Der Tag des Schmetterlings

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Der Tag des Schmetterlings
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Jens Böttcher

Der Tag des Schmetterlings

Short Stories


Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 9783865065988

© 2009 by Joh. Brendow & Sohn Verlag GmbH, Moers

Einbandgestaltung: Brendow Verlag, Moers

Titelfoto: Getty Image

Satz: Satz & Medien Wieser, Stolberg

1. digitale Auflage 2013: Zeilenwert GmbH

www.brendow-verlag.de

INHALT

Cover

Titel

Impressum

Zitat

Herr Meier

Der Tag des Schmetterlings

Sonntagmorgen

Verfolgt

Der Wunsch

Der Fall Dunbar

Sprachlos

Seelentänzer

Wenn die Hand des Lebens schwer ist und ohne Lied die Nacht, dann ist es Zeit für Liebe und Vertrauen. Und wie leicht wird doch die Hand des Lebens, wie voll Gesang die Nacht, sobald man alles liebt, allem vertraut.

Khalil Gibran

Herr Meier

Der EC 306 ratterte mit gleichmäßiger Geschwindigkeit über das Gleis. Zugbegleiterin Daniela Kurtz hatte soeben das Abfahrtsignal in Bremen gegeben und begonnen, die Fahrkarten der Zugestiegenen zu kontrollieren und abzustempeln. Sie mochte ihren Job, auch wenn er gelegentlich öde und anstrengend war. Und sie wusste, dass sie besser mal zehn Kilo abnehmen sollte. Das hatte ihr sogar der Arzt empfohlen. Es sei besser für die Gelenke, da sie ja bei der Arbeit so viel auf den Beinen war. Das stimmte. Außerdem fühlte sie sich nicht mehr so schön wie früher. So richtig störte sie das allerdings nicht.

Schon eher, dass ihr am Abend meistens ganz schön die Füße wehtaten. Und eben der Rücken. Aber es war trotzdem ein Glück, dass sie den Job hatte. Thorsten verdiente als Getränkemarktleiter allein einfach nicht genug. Zum Leben für beide hätte es schon gereicht, aber mehr als ein einziger günstiger Urlaub pro Jahr wäre nicht drin gewesen, wenn Daniela nicht monatlich ihren guten Tausender nach Hause gebracht hätte.

Noch gut drei Stunden bis Köln, dann würde sie den Zug wechseln, wieder zurück bis nach Hamburg fahren und den Feierabend ganz gemütlich zu Hause verbringen. Sie freute sich darauf, immerhin kam heute Abend ihre absolute Lieblings-Castingshow. Sie würde sich aus- und den Fernseher anknipsen. Und sich dazu selbst eine Tüte Paprikachips servieren.

Der Tag würde bis dahin nicht mehr sehr stressig werden. An einem Dienstag wie diesem war nicht viel los. Die Ferienzeit war gerade vorbei und dann schienen alle Deutschen ja immer für ein paar Wochen kollektiv genug vom Reisen gehabt zu haben. Es war für die Deutsche Bahn die ruhigste Zeit des Jahres. Günstig war für Daniela heute außerdem, dass sie nur für den hinteren Teil des Zuges zuständig war. Wagen 1 bis 6. Normalerweise war der Einser ja sowieso immer fast leer. Heute war das zwar irgendwie anders, denn ausgerechnet er, der momentan letzte Wagen vor der hinteren Lok, war recht ordentlich gefüllt, dafür waren aber die anderen fünf kaum besetzt.

Daniela stempelte sich routiniert durch die Waggons. In Wagen 2 versuchte ein Fahrgast, sie in eine Diskussion zu verwickeln. Aber auf so etwas ließ sie sich ja schon seit Ewigkeiten nicht mehr ein. Er hatte schließlich seine Bahncard vergessen. Selbst schuld. Musste er eben nachzahlen. Das war nicht ihr Problem. Anfangs war es ihr schwergefallen, ständig den Missmut einiger Fahrgäste zu schultern. Aber irgendwann war ihr Fell ganz automatisch dick genug geworden, und seither scherte sie sich nicht mehr um die Befindlichkeiten der Unausgeglichenen und Dünnhäutigen. Daniela hatte sich verändert. Sie war irgendwie eine andere geworden, aber sie vermisste ihr altes Ich eben auch nicht sonderlich. Routine ist viel besser, als sich ständig zu viele Gedanken über unwichtige Kleinigkeiten machen, dachte sie.

