Wangen, die sie jetzt entdeckt hat.

Soviel habe ich falsch gemacht, habe mich selbst bestohlen und habe sie betrogen. Um was, das weiß ich nicht, aber es war sehr viel. Es muss gesühnt werden, jetzt und heute! Meine vielen anderen Vergehen dann am besten gleich mit!

„Du hast doch immer gesagt, wer stiehlt oder Böses tut, der muss dafür betraft werden. Ohne Strafe bekommt man Bauchschmerzen und ich habe Bauchschmerzen!“, ihre Hand habe ich dabei an mein rechtes Ohrläppchen gezogen.

„Wie lange hast du das denn, ich meine diese Schmerzen?“, ihr Blick ..., erwartungsvoll.

„Unendlich verfluchte lange Jahre habe ich das jetzt schon, meine ganzen gestohlenen Jahre. Du musst auch sehr fest ziehen, denn es sind maßlos böse Dinge, die ich Menschen angetan habe!“, jetzt ist es mein Blick, der abwarten erregt wirkt. Die Sehnsucht nach Erlösung muss in meinen Augen deutlich erkennbar sein.

„Unendlich Böses? Du hast noch nie gewusst, was ‚böse‘ ist. Weglaufen ist nur ganz wenig böse. Nein, du nicht, ich war es. Was du siehst, ist nicht das, was es scheint. 19 Jahre lang war alles falsch. Wenn du es nicht schaffst, so stark zu ziehen, dass es richtig schmerzt, dann werde ich mich für den Rest meines Lebens schuldig fühlen. Also, streng dich diesmal an!“, dabei hat sie meine Hand an ihr rechtes Ohr geführt.

Es geht nicht um meine letzten Jahre, es geht hier um mein zukünftiges Leben. Schuldfrei werde ich niemals wieder werden, aber davon losgesprochen, das würde helfen. Aber nur, wenn ich auch bei ihr richtig ziehe. Heute kann ich das!

Man darf den Kopf nicht zur Seite neigen, wenn es schmerzt. Jammern und Schreien, alles ist verboten, sonst wirkt es nämlich nicht. Ansehen ist erlaubt. Es ist erlaubt, zu erkennen, wie die Schuldenlast bei jedem Ausatmen etwas weiter aus dem Körper herausgedrängt wird, wie der Schmerz alle Erinnerungen an das Böse herauspresst und in das Weltmeer der Sühne entlässt. Ihre Fingernägel durchbohren meine Haut am Ohrläppchen. Ich fühle, wie es tropft. Der Stecker ihres Ohrringes, der ihre Haut jetzt einreißen, der bewirkt das Gleiche. Aber es muss sein, es geht schließlich um unser Weiterleben. Kirschrote Tropfen auf Millefleurs, ich erkenne ausgeatmete Astralschuld und sie die meine, die grenzenlos größer sein muss.

„Was? Was verdammt noch mal macht ihr denn da?“, Christoph will dazwischengehen, aber sie schiebt ihn mit ihrer freien Hand einfach zur Seite.

Christoph rüttelt an mir, will, dass ich loslasse. Diesmal nicht! Ich werde weder loslassen noch weggehen. Ich weiß es, sie wird bei mir solange ziehen, bis es ausreichend ist. Ob mein Ohrläppchen noch jemals auf die gleiche Länge kommen wird, glaube ich schon nicht mehr. Es wird auch eine bleibende Narbe geben. Das ist auch gut so. Ihr Ohrstecker droht bereits, das Ohr mit einer langen Kerbe nach unten zu verlassen, als sie dann loslässt: „He, du kannst es ja heute wirklich! Ich hätte auch nicht geglaubt, dass deine Schuld tatsächlich so groß ist. Wir waren die ganze Zeit anscheinend immer Kopf an Kopf.“

„Seid ihr total verrückt geworden? Was soll das denn werden?“, ihr Mann Christoph sieht empört auf ihr immer noch blutendes Ohr. Aber ihre Augen treffen nur meine. Christoph zerrt an ihr und sie dreht sich zu ihm, sieht ihn an: „Ich werde dich verlassen. Heute noch!“

Sie zeigt auf meine linke Hand, in der ich immer noch die Kirschen halte: „Du hast diesmal nur einen einzigen Versuch und ich rate dir, gut zu treffen!“

Wie oft hatte ich mich gefragt, was ich damals falsch gemacht hatte. Tausend Strategien für den schlechtesten Kirschkernspucker der Welt hatte ich mir zurechtgelegt. Klar, der Kern muss zunächst einmal mit den Zähnen und der Zunge glatt wie eine Glasmurmel vorbereitet werden. Dann kommt es auf einen richtig gespitzten Mund an, zusätzlich auf die Richtung und die Höhe. Alle Parameter waren mir immer wieder durch den Kopf gegangen, aber niemals hatte ich bis heute auch nur eine einzige Kirsche in den Mund genommen.

Meine Angst ist grenzenlos, als ich ihren leicht geöffneten roten Mund sehe, der unerreichbar weit entfernt ist. Aber dann erkenne ich es. Ich kann nicht daneben treffen. Geöffnete Kirschlippen bewegen sich auf mich zu. Diesmal werde ich es schaffen!

Ihr Mund, eng gepresst auf meinem ...

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