Schwarzmarkt Magie

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Schwarzmarkt Magie
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Jek Hyde

SCHWARZMARKT

MAGIE

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2014

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2014) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Titelfoto nach einer Skulptur von Bruno Walpoth

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

für meinen Kater,

weil ich ihn auf seinen Streifzügen durch die Nacht oder

im Morgengrauen zu den Far Lands gerne mal begleiten

würde.

„Ich weiß, dass ich nichts weiß.“

Platon

„Die einzigen Menschen, die mich interessieren, sind dieVerrückten, die verrückt leben, verrückt reden und alles auf einmal wollen, die nie gähnen oder Phrasen dreschen, sondern wie römische Lichter die ganze Nacht brennen, brennen, brennen.“

Jack Kerouac

„Freiheit ist, sich nicht entschuldigen zu müssen.“

Aus „Im Auftrag des Teufels“

INHALT

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Zitate

Prolog: Bewohner von Nirgendwo

Sex, LSD & Verwirrung auf der Raststätte

Voll porno

Micropsia

Club Blue Monday

Tunnelblick

On the Road

Angst & Schrecken in Berchtesgaden

Ein Creeper

Schon wieder Kali-Yuga

Auf nach Nirgendwo!

Freundschaft ist Kunst

44°50'49'N 13°50'01'E

Eine schwarz-weiße Welt

Epilog: Weit, weit weg

Nachwort

Schwarzmarkt Magie = Das eigentümliche Gefühl, das man nur drei Uhr nachts an einer Raststätte hat. Ähnlich wie unter dem Ladentisch gekaufte Artefakte oder Imitate von echtem Zauber. Oder das sonderbare Gefühl der Freiheit, das man nur bei einer Autofahrt in der Nacht spüren kann. Die Schwärze und das orangefarbene Licht der Laternen. Leuchtreklamen. Das Feeling, dass es weder Zukunft noch Vergangenheit gibt. Nur das Jetzt.

PROLOG

BEWOHNER VON NIRGENDWO

Alex war eine Bewohnerin von Nirgendwo. Sie kam aus dem Nirgendwo und fuhr ins Irgendwo. Als sie die ruppigen, schwarzen Silhouetten der hohen Kiefern, die sich gezackt vom phthaloblauen Nachthimmel abhoben, an ihr vorbeirauschen sah, wusste sie wieder, warum. Warum sie so lebte. Warum sie irgendwann gegen drei Uhr mutterseelenallein auf dieser langen Straße in ihrem blauen Ford Escort EXP von 1983 fuhr, der innerlich modifiziert worden war, nur die Scheinwerfer vor sich.

Es lief „A Question of Lust“ von Depeche Mode, während Alex halb hypnotisiert durch diese Nacht fuhr. Die Vergangenheit hatte sie lange hinter sich gelassen und die Zukunft kam auch ganz gut ohne sie aus. Permanentes Jetzt. Immer vorwärts. Die grün leuchtenden Armaturen. Die Scheinwerfer, die die weißen Streifen der Straße erleuchteten. Links und rechts irgendwas, bis der Kiefernwald kam. Bei der Gelegenheit bemerkte Alex, dass Kiefern vermutlich ihre Lieblingsbäume waren.

Alles bewegte sich vorbei.

Der Ford Escort EXP floss durch die Zeit.

Sie fühlte sich wie aus der Zeit geschält. Auf der Straße ins Nirgendwo. Der letzte bekannte Ort, an dem sie beschlossen hatte, für immer ins Nirgendwo zu ziehen, war die Nordsee gewesen. Jetzt war sie überall und nirgends. Nichts war bestimmt. Nur sie und ihr Wagen, der sie brummend und schnurrend umschloss, sie einkapselte wie die blaue Bohne, die dieses Geschoss in Wirklichkeit war.

Doch das alles löste sie ganz sicher nicht von irdischen Bedürfnissen. Ihre Blase meldete sich und verlangte, dass sie ihre Reise unterbrach und irgendwo an eine Kiefer in der Dunkelheit schiffte. Kurz nach dieser kleinen, organischen Unterredung endete der Wald und einige Leuchten von anderen Straßen wurden sichtbar. Auch „A Question of Lust“ endete und Alex bog in eine Ausfahrt ein, die zu einem Rastplatz mit Tankstelle führte. Auf einem der Parkplätze kam ihr Ford Escort EXP zum Stehen. Handbremse angezogen, Ganghebel geschüttelt und das Licht ausgeschaltet. Sie zog den Schlüssel aus dem Schloss und schon erstarb der Motor, ohne groß zu protestieren.