Als sie endlich Wagen 1 erreichte, seufzte Daniela leise. Jetzt noch die letzten Abteile kontrollieren, dann würde sie ein kurzes Päuschen machen können. Sie schob die Tür zu dem vorletzten Abteil auf.

„Guten Tag, Ihre Fahrkarten bitte“, sagte sie mit fester Stimme.

Die vier Fahrgäste zupften synchron ihre Tickets hervor und zeigten sie nacheinander, demütig und pflichtbewusst wie ein katholischer Kinderchor. Routine. Für Daniela ein Moment wie zehntausend andere.

„Danke sehr, gute Fahrt weiterhin.“

Das letzte Abteil. Sie schob die Tür auf.

„Guten Tag, Ihre Fahrkarten bitte.“

Auch in diesem Abteil waren vier Fahrgäste. Ein älteres Ehepaar, eine junge, auffallend hübsche und doch irgendwie übertrieben aufgetakelte Blondine und ein grau melierter Endvierziger in Hut und Mantel. Der Platz direkt vorn rechts und der Fensterplatz hinten links, neben diesem Herrn, waren frei.

Die hübsche junge Frau nahm ihr Ticket aus ihrer Handtasche und reichte es Daniela zügig, ohne dabei den Blick von ihrem Modemagazin zu nehmen. Bei dem älteren Ehepaar war es nicht so einfach. Der Mann durchsuchte ganz hektisch seine Taschen, konnte die Fahrkarten aber nicht gleich finden und wurde sekündlich nervöser.

„Einen Moment noch ...“, sagte er und griff zum dritten Mal vergeblich in die Innentasche seines grauen Sakkos.

„Natürlich“, sagte Daniela.

Innerlich zählte sie bis zwanzig, um die Aggression im Zaum zu halten, die sie gelegentlich überkam, wenn sie ungeduldig wurde. Er würde die Karten schon gleich finden. Solche Leute fuhren nie schwarz.

„Was is denn nu, Rolf?“, sagte die Ehefrau des Suchenden vorwurfsvoll. „Du hast sie doch vorhin da eingesteckt, da in deine Innentasche, das hab ich doch gesehen.“

„ Ja, aber da sind sie ja scheinbar nicht“, sagte der Mann nervös und unterwürfig. Dann startete er die Suche von vorn, noch mal alle Taschen.

„Ro-holf, nu mach doch, du hältst ja den ganzen Verkehr auf ...“

„ Ja, gleich, gleich ...“

„In der Innentasche hab ich doch gesagt!“, insistierte die Frau.

„Aber da hab ich doch schon dreimal gekuckt!“

„ Ja, dann kuck eben noch mal!“

Die hübsche junge Frau schaute kurz von ihrem Modemagazin auf und verdrehte leicht die Augen. Der Herr in Hut und Mantel war sehr viel geduldiger und schaute mit freundlichem Blick und einem Lächeln aus dem Fenster.

„Da! Ich hab sie!“, schoss es plötzlich aus dem älteren Mann hervor.

Er hatte die Tickets am Ende gefunden. Sie waren tatsächlich in der Innentasche gewesen.

„Siehst du, Rolf ... und wo waren sie nun?“, herrschte die Frau ihn triumphierend an.

„Du hattest recht, Herthaschätzchen. Wie immer.“

„Natürlich“, sagte sie. Dann bestand sie darauf, dass ihre letzte Frage beantwortet würde: „Und wo waren sie nun also?“

Der Mann lachte verlegen und gedemütigt.

„In der Innentasche, Schätzchen. Ganz genau, wie du gesagt hast.“

Die Frau wandte sich ab und schaute so zufrieden und selbstgefällig aus dem Fenster, als hätte sie gerade einen Preis für ihr Lebenswerk als Diktatorin eines kleinen afrikanischen Staates verliehen bekommen.

Daniela Kurtz wandte sich nun dem Herrn in Hut und Mantel zu. Er hatte die ganze Zeit nicht aufgehört, freundlich zu lächeln. Sein Gebaren und seine Gesichtszüge waren die eines Gentleman.

„Und Ihre Fahrkarte bitte?“

Er hatte sie bereits in der Hand und reichte sie ihr.

„Das sind die Karten für uns beide hier“, sagte er, weiter freundlich lächelnd.

Daniela verstand nicht.

„Für Sie beide?“

„ Ja, ganz recht“, sagte der Mann, „für mich und für Herrn Meier.“

Dabei machte er eine Kopfbewegung in Richtung des freien Fensterplatzes neben sich.

„Oh, ich verstehe“, sagte Daniela. „Ist Ihr Mitfahrer gerade auf der Toilette oder im Bistrowagen?“

Er schaute sie etwas irritiert an.

