Die Kostenvermeidungsdirektive

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Die Kostenvermeidungsdirektive

Vorwort

Das zentrale Ereignis dieses Romans ereignete sich wirklich, das Drumherum entsprang meiner Fantasie. Dazu gehören alle Namen, die Charaktere und Lebensläufe aller Personen sowie ihr Verhalten. Eventuelle Übereinstimmungen mit real lebenden Personen und Firmen sind zufällig und waren nie beabsichtigt.

Obwohl es zwei Leichen geben wird, handelt es sich weder um einen Thriller noch einen Krimi, sondern um das reale Leben. Dieses wird für jeden von uns unweigerlich tödlich enden - bis heute ist es jedenfalls so. Nur verdrängen das die meisten getreu dem Motto "Wenn ich nicht daran denke, wird es mich auch nicht betreffen". Doch dies ist ein Trugschluss.

Sicherlich werde ich hiermit den Vertretern gleich mehrerer Interessengruppen auf die Füße treten. Nicht alles, was die Romanfiguren äußern, ist meine Meinung. Aber wenn man zum Nachdenken anregen möchte, geht es am einfachsten, wenn man provoziert. Denn ich möchte mit diesem Roman für eine ganze Reihe an Themen sensibilisieren und vielleicht auch zu Diskussionen und vor allem zum Nachdenken anregen. Wir leben in einer Welt, in der wir uns mehr oder weniger freiwillig dem unterordnen, was andere verlangen oder vorschreiben. Meistens, ohne groß darüber nachzudenken. Gerade hier sehe ich aber noch ein riesiges Potenzial, unser aller Leben und Zusammenleben zu verbessern beziehungsweise zu optimieren.

Jens Wahl im August 2016

Kapitel 1 - Eine Stufe auf der Karriereleiter

Friederike Oberndorfer hatte es geschafft: Vor ihr lag das Diplom, das sie berechtigte, ab sofort als Shore-Excursion-Manager bei der AHOS-Reederei zu arbeiten. Allerdings war sie mit sich nicht so ganz zufrieden: Sie hatte nur den zweitbesten Abschluss hingelegt, das ärgerte die karrieregeile und ehrgeizige Zweiunddreißigjährige doch. Trotzdem schien die Septembersonne freundlich durch das Fenster und ließ das brandneue Diplom hell erstrahlen. Da die Fensterscheiben nicht exakt plan waren, zeichnete die Sonne lustige Kringel auf das Papier. Friederike fand das von der Sonne unfair - es passte einfach nicht zu ihrer Stimmung! Doch die Sonne interessierte das wohl nicht besonders.

Die Kursleiterin, Frau Häusler, hielt ihre Schlussrede, in welcher sie nochmals darauf hinwies, welche Aufgaben ein Shore-Excursions-Manager bei AHOS hat: Koordinierung, Bewerbung und Verkauf der durch die Zentrale schon im Voraus gebuchten Landausflüge, Betreuung der Gäste auf dem Schiff vor und während der Ausflüge, Arbeitseinteilung der Shore-Excursions-Guides, die fast immer die Gäste auf den Landausflügen begleiten. Dazu kam natürlich auch noch die Bemerkung, dass ein hohes Kostenbewusstsein gefragt sei. „Meine Damen und Herren, ich möchte Sie nochmals darauf hinweisen, dass unsere Firma laut Arbeitsvertrag berechtigt ist, abwendbare Kosten, die durch Sie nicht vermieden wurden, wenigstens anteilig mit Ihrem Gehalt zu verrechnen! Also haben Sie immer ein Auge auf Ihr Budget im Sinne der während des Kurses ausführlich diskutierten ‘Kostenvermeidung’ oder, wie es im betriebswirtschaftlichen Sprachgebrauch auch genannt wird, der ‘Cost Avoidance’. Nun bleibt mir nur noch, Ihnen bei Ihrer künftigen Tätigkeit viel Erfolg und auch Spaß zu wünschen!“

Die Kursteilnehmer klatschten Beifall, damit war der Tag gelaufen und sie hatten ab jetzt für heute frei. Also schnell weg, sie wollten ihren Abschluss feiern.

Friederike hatte es nicht so eilig, sie würde schon morgen ihre neue Stelle antreten. Sie brauchte nur ihre Reisetaschen aus der Firmenunterkunft, die sie während der Schulung bewohnte, holen und ihre eigene Kabine auf der „Atlantico“ beziehen. Aus der Feierei machte sie sich nichts - sie ärgerte sich immer noch über ihren zweiten Platz.