Alex öffnete die Tür und schwang einen Fuß, der in einem dunkelroten bis braunen und verdammt spitzen Cowboystiefel steckte, aus dem Wagen. Die Dinger hätten glatt als Waffen durchgehen können. Ihre dünnen, langen Beine wurden von einer Jeans umschlossen, die von einem Gürtel gehalten wurden. Das schwarze T-Shirt, das sie trug, war zu dünn für die Nacht, daher beugte sie sich noch einmal hinein und griff sich eine grün-bräunliche Kapuzenjacke von der Rückbank, bevor sie die Tür zuschmiss und abschloss.

Draußen schlug ihr sofort dieser Geruch entgegen. Der Geruch, den alle Raststätten eigen hatten. Es war ein verwegener Geruch. Der Geruch von Autos, Abgasen und Benzin gemischt mit Zigarettenqualm, dem Geruch nach Verbranntem und dem kühlen, erfrischenden Duft der Nacht. Dazu musste es erst vor Kurzem geregnet haben, denn der huckelige Asphalt unter ihren Füßen glänzte geheimnisvoll.

Alex streckte sich, steckte den Schlüssel in die Tasche ihrer Jeans und hüpfte kurz auf und ab, um wieder Blut durch die Beine zu pumpen, nachdem sie so lange im Auto gesessen hatte. Schließlich zog sie ihren braunen Pferdeschwanz fest. Das restliche Haar war gescheitelt und jeweils eine glatte, braune Strähne reichte an beiden Seiten des Gesichtes bis zum Kinn.

Alex ging auf die Lichter in der Dunkelheit zu. Neben sich hatte sie nur die vielen Lastwagen, stille Kolosse. Titanen aus Metall, die von Regentropfen glänzten. Alle hatten sie die gleiche dunkle, undefinierbare Farbe bei Nacht. Der Rest der Kulisse wurde von dem Lärm der Autos und den verschiedenen Sprachen der Menschen bestimmt.

Als sie auf die hellen Lichter der Tankstelle zuging, hatte sie den aufdringlichen Benzingeruch in der Nase. An Autos und Leuten von überall lief sie vorbei. Schließlich tauchte sie in das Licht der Tankstelle ein, deren Glastür sich bereitwillig aufschob, um einen weiteren ermüdeten Nomaden der Neuzeit zu empfangen.

Vor ihr spaltete sich alles in helle Regale voller Knusperproviant, Zeitungen und Firlefanz und die eine oder andere Kühltruhe auf. Alex reckte den Hals und erkannte gleich ganz hinten rechts ein Schild mit dem einladenden Aufdruck: WC. Schnurstracks stiefelte sie dorthin und stand wie immer vor der Wahl der Toiletten. Sollte sie zu den Männern gehen, sich an die Pissoire stellen und beobachten, wie man sie mit großen Augen anstarrte? Oder sollte sie sich lieber in einer Kabine im Frauen-WC verkriechen? Sie entschied sich für das klischeehafte Männlein mit Kleid. Lustigerweise war keine der Frauen, an denen sie vorbeiging, in ein Kleid oder einen Rock gehüllt, sondern alle in Hosen.

Alex riss die Tür der mittleren Kabine auf, der einzigen, die unbesetzt war, und ließ sie zuschnappen. Sie hatte das Gefühl, dass sich die gesamte Pisse in ihrer Blase inzwischen zu Urinsteinen kristallisiert hatte. Kurz: Alex riss den Deckel samt Brille hoch, zog den Reißverschluss hinunter, wühlte nach ihrem Glied und zog das momentan verschlafene Ding hinaus und die Vorhaut etwas zurück, um nicht auf den Rand zu pinkeln. Der Strahl brannte in ihrer Harnröhre, als sie es endlich schaffte, das Getränk, das etliche Kilometer hinter ihr lag, hier in die Schüssel zu feuern.

Das Einzige, was an ihr Jahre und Trillionen Kilometer zurückliegendes weibliches Geschlechtsorgan erinnerte, war eine winzige, dünne Narbe, die sich rechts an ihrem Penis vorbeiwand.