„Äh, nein, wieso?“, fragte er mild und lächelte dabei unbeirrt.

„Nur damit ich weiß, dass seine Karte schon abgestempelt ist, wenn ich ihn sehe“, sagte Daniela.

„Aber, ich verstehe nicht?“, antwortete der Fahrgast. Und dann sagte er etwas, mit dem weder Daniela noch die anderen Fahrgäste des Abteils gerechnet hatten.

 

„Er sitzt doch hier.“ Dabei zeigte er verwundert auf den leeren Platz. Dann schaute er Daniela an, als bräuchte sie eine Brille.

„Wie meinen Sie das?“, fragte sie.

Der Mann lachte. „Die Frage verstehe ich nicht. Darf ich vorstellen, das ist Herr Meier. Mein Name ist übrigens Bergmann. Richard Bergmann.“

Er streckte seine Hand nach ihrer aus und fügte höflich hinzu: „Und wie ist Ihrer, wenn ich mir die Frage erlauben darf?“

Daniela Kurtz war ebenso irritiert wie die anderen Fahrgäste. Die hübsche Blondine hatte den Blick erneut kurz von ihrem Magazin gehoben, um Herrn Bergmann einen kurzen und verächtlichen Seitenblick zuzuwerfen. Hertha und ihr Rolf staunten ebenfalls nicht schlecht.

Hertha vergaß sogar für eine Weile, ihren Mund zu schließen.

„Ich ... also“, zögerte Daniela. Dann fasste sie sich. Eigentlich fand sie es ja gar nicht weiter schlimm, sich vorzustellen, da sie ja sowieso ein Namensschild trug, das jeder sehen konnte.

Sie nahm seine ausgestreckte Hand.

„Kurtz. Guten Tag.“

„Das ist aber ein schöner Name, Frau Kurtz“, sagte der merkwürdige Fahrgast und lächelte weiter nett. Er schaute auf ihr Namensschild. „Mit Tezett, ja? Wirklich ein schöner Name ... ungewöhnlich, oder?“

Dann wandte er sich zu dem leeren Fensterplatz um, und gleich darauf wieder zu Daniela.

„Herr Meier, das ist Frau Kurtz. Frau Kurtz, darf ich Ihnen Herrn Meier vorstellen? Wir reisen immer zusammen, Herr Meier und ich.“

Bergmann lachte fröhlich.

Die junge hübsche Frau beugte sich ganz leicht vor, um den leeren Fensterplatz besser sehen zu können und sich so zu vergewissern, dass sie keinen Knick in der Linse hatte. Nein, da saß nun wirklich niemand. Dann lehnte sie sich wieder zurück und seufzte leise, was eigentlich keinen anderen Schluss zuließ, als dass sie Herrn Bergmann soeben in ihrem persönlichen Spinnerarchiv abgeheftet hatte.

Herthas armer Mann Rolf schaute Herrn Bergmann mitleidig an. Hertha selbst blickte derweil mit versteinertem Gesicht aus dem Fenster und signalisierte so dem ganzen Abteil, dass sie mit einem solchen Verrückten nichts zu tun haben wollte.

„Herr Meier hat ein kleines Nickerchen gemacht. Er ist gleich eingeschlafen, ganz kurz, nachdem wir in Hamburg-Dammtor eingestiegen sind. Und er ist jetzt gerade erst wieder aufgewacht, müssen Sie wissen“, sagte Herr Bergmann und lächelte dabei fröhlich in die Runde.

„Oh, ja, ich ... verstehe“, sagte Daniela und versuchte angestrengt, sich an die Lektionen in ihrer kurzen Anlernphase zu erinnern, in denen es um psychisch auffällige Fahrgäste ging. Aber sie erinnerte sich nicht so recht und beschloss, das Ganze einfach auf sich beruhen zu lassen.

„ Ja, also dann ... wünsche ich Ihnen allen noch eine gute Fahrt.“

Daniela wollte gerade die Abteiltür wieder schließen.

„Ähm, Verzeihung, eine Sekunde noch bitte, Frau Kurtz“, sagte Herr Bergmann und drehte sich zu Herrn Meier um, der natürlich immer noch nicht wirklich da war.

„Oh, meinst du wirklich?“, fragte er seinen unsichtbaren Mitreisenden. „Denkst du denn, das wäre richtig?“

Hertha rutschte nervös auf ihrem Sitz herum und stupste ihrem Mann mehrfach ans Bein, um ihm so klarzumachen, dass er gefälligst irgendetwas tun und sie vor dem Irren beschützen sollte. Rolf reagierte nicht darauf.