Die AHOS-Reederei mit Sitz in Hamburg betrieb zwei Kreuzfahrt-Sparten: die „normale“ Kreuzfahrt im 3- bis 4-Sterne-Bereich, welche als „Holidays on Sea“ beworben wurde, sowie eine Art Expeditionskreuzfahrt mit kleineren Schiffen, die als „Adventures on Sea“ in einem extra Katalog vermarktet wurde und den 5-Sterne-Bereich abdeckte. Beides zusammengefasst ergab den Firmennamen „AHOS“ - Adventures & Holidays on Sea. Für die „Adventure“-Sparte gab es zwei kleine Schiffe, die „Pinguin“ und die „Eisbär“ mit je 600 Passagieren. Beide Schiffe besaßen die Eisklasse und konnten so auch für etwas ungewöhnlichere Routen in der Arktis und Antarktis eingesetzt werden. Die „Holidays“-Sparte verfügte über vier Schiffe: die „Atlantico“ als ältestes Schiff der AHOS-Flotte mit etwa 1.100 Passagieren. Das gleich große Schwesterschiff „Pazifico“ war nur ein Jahr jünger. Und dann gab es noch die beiden Neubauten aus den letzten beiden Jahren mit je 4.500 Passagieren: die „Caribico“ und die „Baltico“. Alle Schiffe fuhren aus Steuerersparnisgründen unter der spanischen Flagge.

Friederike war der „Holiday“-Sparte zugeordnet worden. Morgen würde die „Atlantico“ mit ihr als SEM, wie die innerbetriebliche Abkürzung für Shore-Excursions-Manager lautete, in Richtung Kanaren in See stechen. Sie hatte noch viel zu tun, in zwei Tagen sollten die ersten Landausflüge unter ihrer Regie in Dover stattfinden. Bereits mehrere Monate konnte sie als Praktikantin an der Seite von Herrn Hallein auf der „Baltico“ Erfahrungen auf diesem Posten sammeln, jetzt war sie aber die Chefin für diesen Bereich! In dieser Rolle gefiel sie sich. An die Zeit auf der "Baltico" erinnerte sie sich immer wieder sehr gern. Herr Hallein war schon über sechzig Jahre alt und hatte vor, in ein paar Jahren in den Ruhestand zu gehen. Er war nicht nur ein Profi in seinem ausgeübten Beruf, sondern er liebte gleichzeitig seine Tätigkeit. Dabei verlor er nie den Blick für das Wesentliche. "Wir leben in einer wunderbaren Welt zum richtigen Zeitpunkt", schwärmte er einmal Friederike gegenüber. "Erst jetzt ist die Technik so weit, viele Erholungssuchende weltweit zu transportieren. Und viele Menschen können sich dies auch leisten. Doch wer kann die Schönheiten der Natur genießen? Doch nur derjenige, der nicht nur in Frieden lebt, sondern der auch genügend zu Essen hat. Stell Dir doch einmal vor, Du lebst in Rio de Janeiro und hast weder Arbeit noch etwas zu essen. Der Blick vom Zuckerhut zum Corcovado wird Dir total egal sein, wenn Dein Magen knurrt. Dann überlegst Du nur, wie Du Deinen Hunger stillen kannst, ganz einfach, um zu überleben." Herr Hallein war ein sehr guter Lehrer: Zuerst erklärte er einiges, dann ließ er sich von Friederike helfen. Während der Vorbereitung des vorletzten Ausflugstages in ihrem Praktikum meldete er sich bei ihr ab - er hätte ein starkes Unwohlsein. Wenn sie nicht weiter käme, könne sie sich ja bei ihm melden. Mit ihrem Ehrgeiz biss sich Friederike durch und erntete Lob von ihrem Lehrmeister. Danach klärte er sie wegen der kleinen Schwindelei auf. Diese hatte nur dazu gedient, um einmal zu sehen, wie sie allein klarkommt und um ihr andererseits Sicherheit zu geben: "Wer die Ausflüge für 4.500 Gäste plant, sollte bei 1.100 Gästen kein Problem haben", war seine Meinung. Kurz nach Ende des Praktikums, noch während des Lehrganges, erhielt Friederike Oberndorfer von ihrer Reederei die Zusage, als SEM auf der "Atlantico" arbeiten zu können.

Allerdings sollte Friederikes Karriere mit der Stellung als SEM noch nicht zu Ende sein: Spätestens mit 40 Jahren wollte sie den Rang eines CD (Cruise Director) erworben haben. Dieser kam in der Rangliste auf dem Schiff gleich nach dem Kapitän und war praktisch eine Art Hotel- und Entertainment-Direktor in einem. Doch bis dahin musste sie sich erst einmal auf ihrem jetzigen neuen Posten bewähren und danach ein mehrjähriges firmeninternes Studium absolvieren.