Als Alex sich endlich um eine Tonne leichter fühlte und ihr Körper sich entspannte, schüttelte sie die letzten Tropfen ab und stopfte ihn zurück in die Hose. Sie zog den Reißverschluss hoch und den Gürtel fest und drückte den silbernen, abgegriffenen Spülknopf, der aus der gefliesten Wand ragte. Sprudelnde Fluten reinigten das Gewässer. Alex ließ die Tür wieder aufschnappen und verließ die Kabine. Davor stand bereits eine wartende Frau mit dunklem, lockigem Haar und kupferner Haut. Sie unterstrich ihre garstige Ungeduld, indem sie die Arme verschränkt hielt, sich auf das linke Bein stützte und das rechte leicht ausstreckte. Alex nickte ihr grüßend zu und verließ zufrieden die Kabine. Sie bemerkte gerade noch, wie die Frau fragend eine Braue hochzog, als sie die aufgeklappte Klobrille bemerkte.

 

Alex schwebte zum Waschbecken, wo sie per Knopfdruck eine weiche, schaumige Seife empfing und sich die Hände wusch, während eine Frau ihre fulminante Frisur sortierte. Sie schien sehr verärgert, dabei konnte Alex kein einziges Haar ausmachen, das den Gesamteindruck hätte trüben können.

Nun, da das eine Bedürfnis nach Ventilöffnung befriedigt war, meldete sich das nächste Organ zu Wort. Es war der Magen mit seiner Lieblingsbotschaft: „Hunger“, oder besser: „Appetit“, was übersetzt bedeutete: „ZUCKER!“ Damit das verflixte Ding endlich die Klappe hielt und ihr ermüdetes, unterzuckertes Gehirn, das inzwischen auf Sparflamme lief, endlich Ruhe gab, schlängelte sich Alex durch die Regale zur Theke vor, wo neben sauber aufgereihten Armadas an Kaugummis, Kippen und Süßkram auch ihr Objekt der Begierde in einem mehrstöckigen Kasten aus durchsichtigem Plastik ruhte: der Donut. Der dicke Trucker vor ihr zog Leine und Alex tippte mit dem langen Zeigefinger gegen die Trennwand und deutete auf den Donut. „Der hier, bitte“, sagte sie.

Die ausnehmend hübsche Kassiererin, deren blonder, katzenäugiger Anblick dafür sorgte, dass ein ganz anderer Teil von Alex wieder mit frischem Blut versorgt wurde, nahm mit einer silbernen Wurstzange den Streusel-Donut aus der Vitrine, ließ ihn in eine Papiertüte fallen und verlangte sechs Euro dafür. Alex hoffte, dass es der beste Donut der Welt sein würde, und zog ihr altes Portmonee aus schwarzem Leder hervor, um mit einem der neuen Fünf-Euro-Scheine, die an Spielgeld erinnerten, und einer einzelnen Euromünze mit Da Vincis vitruvianischem Menschen auf der Rückseite zu bezahlen.

Die Transaktion war getätigt und Alex ging hinaus in die kühle Nacht. Sie zog ihr Samsung aus der Tasche, um die schlanken weißen Ziffern zu betrachten, die ihr verrieten, dass es gerade drei Uhr irgendwas in der Nacht war, und zwar an einer Raststätte mitten im Nirgendwo, wo sie gerade im Begriff war, einen Donut mit Streuseln zu essen. Das Samsung wanderte zurück in die Jacke und sie krempelte das Papier der Tüte um, um sich nicht die Hände zu beschmieren, während sie in das weiche, zuckerdurchsetzte Ding biss. Als ihre Zunge den Geschmack der luftigen Backware wahrnahm, musste Alex feststellen, dass es tatsächlich der beste Donut war, den sie je gegessen hatte.

Sie schaute in die kühle, angenehme Nacht hinaus. Ringsherum undurchdringliche Schwärze, nasser, schimmernder Boden und feuchte, glänzende Fahrzeuge, dazu der Dampf der Fahrzeuge, die Stimmen der Leute und das Rauschen des Verkehrs, der wie Blutplättchen durch die Straßen schoss. Einzelne Lichter, die die Nacht durchbrachen. Alex fühlte sich plötzlich so verdammt lebendig.

Sie schob sich den Rest des Donuts ins Maul, zerknüllte die Tüte und ließ sie neben sich auf den Boden fallen wie jeder anständige Raststättennomade. Donuts schmecken gegen drei Uhr und auf irgendeiner Raststätte immer am besten, das ist ein verdammtes Naturgesetz, ging es Alex durch das mit Zucker versorgte Hirn.