„Herr Meier fragt, ob Sie uns vielleicht noch für eine kleine Weile das Vergnügen Ihrer wundervollen Gesellschaft machen könnten, Frau Kurtz?“

„Ich ... ja, wieso ... ich kann doch nicht ...“, brachte Daniela mühsam abwehrend heraus.

„Bitte ... nur ein paar Minuten“, sagte Herr Bergmann und fügte seinem charmanten Lächeln noch einen wahrhaft steinerweichenden Blick hinzu.

„Herr Meier und ich würden uns wirklich beide sehr freuen.“

Daniela wollte sich gerade weiter aus dieser merkwürdigen Situation herauswinden, als sie Herthas drohenden Gesichtsausdruck bemerkte. Nachdem sie mit dem Beinstupsen bei ihrem Mann keinen Erfolg gehabt hatte, warf sie nun Daniela einen verkniffenen Blick zu, der sie unmissverständlich an ihre Pflicht als Bahnangestellte mahnte, gefälligst die Sicherheit der Fahrgäste zu gewährleisten.

Daniela schaute zu Hertha, dann zu Herrn Bergmann. Sie rang sich ein Lächeln ab.

„Ich ... na gut“, willigte sie schließlich ein und wusste selbst nicht so recht warum. „Ein paar Minuten kann ich ja bleiben.“

Herr Bergmann schaute zufrieden zu Herrn Meier und lächelte Daniela anschließend charmant an. Dann stellte er sich und Herrn Meier auch den anderen Reisenden vor.

Rolf reagierte sehr freundlich.

„Rolf Griesbach, Victrol-Versicherungen, Direktor im Bezirk Nordwest, pensioniert, guten Tag, Herr Bergmann, sehr angenehm. Und das ist meine Frau Hertha. Hertha Griesbach.“

Bergmann schüttelte begeistert Griesbachs Hand und versuchte auch die von Hertha zu ergreifen, doch die hatte ihre beiden Exemplare bereits demonstrativ protestierend in der Handtasche auf ihrem Schoß versenkt.

„Es ist mir eine Ehre, Sie kennenzulernen, Frau Griesbach“, sagte Bergmann ganz unbeeindruckt, während er seine Hand zurücknahm. Dann deutete er wieder auf Herrn Meier.

„Und wie gesagt, das ist Herr Meier. Wir reisen immer zusammen. Ach, wir sind sowieso unzertrennlich, nicht wahr, Herr Meier?“

Schließlich streckte Bergmann auch der jungen Dame rechts von sich die Hand entgegen.

„Und wie ist Ihr werter Name, entzückendes Frollein?“, sagte er wieder mit dem gewinnenden Charme eines Gentleman der alten Schule.

Sein Tonfall und sein Lächeln schafften es tatsächlich, die harte Schale der jungen Frau immerhin so weit aufzuweichen, dass sie ihm ihren Namen verriet. Außer ihren Lippen bewegte sich an ihr allerdings nichts, während sie sprach.

„ Jasmin de la Roché“, sagte sie und reichte ihm hochnäsig die Hand, wie eine englische Adelige, die sich dazu herablässt, einen Lieferanten zu beachten.

„Oh, was für ein bezaubernder Name“, sagte Bergmann schwärmerisch, „ Jasmin de la Roché! Das klingt fantastisch, so edel ... und wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf ... gerade deshalb passt der Name ganz vortrefflich zu Ihnen.“

Jasmin fälschte ein Lächeln, bevor sie sich mit steinerner Miene wieder ins Studium ihres Modemagazins stürzte.

Herr Bergmann wandte sich zu Herrn Meier, als wäre er gerade schon wieder von ihm angesprochen worden.

„Oh ja, das finde ich auch. Ganz wunderbar! Oh, meinst du? Aber ich glaube, so etwas fragt man eine junge Dame nicht. Nein, wirklich nicht, das geht nicht.“

Er richtete seinen Blick nach vorn und schüttelte den Kopf.

„Tss ... also du kommst auf Ideen“, wiegelte er ab.

Jasmin schaute erneut von ihrem Magazin auf. Immerhin schien es ja bei dem, was Herr Meier da gerade wissen wollte, wohl um sie zu gehen. Auch die Griesbachs und Daniela hätten gestehen müssen, dass sie durchaus neugierig waren, wenn sie gerade jetzt jemand gefragt hätte.