Ständig, aber erfolglos, versuchte sie während der Schulzeit, mit guten bis sehr guten Noten die Anerkennung ihres von ihr heiß geliebten Vaters zu erringen. Doch dieser war in den drei Jahre älteren Sohn vernarrt. 'Büchsen' zählten bei ihm als minderwertig und er ließ es sie spüren. Als sie mit 15 Jahren erkannte, dass ihr Bruder den Bauernhof in der Nähe von Isny von den Eltern übernehmen sollte, hatte sie sich für eine Lehre als Reiseverkehrskauffrau beworben und diese mit dem besten Jahresabschluss im IHK-Bereich beendet. Doch die Beratung derjenigen, die sich teilweise die teuersten Reisen leisten konnten, während sie bei ihrem Gehalt immer nach Schnäppchen suchen musste, stellten sie nicht zufrieden. Es passte auch nicht zu ihrem Charakter, sich ständig unterordnen zu müssen. Durch das Verhalten ihres Vaters ihr gegenüber wurde sie hart - zu sich selbst und auch zu anderen. Sie kannte es einfach nicht besser.

Ihre Eltern kamen bei einem Autounfall ums Leben, als sie sechsundzwanzig Jahre alt war - der zwölfjährige Bub des Nachbarhofes hatte beim Pflügen des Feldes die Gewalt über den Traktor verloren und war damit auf die Landstraße gekommen, als gerade ihre Eltern angebraust kamen - sie hatten keine Chance.

Die Beziehung zur Frau ihres Bruders war noch nie die beste und konnte nach der Testamentseröffnung gemeinhin als bescheiden bezeichnet werden: Der elterliche Hof war teilweise verschuldet. So konnte der Bruder ihr nicht den ihr zustehenden Pflichtteil auszahlen, ohne den Hof noch mehr zu belasten. Deshalb hatte sich Friederike mit ihrem Bruder so geeinigt, dass sie ihren Pflichtteilsanspruch stundet und als Sicherheit in Form einer Hypothek auf den Hof eintragen ließ. Diese sollte erst später, wenn es dem Hof wieder finanziell besser ging, ausgelöst werden. Doch ihre Schwägerin war der Ansicht, dass Friederike ganz auf ihren Pflichtteil zugunsten des Hofes verzichten solle. Der Schwägerin zum Trotz behielt sie auch das eine Zimmer, welches ihr laut Testament neben dem Pflichtteil mit ständigem und mietfreiem Wohnrecht zustand, als ihren Hauptwohnsitz.

 

Aus all diesen Gründen hatte sich Friederike bei der AHOS-Reederei als Shore-Excursions-Guide, kurz SEG, beworben - sie wollte etwas von der Welt sehen und das gleichzeitig noch bezahlt bekommen. Als SEG hatte sie als Verbindungsglied zwischen dem örtlichen Reiseleiter des jeweiligen Landausfluges und den mitreisenden Gästen zu fungieren. Dabei konnte sie mit ihren Sprachkenntnissen punkten, sie sprach fließend Englisch und Spanisch. An Bord beriet sie die Gäste beim Verkauf der Landausflüge.

Wenn man in Armee-Einteilungen denkt, gehörten die SEG zu den Soldaten an Bord. Friederike wollte unbedingt in den Offiziersbereich aufsteigen und bewarb sich deshalb vor einem Jahr für die firmeninterne Weiterbildung zum SEM.

Da sie als Pubertierende in den Bereich „leicht unterdurchschnittliche Schönheit“ eingeordnet worden und ihr das auch bewusst war, sollten Männer kein großer Stolperstein auf ihrer Karriereleiter werden. Sie war schlank, weil sie ihr eigener Ehrgeiz auffraß. Das unauffällige, aber nicht hässliche Gesicht, von kastanienbraunem, schulterlangem Haar umrahmt, hatte sie mit einer Brille verunziert. Ihr gefiel diese Brille mit dickem schwarzem Rand auch nicht, aber es war eben zur Zeit modern. Was aber ist modern? Das, was uns die Designer und Marketing-Strategen ständig aufschwatzen? Warum empfand sie nicht das als modern, was ihr selbst gefiel?