Die Intersexuelle steuerte auf ihren Ford Escort EXP zu, öffnete das Gefährt und klemmte sich hinter das Lenkrad. Sie nahm einen Schluck aus der offenen, langsam schal werdenden Wasserflasche, die im Fußbereich des Beifahrersitzes herumkullerte, und startete den Motor, nachdem sie den Duft der Raststätte mit der soliden Tür abgeschnitten hatte. Die Lichter flammten auf. Die Anzeigen ließen ihre Zeiger zurückfallen. Alex rammte den Gang ein, legte die Handbremse flach und die Reise nach Nirgendwo konnte weitergehen …

SEX, LSD & VERWIRRUNG
AUF DER RASTSTÄTTE

Im Radio lief „The Next Day“ von David Bowie. Alex sah sie sofort, als sie gerade zu den Parkplätzen einlenkte. Es war Lilli, die auf der Lehne einer Parkbank saß, mit einer weißen Schachtel in der Hand, aus der sie gebratene chinesische Nudeln mit zwei schief abgebrochenen Holzstäbchen fischte.

Sie ist es und gleich ist sie es auch nicht, dachte Alex, während sie Lilli einen Moment im Rückspiegel beobachtete. Sie fuhr durch die langen Schneisen an Parkplätzen, die sich links neben der sehr groß ausfallenden Raststätte befanden, scherte in eine Parknische ein und stellte den Motor ab. David Bowie beschloss, Ruhe zu geben.

Es war ein recht kühler Tag, dessen Himmel weiß und wie glatt gestrichen war. Der Parkplatz war nicht voll, sondern lückenhaft. Außerhalb der Parkreihen, auf einem größeren asphaltierten Platz, reihten sich Lkws und Wohnmobile aneinander. An einem recht alten Wohnmobil konnte Alex einige Neuzeitzigeuner in lumpigen Wohlfahrtsklamotten und auch den einen oder anderen Zwerg ausmachen. An einem Maschendrahtzaun, der den halben Rastplatz umschloss und an den Kiefernwald grenzte, fraß ein merkwürdig missgestalteter Rabe etwas, das durchaus Erbrochenes sein konnte.

Alex griff auf die Rückbank, nahm ihre schwarze Fliegerjacke mit dem übertriebenen weißen Fellkragen an sich und stieg aus. Ihr Atem flog in kleinen Wölkchen davon, während sie die Tür abschloss und die Reihe entlang auf das große Raststättengebäude zuging. Dabei kam sie an einem vergitterten Brunnen vorbei, der von matten, grauen Pflastersteinen in Knochenform umgeben war. Wer wollte schon, dass irgendwo ein halb mongoloider Quälgeist hineinstürzte und jämmerlich ersoff? Sie lief weiter an dem großen Raststättengebäude vorbei zur Parkbank, auf der noch immer Lilli saß und die letzten Nudeln aus der Packung fischte.

Eigentlich war es verrückt, wie sie Lilli unter diesen Bedingungen überhaupt hatte erkennen können. Sie trug schwarze Kleidung, hatte eine schwarze Strickmütze auf dem Kopf und langes, rotes Haar, das nicht zu ihr gehörte. Alex blieb stehen und da sie im Gegensatz zum Wetter recht gut drauf war, sang sie: „Vor der Kaserne, vor dem großen Tor, stand eine Laterne und steht sie noch davor. So woll’n wir uns da wiederseh’n, bei der Laterne woll’n wir steh’n, wie einst, Lili Marleen.“

Lilli sah auf. „Verdammt, was machst du denn hier?“, fragte sie, sprang von der Parkbank und schnappte sich ihre schwarze Laptoptasche. Zur Begrüßung umarmten sie sich, während Lilli zischte: „Ich hasse dieses Scheißlied.“

„Ich weiß“, meinte Alex. „Seit wann lässt du dir rote Haare stehen?“

Lilli sah sie einen Augenblick lang fragend an, bis sie sich ihrer Frisur entsann. „Ach, das? Halt mal.“ Lilli drückte Alex die Tasche und den Nudelkarton in die Hände und zog sich die Mütze und die rote Perücke vom Kopf. Zum Vorschein kamen ihre üblichen schwarzen, kinnlangen Haare, die Alex kannte und liebte. Lilli nahm die Tasche wieder entgegen und stopfte die rote Perücke und die Mütze hinein.

Alex musste lächeln. Lilli war eine der wenigen, die einfach immer dieselben blieben, mit all ihren Vorteilen, die von Fehlern kaum zu unterscheiden waren. Zumindest fiel es ihr ungeheuer schwer, etwas anderes zu glauben, wenn sie die dürre Lilli vor sich stehen sah, wie sie auf ihrem Zungenpiercing herumkaute und mit dem Ring in der Mitte der Unterlippe spielte.

„Gehen wir was essen“, schlug Alex vor.