Herr Bergmann wehrte derweil einen weiteren Versuch von Herrn Meier ab: „Nein, das tue ich nicht. Dann mach es doch selbst.“

Er schaute wieder nach vorn und lächelte nun schweigend Herrn und Frau Griesbach an. Dann wandte er sich zu Daniela.

„Ist das nicht herrlich? Mal einfach so dazusitzen und ein kleines Päuschen von der Arbeit machen? Es ist bestimmt furchtbar anstrengend, immer so herumzurennen, oder?“

Daniela mochte nicht antworten und lächelte nur etwas unsicher. Herr Bergmann schien es zu spüren und setzte die Konversation einfach fort:

„Haben Sie sich eigentlich jemals Gedanken darüber gemacht, dass man sich ja nicht nur physisch bewegt, wenn man mit dem Zug oder auch mit dem Auto oder mit dem Flugzeug reist, sondern dass auch die Seele dabei stets in Bewegung ist? Das ist eine große Anstrengung, wissen Sie? Immer von hier nach da, immer unterwegs. Also, ich bewundere Sie, dass Sie das so können. Meine Hochachtung, wirklich. Sie haben eine sehr tapfere Seele. Ja, wirklich. Ihre Seele hat schon viel erlebt und ist viel gereist. Sehr beeindruckend.“

Daniela wollte es nicht gleich akzeptieren, aber sie spürte, dass es ihr gut tat, was der Verrückte da gerade sagte. Oh, wie wahr das ist, dachte sie und nickte ganz vorsichtig.

„Und wissen Sie, was ich glaube, was dabei die allergrößte Anstrengung und gleichzeitig umso wertvollere Frucht ist?“, fragte Herr Bergmann in die nun höchst irritierte Runde.

„Bei all der inneren und äußeren Bewegung, diesem permanenten Stress, dem die überarbeitete Seele ausgesetzt ist, immer noch so unglaublich nett und freundlich zu den Fahrgästen zu bleiben, wie Frau Kurtz. Das ist doch phänomenal. Also wirklich!“

Es war nicht der Hauch von Spott in Bergmanns Worten. Er meinte es so, wie er es sagte. Daniela fühlte sich nun fast verpflichtet, da etwas gerade zu rücken.

„Aber, ich ...“, versuchte sie einen Widerspruch.

„Oh, nein, da gibt es kein Aber, gnädige Frau“, sagte Bergmann mild und nun wieder entwaffnend charmant. Dabei lächelte er ein solch warmes Lächeln, das in Sekunden sogar einen vereisten Schneeball geschmolzen hätte.

„Sie haben eine wirklich nette, sehr menschenfreundliche und herzerwärmende Seele, Frau Kurtz. Ich habe das gleich gemerkt, als Sie hereinkamen. Herr Meier übrigens auch, nicht wahr, Herr Meier?“

Er nickte Herrn Meier zu und schaute gleich wieder zu Daniela.

„Sehen Sie?“

Daniela wurde etwas verlegen. Auch wenn sie es so bislang nicht betrachtet hatte, aber was Herr Bergmann da sagte, war schon irgendwie die Wahrheit. Sie war ja eigentlich wirklich sehr menschenfreundlich und warmherzig. Jedenfalls gewesen. Früher irgendwann. Bevor sie sich aufgegeben und sich dieses dicke Fell angeschafft hatte, durch das schon lange niemand mehr hindurchschauen durfte.

„Sie sind bestimmt verheiratet, oder, Frau Kurtz?“, fragte Herr Bergmann nun interessiert und ganz beiläufig, als wäre es nicht die Spur einer Grenzüberschreitung.

„Ich ... äh, ja“, sagte Daniela.

„Oh, das haben wir ja gleich gesehen, nicht wahr, Herr Meier? Herr Meier hat sogar vorhin gesagt, das war nämlich, als Sie hereingekommen sind und mit so einer Engelsgeduld gewartet haben, bis der arme Herr Griesbach seine Fahrkarten gefunden hat. Also, da hat Herr Meier gleich gesagt, dass Ihr Mann ein wahrer Glückspilz ist, dass er eine Frau mit so einem wunderschönen Wesen als Gattin bekommen hat.“

Daniela errötete etwas. So etwas Nettes hatte sie schon lange nicht mehr gehört. Eigentlich hatte sie so etwas Nettes noch nie gehört, schon gar nicht von Thorsten selbst.

„Sie sind überhaupt sehr schön“, setzte Bergmann dem Ganzen nun noch die Krone auf. Daniela schaute instinktiv für einen kurzen Moment hinaus auf den Gang, um zu verbergen, dass sie ganz rot wurde.