Sicherlich hatte sie bereits Beziehungen zu Männern gehabt - ab und zu war der Wunsch nach etwas 'Unterbodenpflege' auch bei ihr zu verspüren. Den Begriff 'Unterbodenpflege' für Geschlechtsverkehr hatte mal ein junger Kfz-Mechaniker, mit dem sie ein paar Tage zusammen war, gebraucht. Es ist nun einmal so, dass auch angeblich weniger schöne Frauen und Männer die gleichen Gefühle und Wünsche haben wie die, meist selbst ernannten, Schönsten der Welt. Was aber ist Schönheit? Hat da nicht auch jeder einen eigenen, individuellen Geschmack? Weshalb orientieren wir uns das ganze Leben immer nur an den Vorgaben anderer? Um zu vermeiden, dass wir anecken, wenn wir aus dem vorgeschriebenen Massengeschmack herausfallen? Womit erkaufen wir uns dieses „nicht-anecken-wollen“? Jeder Mensch ist ein einmaliges Original und sollte sich dies auch immer wieder bewusst werden lassen und sich danach verhalten.

Aber diese Beziehungen waren immer wieder sehr schnell auseinandergegangen. Ein „leider“ verspürte sie bei den Gedanken daran eigentlich nie. In ihrem jetzigen Beruf wäre eine feste Beziehung nur hinderlich gewesen. Mit den Gästen etwas „anzufangen“, war unter Androhung einer fristlosen Kündigung verboten. Mit den Kollegen auf dem Schiff wollte sie keine Beziehung beginnen, um nicht in irgendeiner Form erpressbar zu werden, was sich hinderlich auf ihre Karriere auswirken könnte. So hatte sie in dem in der heutigen Zeit fast unübersehbaren Sortiment an kleinen „Helferlein“ für einsame Stunden eine Lösung für sich gefunden. Diese waren immer willig, und wenn die Batterie leer war, wurde diese gegen eine neue ausgetauscht. Nach verrichteter Arbeit kurz säubern und das Ding im Nachtkasten ablegen - praktischer ging es kaum.

Ein Kerl läge danach neben ihr, zufrieden wie ein frisch gesäugtes Baby. Und fing womöglich noch an, zu schnarchen! Oder stellte diese saublöde Frage: „Wie war ich?“ Eine Antwort gab sie darauf nie, sie hätte fast immer „Viel zu schnell fertig“ gelautet. Noch in der gleichen Nacht an mindestens eine Wiederholung zu denken, war bei den wenigsten Kerlen, mit denen sie das Kopfkissen geteilt hatte, möglich. Falls doch, benötigten diese auch immer wieder eine mehr oder weniger lange Aufladezeit dazwischen. Das Einzige, was man mit dem „Helferlein“ nicht konnte, war Kuscheln. Doch dazu waren die Kerle auch meist nur vorher bereit, um sich in Schwung zu bringen. Danach bekamen die doch meist nicht schnell genug ihren Slip wieder an!

Gefühle zeigen, kann hinderlich für die Karriere sein. So wurde Friederike schon während ihrer SEG-Zeit als Eisblock, unnahbar und arrogant eingeordnet - sie fand es gut so und nahm sich vor, dieses Image weiter zu pflegen. Eine gewisse Distanz sollte zwischen Vorgesetzten und deren Unterstellten vorhanden sein und auf den Unterschied hinweisen. Dies war schon ihre Meinung, als sie bei AHOS noch „ganz unten“ war. Wollte sie rein äußerlich auf Distanz gehen, band sie sich das Haar nach oben, was ihr ein noch strengeres Aussehen verlieh.

Nachdem sie ihre Reisetaschen auf die Kabine transportiert hatte, begab sie sich in die Kleiderkammer. Hier wurde die kostenlose Dienstkleidung ausgegeben. Doch diesmal wollte Friederike keine Kleidung tauschen. Nein, ganz genussvoll forderte sie für ihre schwarzen Schulterklappen auf der weißen Uniformbluse je einen weiteren gelben Streifen an.

In die Kabine zurückgekehrt, machte sie sich an die Dienstplanung für die bevorstehende Reise.

Kapitel 2 - Am Stammtisch

In der urigen Gaststätte „Zum Wolpertinger“ im Süden Traunsteins ging es laut her. Vor knapp zwei Wochen hatte Bundeskanzlerin Merkel Anfang September 2015 die Grenzen für die vor Ungarn gestrandeten syrischen Flüchtlinge geöffnet - ohne vorherige Absprache mit den anderen europäischen Partnern und ohne vorherige Abstimmung im Bundestag. Sehen so demokratische Entscheidungen aus? Deutschland und Europa wurden einfach vor vollendete Tatsachen gestellt und sollten trotzdem den dadurch zusätzlich entstandenen Aufwand schultern. Tagtäglich strömten Tausende von Flüchtlingen ins Land, teilweise unkontrolliert. Und es war kein Ende der Aktion abzusehen. Die stereotype Wiederholung der Aussage der Kanzlerin „Wir schaffen das“ brachte keine Lösung für die absehbaren Probleme, die Deutschland erwachsen werden. Viel mehr klang dies wie ein Befehl an alle Helfer, dass sie das zu schaffen haben.