„Habe ich schon“, schickte Lilli zurück und hob den leeren Nudelkarton, in dem die ungleichen Holzstäbchen, die sie ungeduldig falsch auseinandergebrochen hatte, herumkullerten.

„Ich aber noch nicht. Komm, wir gehen.“

Lilli folgte ihr durch die automatischen Glastüren mit den hohen Fenstern daneben, die kaum von denen in Supermärkten zu unterscheiden waren. Drinnen wirkte die Raststätte mit den cremefarbenen Fliesen auf dem Boden und der großen Topfpflanze in der Mitte noch mehr wie ein Kaufhaus. Rechts befand sich ein Burger King, dahinter eine Kalte-Buffet-Bude und auf der anderen Seite hinkelsteinähnliche Krimskramsbuden.

„Ich habe schon was gegessen“, meinte Lilli erneut und warf den Nudelkarton in einen zylindrischen, silbernen Mülleimer hinein.

„Du musst ja nichts essen, aber ich hab seit Stunden nichts mehr zu essen bekommen. Meine letzte Mahlzeit war ein Donut gegen drei Uhr nachts.“ Sie zerrte Lilli mit sich in den Burger King. Mit den Worten: „Such uns einen Platz“, ließ sie Lilli los und ordnete sich in die kleine Schlange vor dem Tresen ein. Lilli schob sich auf eine mit rotem Leder bezogene Sitzbank und betrachtete Alex, während sie anstand. Als diese nach der unverhältnismäßig langen Wartezeit für eine so kleine Schlange an der Reihe war, bestellte sie einen Big King XXL, Fritten und eine große Coke. Das alles trug sie auf einem ebenfalls roten Plastiktablett zu Lilli hinüber, die sie in der Sitznische ausgemacht hatte. Sie schob sich hinein, stellte das Tablett auf den Tisch und zog ihre Fliegerjacke aus, die sie hinter sich rutschen ließ, während sie gierig damit begann, ihren Burger auszupacken und die Fritten sowie Ketschup an dem richtigen Platz zu drapieren.

„Was machst du eigentlich an einer Raststätte nahe Österreich? Und noch wichtiger: Warum trägst du eine Perücke?“

Lilli umklammerte ihre Laptoptasche, in der sich ganz sicher kein solches Gerät befand, sondern irgendetwas anderes. „Hast du das Hotel da drüben gesehen?“

„Ja, was ist damit?“ Alex biss ein Stück aus dem Burger.

„Wir sollten heute dort pennen.“

„Genau das war meine zweite Frage an dich: Wenn ich hier fertig gegessen habe, wollen wir dann rüber ins Hotel gehen und die Puppen tanzen lassen?“ Sie biss noch ein Stück heraus, kaute es, nahm einen Schluck von der Coke und stopfte ein paar Fritten hinterher. Als sie den ganzen Matsch heruntergeschluckt hatte, den ihr Magen jauchzend und frohlockend entgegennahm, sah sie zu Lilli herüber, die ihre Tasche ungewöhnlich fest umklammert hielt.

„Ich muss dir nachher was zeigen“, meinte Lilli mit einer gewissen kindlichen Vorfreude, die ihr eigen war, seit Alex sie kannte.

Nicht nur von dem Geschmack des Burgers, der Fritten und der Coke nach dieser langen, beinahe einschläfernd ereignislosen Fahrt kribbelte alles in Alex, wenn sie an Lilli und das dachte, was die beiden anstellen würden.

„Was machst du eigentlich die ganze Zeit?“, fragte Lilli.

„Wie meinst du das?“, nuschelte Alex, den Mund voll zerkautem Burger, den sie sogleich mit der mit kalten Eiswürfeln versehenen Coke herunterspülte.

„Na ja, du sagtest, du bist die ganze Zeit herumgefahren. Wie lebt man so?“

„Sagt gerade die Richtige“, meinte Alex, deutete mit einer knusprigen, salzigen Fritte auf Lilli und stopfte sie sich anschließend in den Mund. „Du bist auch mal hier, mal dort. Was uns zu meiner Frage zurückführt, warum ich dich hier auf der Schnittkante von Deutschland und Österreich mit eine roten Perücke treffe.“

„Äh … Das Ganze hat in Berlin angefangen. Ich war bei ein paar Kumpels.“

„Wo hast du eigentlich keine Kumpels?“

Lilli tat es mit einem Schulterzucken ab. „Jedenfalls war dieser Kumpel, Streuner, nicht mehr in der WG, wo ich ihn erwartet hatte. Ich hockte mich also auf den Alex, um ihn zu finden. Doch er war auch da nicht, also bin ich durch halb Berlin geeiert, bis ich auf einer Toilette im Bahnhof Zoo pissen war. Und was wartete da auf dem Klodeckel in einem dieser Scheißhäuser auf mich?“ Grinsend und mit hochgezogenen Brauen deutete sie auf die Tasche.