„Herr Meier sagt, dass Ihre innere Schönheit so sehr nach außen strahlt, dass es das reine Vergnügen ist, Sie anzusehen. Ich habe ihm gesagt, dass man so etwas einer Dame, die man nicht gut kennt, nicht einfach so aus heiterem Himmel sagt, aber er hat darauf bestanden. So ist er manchmal, der Herr Meier.“

Er lachte und schaute in die Runde. Natürlich lachte niemand mit.

Bis auf Daniela, die weiter verlegen zum Gang hinausblickte, schauten sich alle Fahrgäste nur befremdet an. Sogar Jasmin de la Roché und Hertha Griesbach tauschten einen kurzen Blick miteinander, der sich nach einer Sekunde der Unentschlossenheit jedoch sofort wieder für das Genre unfreundliche Härte entschied. Hertha schaute daraufhin wieder aus dem Fenster. Ihre Hände hielt sie weiter in den Untiefen ihrer Handtasche versteckt. Und sie zuckte leicht zusammen, als Herr Bergmann nun auch sie ansprach.

„Und an Ihnen, Gnädigste, wenn ich das auch so offen sagen darf, bewundere ich Ihr Durchsetzungsvermögen und Ihre kraftvolle, selbstbewusste Entschlossenheit. Ohne diese wunderbaren Charaktereigenschaften wären Sie und Ihr werter Gatte ganz sicher nicht so hoch hinausgekommen. Die Gattin des Direktors Bezirk Nordwest. Alle Achtung.“

Rolf Griesbach freute sich darüber, dass Bergmann etwas Nettes über seinen Posten und seine Hertha äußerte, auch wenn er sich sogleich fragte, ob das, was er da über ihren Charakter sagte, nicht totaler Unsinn war. Hertha Griesbach verzog vorsichtshalber keine Miene. Sie schaute aus dem Fenster und übte weiter die Rolle der distanzierten und latent beleidigten Leberwurst. Bergmann aber fuhr unbeeindruckt fort.

 

„Herr Meier findet das übrigens auch. Und er hat mich gebeten, Sie zu fragen, woher Sie ursprünglich stammen? Würden Sie uns die Ehre erweisen, es uns zu verraten?“

Hertha starrte tapfer hinaus, auf die letzten Meter des leeren und verregneten Osnabrücker Bahnsteigs, den der EC 306 gerade hinter sich ließ. Jetzt wurde sie allerdings angestupst. Ihr Mann stupste dabei nicht genauso, wie sie es vorher getan hatte, also nicht fordernd, sondern ermutigend. Fast wie ein Bruder, der seine kleine, schüchterne Schwester anspornt, doch endlich auch mal wenigstens eine Runde Topfschlagen mitzuspielen. Aber Hertha zog es vor, in ihrer Blümchen-rühr-mich-nicht-an-Rolle zu verharren.

Herr Griesbach lächelte freundlich und übernahm die Antwort, die seine Frau nicht geben mochte.

„Hertha kommt aus Berlin.“

Jetzt lachte er geradeheraus und schien sich diebisch zu freuen.

„Hihi ... wissen Sie, wie ulkig das ist? Hertha aus Berlin? Hihi.. Sie verstehen ... ich und mein Freund Dieter, wir haben Hertha damit früher immer aufgezogen, als ... haha ... die Hertha aus Berlin ... hach, war das immer ulkig ...“

Herthas Kopf schnellte herum.

„Das ist nicht witzig, Rolf!“, fauchte sie.

Herr Griesbach zuckte zusammen, als hätte ihm gerade ein tollwütiger Dackel in die Wade gebissen. „Oh, natürlich nicht, entschuldige, Herthaschätzchen, entschuldige .. .“

„Oh, das war bestimmt schön früher, oder? Sie haben gewiss sehr viel zusammen gelacht?“, sagte Herr Bergmann und ignorierte damit vollkommen die massiv drohende Ehekrise.

„Humor ist sicher ein sehr, sehr wichtiger Baustein für eine solche Karriere gewesen, wie Sie sie gemacht haben, oder Herr Griesbach? Oh ja, das gibt Kraft, wenn man zusammen lachen kann, nicht wahr? Hm, und Berlin. Eine tolle Stadt. Es passt vortrefflich zu Ihnen, Gnädigste, dass Sie aus einer Weltstadt wie Berlin kommen.“

Rolf Griesbach schaute kurz zu seiner schweigenden Hertha, dann schüttelte er den bissigen Dackel ab und lächelte wieder.