Der „kleine Stammtisch“ bestand nur aus vier Teilnehmern, die sich einmal monatlich trafen. „Weshalb macht die Merkel denn nicht endlich wieder die Grenze dicht?“, fragte Ole Eick ratlos am kleinen Stammtisch. „Weil dies unmoralisch und nicht mit der Genfer Flüchtlingskonvention in Einklang zu bringen wäre - darin gibt es wirklich keine Obergrenze“, entgegnete Maximilian Meier, Allgemeinmediziner mit eigener Praxis in Traunstein. Er wurde meist nur kurz als Max bezeichnet, war schlank und besaß noch einen vollen, fast schwarzen, Haarschopf. "Das heißt aber für mich im Umkehrschluss nicht, dass jedes Land gezwungen ist, bis zum eigenen Ruin Flüchtlinge aufzunehmen. Dies würde weder der eigenen Bevölkerung noch den Flüchtlingen etwas nutzen", fuhr Max fort. "Wobei es seltsamerweise keinen interessiert, wie es um die Moral der europäischen Länder steht, die sich strikt weigern, Flüchtlinge aufzunehmen."

'Eick' heißt im Mecklenburgischen nichts anderes als 'Eiche'. Doch es hält sich dort das hartnäckige Gerücht, dass alle, die so heißen, ihrem ursprünglichen Namen eine ganz andere Bedeutung gegeben haben durch das Hinzufügen eines kleinen waagerechten Striches ganz unten am ersten Buchstaben. Inwieweit dies wahr ist, werden wohl nur die Träger dieses Namens wissen. Immer, wenn Ole aufgeregt war, verfiel er in sein mecklenburgisches Platt: „Jo, ick heff mir de Konvention durchgelesen. Awer ick heff do keen beten rutfinnt, dat ein Lann sik selbst ruinieren mutt, bloot um anner to helpen. Un do kamen we doch bannig flott hen, wenn dat so wieter gaht, nech?“ Er wurde langsam wieder ruhiger: „Die Merkel muss doch begreifen, dass sich nicht eine beliebige Menge an Flüchtlingen sinnvoll integrieren lässt - die benötigen Essen, Kleidung, Wohnungen und Sprachkurse. Irgendwo ist doch da eine Kapazitäts- oder Leistungsgrenze, denn das muss doch auch alles bezahlt werden! Und wenn es, wie abzusehen, dieses Jahr eine Million Migranten werden, dann 'vergessen' die Nachrichtenfuzzis und Politiker doch immer wieder, den Familiennachzug mit mindestens dem Faktor drei bis vier hinzuzurechnen für die Folgejahre.“ „Du weißt doch, dass sich die Politiker immer nur das herauspicken, was sie für sich nützlich finden!“, schmunzelte Max über das Plattdütsch. „Und vor ein paar Jahren hat sich Frau Merkel für die Probleme der Flüchtlinge in Lampedusa und Griechenland überhaupt nicht interessiert, weshalb jetzt so plötzlich? Ist vielleicht etwas von dem Gemunkel wahr, dass sie „Baan Ki Mutti“ werden will, wie die Berliner sie schon nennen?“ „Davon habe ich noch nichts gehört, das wäre ja heftig: Der neue Generalsekretär der UNO muss am 1.1.2017 sein Amt antreten, da ist sie aber noch Bundeskanzlerin.“

Anton, als der Dritte im Bunde, meinte zum Thema, dass es nicht von allzu viel staatsmännischer Weitsicht zeuge, wenn sich ein Politiker nur das herauspickt, was ihm nutzt und alle anderen Fakten einfach ignoriert. Außerdem wüsste er jetzt überhaupt nicht mehr, wen er bei der nächsten Bundestagswahl wählen solle: Bisher war das in Bayern klar geregelt, die Meisten wählten CSU. „Aba wenn i ‘etzt die CSU wähln dad, wähl i ja automadisch de CDU mid da Merkl mid - und des wui i ned! Also muss sich unser Horschti schon etwas einfallen lassen, wenn er keine Wähler verlieren will!“

Es ging ständig hin und her, jeder wusste etwas anderes und gab es zum Besten.