„Und was war da drin?“, fragte Alex mit einem mulmigen Gefühl in der Bauchgegend, was vielleicht aber auch daran lag, dass sie viel zu schnell viel zu viel Masse hinuntergeschlungen hatte.

Lilli kaute auf ihrem Zungenpiercing herum und beugte sich vor; Alex ebenfalls, sodass Lilli ihr ins Ohr flüstern konnte: „Geld.“ Sie lehnte sich wieder zurück. Als Alex sie ansah, sagte Lilli gleich: „Ja, ist ja gut, ich kenne No Country for Old Men, da war kein Sender drin, okay, ich habe alles gecheckt. Also, ich denke mir, dass ich irgendwo dazwischengeraten bin, also krieche ich auf dem Boden rum und gucke, ob links oder rechts von mir einer in der Kabine hockt. Niemand zu Hause. Ich schaue unter der Tür durch, auch niemand auf der Toilette. Also schiebe ich die Tasche in die Nebenkabine und verlasse meine eigene möglichst unauffällig. Immer noch niemand da. Ich gehe in die Nebenkabine und hole die Tasche, ziehe meine Jacke aus und wickle die Tasche ein. Dann bin ich so schnell wie möglich aus Berlin raus. Von irgendeinem Kaff aus, irgendwas mit -mühlen, bin ich dann getrampt. Wo willst du hin?“, fragte sie ganz unvermittelt und sprunghaft.

 

„Berchtesgaden. Ich nehme an, da wolltest du auch hin?“

„Jup. Zu meiner Familie, untertauchen“, meinte sie grinsend und kaute weiter auf ihrem Zungenpiercing herum.

Alex musste den Kopf schütteln und lächelte. „Typisch Lilli. Was hast du mit dem Zeug vor?“

„Hab mir was gekauft und das will ich dir nachher zeigen, also iss auf, dann können wir losgehen.“

Alex stopfte sich den Rest des Burgers rein, kaute ihn einmal durch, stopfte die restlichen Fritten hinterher und trank den restlichen Schluck in Rekordzeit.

„Bist du fertig?“, fragte Lilli und rutschte unruhig auf ihrem Hintern herum.

„Ja, ja. Drängle mich nicht.“ Alex nahm sich das Tablett und stand auf. „Bring meine Jacke mit!“, wies sie Lilli an. Diese griff einfach über den Tisch und hängte sich die Fliegerjacke um die Schultern. Alex schob das Tablett zu seinen leer gegessenen Freunden. „Ich muss nur noch schnell meine Hände waschen“, meinte sie und hob ihre fettigen Finger.

Lilli schien das nicht schnell genug zu gehen, sie schnappte sich Alex’ rechte Hand und lutschte alarmierend schnell einen Finger nach dem anderen ab. Alex’ Finger streiften für einen Moment ihr warmes Zungenpiercing. Sie grinste: „Jetzt die andere“, und ließ ihre Unterlippe mit dem Ring unter ihrer oberen Zahnreihe hervorschnippen. Alex verdrehte amüsiert die Augen und hielt ihr die linke Hand hin, von der Lilli sich wieder einen Finger nach dem andern in den Mund schob, um ihn schnell abzulecken und vollgesabbert wieder freizugeben. Lilli hielt die Hände mit der Tasche hinter dem Rücken, lächelte und flötete: „Fertig.“

Langsam erregten die beiden Aufmerksamkeit. Das war jedoch nicht das Einzige, das Lilli erregt hatte. Alex wischte sich die Hände an der Hose ab, zog die Jacke von Lillis Schultern und packte sie am Arm. „Okay, gehen wir!“, wies sie Lilli an und zog sie aus dem Burger King, an der titanischen Topfpflanze vorbei und durch die Tür hinaus. Sie rannten über die Straße, als gerade ein einlenkender Lkw die Kurve blockierte, und weiter über den Parkplatz zu dem Hotel.

Es war ein zweistöckiger, merkwürdig aussehender und nicht in diese Umgebung passender Quader. Alex zerrte Lilli mit sich zu der Rezeption, wo sich eine Raststättentante mit einem Trucker unterhielt. „Hey!“, rief Alex: „Ein Zimmer! Zumindest bis morgen und das schnell!“

Alex hing anderen Gedanken nach, daher bekam sie kaum mit, wie viel das Zimmer kostete. Lilli hatte schon das Geld aus ihrer Tasche gekramt und reichte es der Raststättentante. Alex schnappte sich den Schlüssel und sie gingen über den grünen Läufer zu den Treppen, die sich gegenüber dem Eingang an der hinteren Seite drängelten.