„Oh ja, Herr Bergmann, das ist richtig. Wir hatten viel Freude damals, Hertha und ich. Das waren schöne Zeiten! Eigentlich die schönsten überhaupt ... und nun können wir auf ein erfülltes Leben zurückblicken. Ich habe es immerhin bis zum Direktor gebracht, wie Sie wissen, ja, der ganze Bezirk Nordwest! Und aus den Kindern ist auch etwas geworden. Ich zeige Ihnen mal die Fotos. Eine Sekunde.“

Griesbach begann nun wieder, in seinen Jackentaschen herumzuwühlen und fand wieder nicht gleich, was er suchte.

„Sekunde noch ... hab sie gleich ...“

Nun meldete sich auch Hertha wieder zu Wort.

„Die Fotos sind in ...“

„Oh, in der Innentasche, Herthaschätzchen?“, hakte Griesbach schnell nach, während er sogleich dorthin griff und weiterwühlte.

„Nein, in meiner Handtasche“, sagte Hertha schroff.

„Oh, zeig sie doch mal Herrn Bergmann, Herthaschätzchen ...“

Hertha verzog mürrisch die Mundwinkel. Dann gab sie nach und holte die Fotos mitsamt ihren Händen hervor.

„Bitte sehr“, sagte sie schnippisch und reichte Herrn Bergmann die Bilder. Herr Griesbach beugte sich zu Bergmann und stellte ihm seine Familie vor:

„Das da, das ist Fabian, unser Ältester, mit seiner Frau Hannelore. Und das hier ist unsere Silke, mit ihrem Mann Florian und den beiden Kindern. Süß die beiden, nicht wahr? Wir sind schon Großeltern, müssen Sie wissen ... hihi.“

Herr Griesbach erfüllte es ganz offensichtlich mit Stolz, Herrn Bergmann seine geliebten Kinder auf diese Weise vorzustellen. Der wiederum zeigte die Bilder nun auch Herrn Meier.

„Sieh doch nur, wie glücklich diese Enkelkinder aussehen. Und ... oh ... das sind ja ...“

Er hielt inne, hob seinen Blick und schaute Hertha an.

„Diese Augen. Ihre Tochter hat ja Ihre Augen. Die gleiche furchtlose Entschlossenheit und diese, lassen Sie es mich ruhig so unverblümt sagen, diese ... anmutige Autorität. Das ist wirklich fabelhaft!“

Hertha ließ sich nun dazu herab, wenigstens einmal zu Herrn Bergmann rüberzusehen. Der schaute ihr jetzt noch etwas tiefer in die Augen.

„Sie haben herrliche Augen, Frau Griesbach. Man kann darin direkt sehen, wie viel Humor und wilde Lebenslust in Ihnen steckt ... und da ist noch etwas ...“

Bergmann kniff nun beim genauen Betrachten von Herthas Augen konzentriert seine Lider zusammen, so als würde es ihm die Möglichkeit bieten, tatsächlich noch etwas anderes als die Wut und die Zickigkeit darin zu entdecken, die alle anderen Anwesenden auch sehen konnten.

Hertha schaffte es nicht, ihren Blick abzuwenden. Sie verstand nicht warum, aber irgendwie war sie gerade auf faszinierende, nicht unangenehme Weise wie gelähmt.

„Was denn?“, sagte sie plötzlich, ungewohnt mild und leise.

Bergmann betrachtete weiter ganz ergriffen ihre Augen. Bis Herr Meier ihn ansprach und ihn aus seiner offensichtlichen Ehrerbietungsstarre weckte.

„ Ja, das ist es ... das ist das richtige Wort ... danke ...“, lobte er seinen unsichtbaren Mitreisenden.

Hertha schaute ihn weiter an und wartete gespannt auf das Wort, das Herr Meier soeben souffliert hatte.

„Vergebung“, sagte Bergmann und schüttelte dabei staunend den Kopf. „Das ist ja wirklich ganz erstaunlich“, fuhr er leise und ergriffen fort.

Hertha konnte nicht antworten. Allen anderen war ebenfalls kurzzeitig nicht nur die Lust zu reden, sondern sogar das gedankliche Mitkommen vergangen. Was meinte Bergmann denn damit? Vergebung?

Er führte den Gedanken sogleich aus.