Der vierte in der Stammtischrunde, Torsten Klarmann, äußerte wütend: „Ich verstehe das ganze Verhalten der EU nicht: Seit 2011 müssen die mit dem Flüchtlingsstrom rechnen. Seit März 2015 war denen bekannt, dass sich mindestens eine Million der Flüchtlinge auf den Weg nach Europa machen wird. Und was haben die getan? Die Glühlampe abgeschafft und leistungsstarke Staubsauger verboten! Für mich ist das eine Kasperle-Truppe, die sich auf unsere Kosten einen Bunten macht. Viele lange Beratungen ohne konkrete Beschlüsse, Hauptsache es gibt ein gemeinsames Essen.

Wenn ich nur an den Schmarrn mit den Staubsaugern denke: Die neuen Geräte mit ihren maximal 900 Watt eignen sich allenfalls für Hartböden und haben eine Reinigungseffizienzklasse E oder bestenfalls D für Teppiche. Also lasse ich den Staubsauger zwei- bis dreimal so lange arbeiten, um den Teppich sauber zu bekommen. Für mich mehr Zeitaufwand und der Stromverbrauch wird nicht weniger, als wenn ich mal kurz mit einem 2000-Watt-Gerät darüber gehe. Zum Glück hatten wir diesen EU-Schwachsinn rechtzeitig mitbekommen und uns sechs ordentliche Staubsauger auf Vorrat gelegt, das sollte bis zu unserem Ableben reichen.“

Max meinte sarkastisch dazu: „Vielleicht benötigst Du gar nicht mehr so viele Staubsauger. Selbst der Zentralrat der Muslime in Deutschland befürchtet, dass die ganzen Kleinkriege aus der islamischen Welt jetzt einfach nach Europa verlagert werden. Also Terroranschläge, Selbstmordattentate usw. Uns wird noch im wahrsten Sinn des Wortes die ganze merkelsche Politik um die Ohren fliegen! Denn du weißt doch gar nicht, was für Typen sich hier unkontrolliert mit eingeschlichen haben.“

„Ja, und wenn ich sehe, wie die an der ungarischen und slowenischen Grenze randaliert und die Grenzer mit Steinen beworfen haben, dann bekommt man einfach Angst, solche Leute zu Hunderttausenden im Land zu haben. Wie sicher wird es dann noch in Deutschland sein? Wenn ich als Asyl suchender komme, führe ich mich doch nicht auf wie die dort! Und weshalb findet sich kein einziger Politiker, der den Flüchtlingen endlich einmal klarmacht, dass sie gar kein Recht darauf haben, von Deutschland aufgenommen zu werden? Sowohl in Ungarn wie auch vorher in Griechenland befanden sie sich in einem sicheren Land!

Ich befürchte außerdem noch etwas ganz anderes: dass der kleine Mann wie immer die Zeche für diese Politik zu zahlen hat. Sobald die Flüchtlinge anerkannt sind, strömen sie auf den Wohnungsmarkt mit seinen schon jetzt viel zu hohen Mieten. Es erfolgt ein Verdrängungswettbewerb. Da für die Flüchtlinge Mietzuschüsse gewährt werden - in Berlin bis zu fünfzig Euro pro Tag -, wird es so kommen, dass die wirtschaftlich schwächeren Deutschen auf der Strecke bleiben und davon werden es immer mehr. Etwas stark übertrieben formuliert wird es so sein, dass in ein paar Jahren die Syrer aus den Fenstern der Sozialwohnungen auf die obdachlosen Deutschen unter den Bäumen blicken werden. Was mich noch brennend stark interessiert bei den Flüchtlingen: Die da kommen, sind garantiert nicht die Ärmsten der Armen - das Geld für die Schlepper haben sie ja gehabt. Wenn sie dann ihre Geldzahlungen vom Amt erhalten, werden dann auch deren Vermögen und Konten kontrolliert auf Bedürftigkeit wie bei unseren Hartz IV - Empfängern?