Das Hotel war folgendermaßen aufgebaut: An der Rückseite klebten die Gänge für beide Etagen mit jeweils einer Treppe nach oben und ebenfalls grünem Teppich. Ganz rechts gab es einen Fahrstuhl. Jeder Gang hatte zur Front hin vier Türen. Alex und Lilli hatten das Zimmer 6 in der ersten Etage. Sie schlossen es auf und hastig hinter sich zu.

Die Welt um sie verflüchtigte sich. Alex gefiel der Gedanke, dass sie vielleicht eine Weile mit Lilli in Berchtesgaden verbringen würde. Lillis Tascheninhalt, den sie sich für einen Teil des mysteriösen Geldes gekauft hatte, rückte erst einmal in den Hintergrund. Es gab gerade Wichtigeres zu tun, nämlich sich die Fliegerjacke auszuziehen und an den Rest der Kleidung zu machen.

Ihr Zimmer bestand aus zwei Räumen. In dem ersten stand an der linken Wand ein Doppelbett, darüber hingen ein kleiner Spiegel und zwei Lampen. Gegenüber der Tür war ein großes Fenster mit Vorhängen und Rollläden, das zur Raststätte gerichtet war. Links gab es ein kleines, gedrängtes Bad mit Lokus neben der Tür, einem Waschbecken gegenüber und einer schmalen Dusche daneben, alles gefliest.

Im Vordergrund standen jedoch Lillis Räumlichkeiten, die es zu erkunden galt. Auch sie war eifrig damit beschäftigt, sich aus ihrer Kleidung zu schälen. Beide schauten sich in die Augen und damit in die Seelen. Stück für Stück entledigten sie sich ihrer öffentlichen Erscheinung, die Kleidung wie verwelktes Laub von sich werfend. Der kleine, silberne Kettenanhänger in Form einer Rasierklinge, der Lilli um den Hals hing, schaukelte hin und her.

Lilli, nunmehr nackt, dünn und weiß, ließ sich auf das Bett nieder und kaute unablässig auf dem Ring in ihrer Unterlippe. Alex hielt sie in ihrem Blick gefangen wie die Großkatze ihre Beute, als sie auf sie zuschoss und den kleinen, silbernen Ring an Lillis Lippe mit den ihren umschloss. Leidenschaftlich schob sie ihre Zunge in Lillis Mund, drängte ihre Hüften an deren Schoß und bohrte sich hastig in sie. Ineinander verkeilt rollten sie sich über das Bett. Schließlich thronte Lilli auf Alex, die mit ihren Fingern durch Lillis Haar fuhr, sich an ihren Kopf klammerte und ihn näher zu sich zog, während sich beide in tantrischem, gebetsmühlenartigem Gestöhne verloren. See und Schiff schaukelten ineinander. Glühend und schwitzend brachen sie nach den vulkanischen Eruptionen auseinander und blieben nebeneinander liegen. Noch ineinander gehakt atmeten sie schwer nach diesem energieaufwendigen Spiel.

„Okay, was hast du nun so Tolles für das Geld gekauft?“, fragte Alex, die auf dem Bett saß.

Lilli hechtete hinüber zu der Laptoptasche, holte ein paar Bögen Papier heraus und hielt sie hoch. Darauf gedruckt war das Bild der Grinsekatze aus Alice im Wunderland. „LSD“, meinte Lilli und setzte sich wieder neben Alex auf das Bett. „Aber es ist noch einiges an Geld übrig.“

„Du willst in einem Hotelzimmer LSD nehmen?“, fragte Alex in einer Mischung aus Überraschung und Unglauben.

„Warum nicht?“, fragte Lilli.

„Na, weil wir vielleicht völlig durchdrehen und das ganze Hotelzimmer zerlegen.“

Lilli zuckte die Schultern. „Warum nicht? Höchstwahrscheinlich fliegen wir nur ein bisschen durchs Zimmer.“ Kurz darauf musste sie kichern, ebenso wie Alex.

„Okay, meinetwegen. Schlimmstenfalls lande ich im Nirgendwo und da will ich sowieso hin.“

Lilli riss einen kleinen Fetzen vom obersten Blatt ab und legte den Bogen zur Seite. Diesen Schnipsel riss sie noch einmal entzwei und reichte einen an Alex weiter, die neben ihr auf dem Bett saß. Beide sahen sich mit den Papierschnipseln in den Händen an.