„Wissen Sie, Frau Griesbach ... es ist etwas so Erbauliches und Wundervolles, wenn man jemanden trifft, der die innere Stärke aufgebracht hat, seinem eigenen Leben zu vergeben. Sich selbst, den anderen ... es ist wirklich ... ach, wundervoll ... ja, natürlich, das Leben ist ja so verdammt schwierig und man muss auch viel einstecken ... aber über den stacheligen Weg der inneren Vergebung schließlich die Gefahr der eigenen Hartherzigkeit abzuwenden und so mit Liebe und Verständnis auf alles reagieren zu können, auch auf die Schwächen der Menschen, die einen umgeben ... das ist wirklich fabelhaft ... das ist wahre Stärke. Und es ist immer wie ein wirkliches Wunder, so einen Menschen zu treffen, dem das gelungen ist ... Frau Griesbach ... und Sie sind so ein Mensch ... Sie haben ein so gutes Herz ... man kann es regelrecht sehen, wenn man nur in Ihre Augen schaut ... was für ein Lebenswerk Sie da vollbracht haben ... es ist bewundernswert ...“

Bergmann stoppte seinen Satz recht abrupt und wandte sich wieder an Herrn Meier.

„ Ja, du hast ganz recht gehabt. Du bist wirklich ein guter Beobachter, also: alle Achtung!“

Nun schien wieder Herr Meier zu sprechen, denn Herr Bergmann hörte offensichtlich sehr interessiert zu und nickte heftig.

„ Ja, natürlich. Nein, wir fahren ja bis Mainz. Nein, Mainz. Ja, Köln kommt vorher, knapp zwei Stunden. Ja, nein, jetzt kommt Dortmund, wieso? Ach so, nein, darüber mach dir mal keine Sorgen. Nein, überhaupt nicht. Erst in Mainz.“

Die anderen Reisenden vermieden es dabei, sich gegenseitig anzusehen, so wie sie es vorher getan hatten. Jeder schaute irgendwohin, wo ihm keine durch eigene Blicke signalisierte Stellungnahme abzuringen war.

Daniela schaute mit gespielter Teilnahmslosigkeit auf den Gang hinaus, Jasmin starrte unverdrossen in ihr Modemagazin und Herr und Frau Griesbach blickten zum Fenster hinaus, wo die vorbeifliegenden Felder und Wiesen der letzten Stunden gerade von einem unwirtlichen, graubraunen Industriegebiet abgelöst wurden.

Herr Bergmann wandte sich nun wieder an Hertha. Er lächelte.

„Wo waren wir stehen geblieben? Ach ja, Ihre Augen. Wunderschön. Sie haben auch so eine herrliche Farbe. Wie würden Sie sie nennen? Vielleicht ... smaragdfarben?“

„Ähm ... graugrün steht in meinem Personalausweis“, sagte Hertha, längst spürbar entwaffnet. Sogar der Anflug eines Lächelns huschte ihr über das Gesicht.

„Smaragdfarben trifft es aber viel, viel besser“, sagte Bergmann, nun wieder mit diesem Charme, der von seinen Stimmbändern perlte und von dort direkt in Herthas Herz tropfte.

Sie bewegte den Kopf leicht verlegen und schenkte Bergmann einen kurzen, leicht verliebten Blick.

„Sie Schmeichler, Sie ...!“

Herr Griesbach nahm in diesem Moment Herthas Hand. Teils, weil er sich aufrichtig freute, dass sie wohl doch noch menschliche Züge besaß, und teils, weil er einen Weg suchte, um auszudrücken, dass er sich auch mal wieder wünschte, von ihr auf diese Weise angesehen zu werden.

„Eine tolle Frau haben Sie, Herr Griesbach“, sagte Bergmann zu ihm und brachte so die Situation auf diese Weise sofort wieder ins Gleichgewicht. „Herzlichen Glückwunsch ... also, wirklich ...“

Der EC 306 kam quietschend am Dortmunder Hauptbahnhof zum Stehen. Daniela stand kurz auf, schaute sich im Gang um, ob vielleicht ein Kollege in der Nähe war, und nahm dann wieder Platz. Alle schauten sie an.

„Ich ... na ja, ich wollte nur mal schauen, ob alles seine Ordnung hat ...“

„Machen Sie ruhig noch ein bisschen weiter Pause, Frau Kurtz“, sagte Herr Bergmann mit dem beruhigenden Tonfall eines väterlichen Freundes. „Sie haben es sich wirklich verdient. Und es wird heute schon kein betrügerischer Schwarzfahrer dabei sein ...“

Daniela lehnte sich zurück und entspannte sich. Sie wollte tatsächlich nichts lieber, als auf diesem Platz zu bleiben. Eine so schöne Fahrt hatte sie schon lange nicht erlebt. Sie genoss es einfach. Normalerweise hätte sie natürlich ein ganz schlechtes Gewissen gehabt, aber heute war das alles irgendwie anders.

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