Und vergesst auch nicht das Folgende: Was gab es für ein monatelanges Diskutieren um die 6,7 Milliarden für den zweiten Mütterpunkt, weil es den Politikern viel zu teuer war. Jetzt sind deutlich mehr Milliarden da für die Flüchtlinge ohne jede Diskussion; ein Institut geht von mehr als 21 Milliarden nur für 2015 aus bei 1,1 Millionen Flüchtlingen. Dabei empfinde ich die Unterscheidung in Mütter, die ihre Kinder vor oder nach 1992 geboren haben, schon als Diskriminierung der ersteren Gruppe. Weshalb soll ein Kind, das vor 1992 geboren wurde, beziehungsweise die Leistung seiner Mutter unserer Gesellschaft nur zwei Drittel wert sein gegenüber einem ab 1992 Geborenen? Ich finde keine plausible Erklärung dafür. Und ausgerechnet eine so genannte christlich-demokratische Regierung, die unter Altkanzler Kohl, hatte sich dies ausgedacht. Aber die SPD ist für mich auch nicht besser: Meines Erachtens haben die ganzen SPD-Bonzen seit dem Armani-Kanzler Schröder überhaupt keinen Bezug mehr zu dem, was das Volk ist.

 

Oder wer tritt für die etwa 400.000 Obdachlosen in Deutschland ein? Offiziell gibt es keine Zahlen dazu - es interessiert ja keinen. Da war doch jetzt der Bericht, dass eine syrische Familie in Hungerstreik getreten ist, nur weil sie nicht sofort ein Haus oder wenigstens eine Wohnung bekommen haben - das hatten ihnen die Schlepper so erzählt. Unsere Obdachlosen wären über ein beheiztes Zelt wenigstens im Winter sehr erfreut - die haben nur deshalb keine Lobby, weil sich damit nichts verdienen lässt. Da werden teilweise Milliarden in andere Länder transferiert zur Unterstützung der dortigen Not leidenden Bevölkerung und hier erfrieren Menschen, denen mit viel weniger geholfen werden könnte. Es ist eine Schande für ein so reiches Land wie Deutschland, dass es hier überhaupt Obdachlose gibt!“

Torsten Klarmann hatte sich ereifert. Immer, wenn er Ungerechtigkeiten bemerkte, regte sich sein Widerspruch. Er wandte sich an den etwas übergewichtigen, fast komplett kahlköpfigen Toni, der mit seine 54 Jahren der Jüngste in der Runde war und mit bürgerlichem Namen Anton Huber hieß. Während Torsten sich schnell über etwas aufregen konnte, war Toni der Gemütsmensch in der Runde. Er betrieb einen eigenen Bauernhof. „Dich interessiert das ja nicht, weil Du auf deinem Hof sicher sitzt", stellte Torsten neidlos fest. "Und genau so Max in seinem Eigenheim. Aber wenn ich an unsere Rente denke, dann graust es mir schon jetzt. Selbst mit den heutigen Mietpreisen landen wir dann bei mindestens 70% für die Warmmiete. Dazu kommen im Alter noch Rezeptgebühren, Taxi zum Arzt und essen willst du ja auch noch was! Kleidung, Reparaturen, eventuell noch Unterhaltskosten für den Pkw - das reicht dann wohl nicht mehr dafür. Nach Eintritt in die Rentenzeit wagen wir überhaupt nicht mehr, von Reisen zu träumen.“

Toni legte Torsten Klarmann, in der Stammtischrunde kurz "Klaro" genannt, seine Rechte auf den Unterarm. „Nun komm mal wieder von der Urlaubspalme herunter, so schlimm wird es schon nicht werden. Höchstens noch schlimmer“, grinste er abschließend.

Auch Ole versuchte, Klaro zu beruhigen: „Sei vorsichtig mit deinen Worten. Hast Du nicht den Auftritt des selbst ernannten Erzengels der SPD im ZDF gesehen? Da wurde alles, was nicht seiner Meinung war, als Pack bezeichnet und in die rechte Ecke gestellt. Also eine Schwarz-Weiß-Malerei bei einer roten Partei. Mir stellt sich nur die Frage, wo da die Meinungsfreiheit unserer Demokratie bleibt. Ich kenne genau so etwas ja von 30 Jahren Honecker und Konsorten und lege keinerlei Wert auf eine Wiederholung.“ Ole, 59, kam aus Wismar und wollte eigentlich Architektur studieren. Da er nicht, wie verlangt, die SED-Parolen nachplapperte und lieber dummerweise seine eigene Meinung äußerte, wurde er nach Abschluss der 10. Klasse von der „Erweiterten Oberschule“ (Gymnasium) geschmissen und erlernte den Beruf eines Maurers. Während eines Urlaubes nach der Wende hatte er die verwitwete Pensionsbetreiberin Rosa hier in Traunstein kennengelernt. Beide verliebten sich schnell ineinander und waren seit nun 12 Jahren glücklich miteinander verheiratet. Da Rosas verstorbener Ehemann früher Mitglied dieser Stammtischrunde war und Anton und Rosa über vier Ecken miteinander verwandt waren, wurde dann Ole durch Anton eingeladen, am Stammtisch teilzunehmen.