„Los geht’s?“, fragte Lilli.

„Los geht’s“, sagte Alex.

Sie hakten ihre Arme ineinander und fütterten sich gegenseitig mit dem LSD, zerkauten das fade Papier und schluckten das von Speichel durchtränkte Klümpchen hinunter. Beide ließen sich nebeneinander aufs Bett fallen, starrten zur rauen, weißen Decke hinauf und warteten darauf, dass irgendetwas passierte.

Nach einiger Zeit konnte Alex spüren, wie sich ihre Sicht verzerrte. Das Weiß an der Decke begann zu blenden, sie konnte die Farbe riechen, schmeckte jedoch Grün. Als sie die Augen schloss, flimmerte es bunt hinter ihren Augenlidern, sodass sie beschloss, sie wieder zu öffnen.

Alex schaute zu der Nixe Lilli hinüber, die neben ihr lag und sich, mit ihrem langen schuppigen Haifischschwanz hin und her peitschend, erstaunt im Raum umsah. Alex konnte das Geräusch der kalten Schwanzflosse auf der warmen, trockenen Decke durch die Wirkung des LSD verstärkt hören. Bevor sie das Blau erwischte, dachte sich Alex, dass sie sich lieber Lilli schnappen sollte; doch als sie sich zur Seite warf, um die Nixe zu erhaschen, rollte diese sich zur Seite, über die Kannte des Bettes und tauchte ins tiefe Meer ein. Alex kroch zum Bettrand und schaute auf den wabernden Teppich, der Wellen schlug, wo Lilli eingetaucht war.

Langsam setzte Alex sich auf und konnte sehen, wie die Möbel in diesem endlosen Ozean aus Teppich von ihrem Bett wegtrieben. In den Wellen hüpfte der kleine Beistelltisch auf und ab und Alex hielt ihn gerade noch so fest, während ihr Bett im leichten Wellengang schwankte. Aber auch sie bewegte sich davon. Der Himmel über ihnen bestand aus lauter bunten Autobahnen, die sich wie Ringe um ihren mit einem Meer aus Teppich gefluteten Planeten spannten und drehten und weit oben am Himmel über sie hinwegzogen.

Am Kopf des Bettes sah sie die Nixe Lilli, die das Bett antrieb. Alex hatte gerade den Nachttisch, der mit seinen vier kleinen Beinchen sehr strampelte, nach Litfaßsäule roch und quiekte, auf ihr Bootbett gezogen. Sie wandte sich zu Lilli, die plötzlich losließ und im Meer davonschwamm, sich wie ein Delfin in die Luft katapultierend. Das kleine Nachtschränkchen beruhigte sich und ließ die vier Beinchen hängen. Alex konnte spüren, wie es in ihrer Umklammerung atmete, sich jede der sechs Seiten blähte und wieder zurücksank.

Sie war in irgendeinen Strom geraten. Ihr Bett bewegte sich schneller über den Ozean und umrundete den kleinen Planeten, auf dem sie und Lilli, die wohl gerade irgendwo unter ihr durchschwamm, sich befanden. Dort kam ein Stuhl angeschwommen, er hielt sich über Wasser, indem er mit seinen vier Beinen strampelte. Darauf saß eine Schreibtischlampe, die mit ihrem Kopf hin und her schaute und mit dem Kabel auf den Stuhl peitschte wie eine Katze mit dem Schwanz. Alex reichte ihr die Hand, half zuerst ihr zurück aufs Bett und dann dem Stuhl, während sie und ihre kleine Crew sich auf dem Bett durch das Teppichmeer bewegten. Es geriet fast aus dem Gleichgewicht, als auch noch ein großer Schreibtisch aus dem Meer auf das Bett sprang und sich trocken schüttelte. Doch sie trieben weiter auf dem Strom. Alex schnappte einen gerade ertrinkenden Stuhl an einem der wild zappelnden Beinchen. All die Dinge auf dem Bett bildeten einen Ring um sie. Sie ließ sich mit dem Rücken gegen die Unterseite des Tisches fallen und schaute einfach nur die Farben am Himmel an, während weitere Gegenstände das Bett erklommen und Formen mit Farben zusammenglitten. Leuchtende Räder kreisten am Himmel. Dicke, fette Teppichblasen lösten sich und stiegen wie kleine Abbilder ihres mit Teppich überfluteten Planeten gen Himmel.