Torsten, der aus Thüringen stammte und zusammen mit Max mit 57 Jahren der zweitälteste in der Runde, entgegnete: „Ich schaue mir schon gar nicht mehr die GEZ-Sender an, mir kommt das genau so wie Ole vor: regierungstreues Zensurfernsehen so ähnlich wie die „Aktuelle Kamera“ damals in der DDR. Ich sehe mir eigentlich nur noch die ZIB auf ORF2 an, da bekommt man wenigstens halbwegs stimmende Zahlen. Der Ösi weiß ja, wie viele er zu uns durchgewunken hat. Für mich ist das mit dem ORF so ähnlich wie Westfernsehen zu Ostzeiten.“ Torsten hatte mit 46 Jahren die Arbeit als Softwareentwickler in Thüringen verloren und erst wieder etwas hier in Traunstein gefunden. Er war mit seinem hiesigen Arbeitgeber, bei dem er jetzt schon 11 Jahre arbeitete, sehr zufrieden. Von seinem Vollbart, den er während seiner Jahre in Nordostdeutschland getragen hatte, war als Relikt lediglich ein inzwischen fast komplett weißer Schnauzbart übrig geblieben. Zwei kräftig ausgeprägte Geheimratsecken und ein am Hinterkopf durchscheinendes "Knie" wurden von seinen nur wenige Millimeter langen, weißen Haaren noch betont. Sein Vater hatte zu dessen Lebzeiten eine deutlich kräftigere Ausprägung einer Glatze gehabt und versucht, diese mittels weniger, langer Haarsträhnen zu verdecken, die dann bei jedem Windhauch umhergewirbelt wurden. Dies mochte Torsten absolut nicht und spottete immer wieder bei seinem Vater über dessen Versuche, den "Hühnerpopo" zu verstecken. Torstens Frau Gudrun hatte zwar eine Art Bürokauffrau gelernt, war aber noch zu DDR-Zeiten strafversetzt worden und musste ab dann als Verkäuferin zu einem Hungerlohn arbeiten, weil sie damals keine VD-Verpflichtung unterschreiben wollte - diese hätte ihr den Kontakt mit ihrer in Brühl bei Köln lebenden Oma untersagt. Wie das Leben so spielt, starb ihre Oma kurz danach. Hier in Traunstein saß Gudrun an der Kasse eines Supermarktes.

Max, ein Traunsteiner Urgestein, war Torstens Hausarzt und hatte vor etwa zehn Jahren bei Torsten einen Infekt mit schwerwiegenden Folgen diagnostiziert. Trotz rasender Schmerzen im Rücken und immer wieder wegknickender Beine war Torsten erst dann zum Arzt gefahren, als es wirklich nicht mehr ging. Max war von dem Verhalten des damals erst seit ein paar Monaten in Bayern lebenden angetan - da wurde nicht gleich wegen eines kleinen Risses im Finger der Notarzt gerufen, wie das heutzutage oft der Fall war! Und bei einem echten Notfall ist dann kein Notarzt verfügbar. Nach Torstens Rückkehr aus der Spezialklinik erhielt er von Max die Einladung, am Stammtisch den gerade frei gewordenen Platz einzunehmen - sein „Vorgänger“ war kurz zuvor zu den „Isarpreissn“ gezogen, da ihm die tägliche Pendelei zwischen Traunstein und München zu viel war. Torsten war nicht so der Stammtisch-Fan und befürchtete, unter den vielen Bayern auch sprachlich unterzugehen. Als Gudrun mal an einem Stammtischtermin Spätdienst hatte, ging er trotzdem hin und blieb dabei. Obwohl Max und Torsten beide gern in den heimischen Bergen wanderten, hatten sie noch nie zusammen eine Tour unternommen. Der Grund dafür lag in der Art der "Bergwanderung": Während Max versuchte, möglichst schnell auf den Berg zu kommen und natürlich auch wieder schnellstmöglich zurücklief, wanderten Torsten und seine Frau Gudrun nicht gegen die Uhr. Sie betrachteten es als Ausgleich zu ihrer sitzenden Tätigkeit, legten Wert auf eine gute Aussicht und wollten möglichst auch Tiere beobachten. Gudrun hatte ihre Art des Bergwanderns einmal als "Genusswandern" bezeichnet. Max dagegen rannte auch bei Nebel oder Regen los, ihm ging es ausschließlich um die sportliche Leistung.