Dirndlgate

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Dirndlgate
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Jan Schreiber

Dirndlgate

Roman

Kapitel 1

Jessica schüttelte den Kopf. Hatte sie die Pläne nicht zurücklegen wollen? Ja, klar, und zwar möglichst schnell. Alexander konnte jeden Moment kommen, immerhin wartete sie seit fast zwei Stunden auf ihren Mann. In der Küche waren die Steaks und das Gemüse kalt geworden. Schließlich hatte Jessica angefangen, in der Wohnung herumzulaufen und vor dem Eichentisch im Wohnzimmer die Pläne gefunden.

Jetzt lehnte sie sich im Flur gegen eine Wand, und sofort kam es ihr vor, als griffen kalte Arme nach ihr. Im östlichen Teil der Wohnung fror sie, und es hatte nichts damit zu tun, dass Frauen immer frieren würden, wie Alexander behauptete. Es war nicht diese Art des Fröstelns, sondern eher ein durch und durch unbehagliches Gefühl, so als wolle ihr das Haus sagen: Du bist hier nicht willkommen. Das Haus, der große Kasten, sagte und dachte Jessica. Freunde und Bekannte sprachen meistens von der Scheffold-Villa.

Mit den Plänen allerdings hielt sie etwas in der Hand, das dieses unangenehme Gefühl überstrahlte. Sie schloss die Augen und versuchte, ruhig zu atmen. Erst nach einem Moment drückte sie sich von der Wand weg und begann, noch einmal zu lesen: Raumhöhe zwei Meter fünfzig, Rigipsdecken im Flur, Schlaf- und Wohnzimmer. Das bedeutete: Die Raumhöhe würde um achtzig Zentimeter gesenkt. Die Wärme stiege nicht mehr so weit nach oben.

Alexander hatte ihr von den Renovierungsplänen nichts erzählt. Was hatte das zu bedeuten? Ob er sie damit überraschen wollte? Jessica lächelte. Was für eine Geste. Sie atmete noch einmal tief und spürte ein sanftes Drücken hinter den Augen.

Seit fast einem Jahr stand etwas zwischen ihnen. Jessica nahm an, es lag an dem Gespräch mit ihrem Frauenarzt. Ihm war die sehr niedrige Konzentration des Beta-HCG-Hormons im Blutbild aufgefallen. Er hatte sie über die Lesebrille hinweg angesehen und nach einer starken Blutung gefragt. Bevor Jessica in Tränen ausgebrochen war, hatte sie es gerade noch geschafft zu nicken.

Kurz darauf Alexanders Vorwurf, sie arbeite zu viel und sei zu angespannt. Ihr nächtliches Zähneknirschen sei ein Indiz dafür, außerdem mache ihn dieses Geräusch wahnsinnig. Daraufhin war Jessica in das kleine Zimmer gezogen. Anfangs nur für ein paar Tage, doch mit der Zeit dehnten sich diese Phasen aus und jetzt war es schon normal, dass sie im kleinen Zimmer schlief, während Alexander im Schlafzimmer blieb.

Ja, und heute, zwei Tage vor der Talkshow mit von Ackern, wäre eine gute Gelegenheit gewesen, mit ihm noch einmal über die Beziehung zu reden oder es zumindest zu versuchen. Dass Jessica zur Talkshow eingeladen war, kam ihr sehr gelegen. Die Fernsehsendung würde ihr helfen, auf ihr zweites Buch aufmerksam zu machen. Das konnte nie schaden, zumal sie ihre Arbeit als Strafverteidigerin und damit ihre Präsenz in der Kanzlei zurückfahren wollte. Schreiben konnte sie von zu Hause aus. Aber vorher galt es noch, zwei bis drei schwierige Wochen durchzustehen, nicht nur die Talkshow, sondern auch den noch nicht ganz abgeschlossenen Prozess um den Exhibitionisten Jochen Heinrich. All das hätte sie Alexander gesagt, wäre er da gewesen. Es musste ihm etwas dazwischengekommen sein. Aber gut, er hätte wenigstens eine Nachricht schicken können.

Sie strich zärtlich mit der Hand über die Pläne, lief den Flur entlang und versuchte, die Wohnung mit versöhnlicheren Augen anzusehen, mehr Alexanders Sichtweise einzunehmen.

Mit der linken Hand drückte sie die Papiere jetzt an ihren Oberkörper, mit der rechten fuhr sie über die glatte, glänzende Oberfläche der Flügeltür zum Wohnzimmer. Jede Türseite hatte ein achteckiges Fenster. Jessica berührte mit dem Zeigefinger die Bleiverglasung. Alexander hatte die blauen und dunkelgrünen Glasscheiben in einem Karton auf dem Dachboden gefunden. Neben der Tür stand eine Kommode, deren aufwärtssteigende Holzmaserung einer Fontäne glich. Ein dunkler Streifen bildete das Zentrum, hellere Streifen gingen rechts und links davon ab. Dazu der feine gelbe Strich auf der Schublade. Jessica hatte geglaubt, er sei aufgemalt, bis Alex ihr erklärte, es handele sich dabei um eine Intarsie, eine Einlegearbeit. Die Familienfotos über der Kommode: Alexanders verstorbener Vater, die Mutter, die zwei Brüder mit insgesamt sechs Kindern. Noch einmal auf einem Bild die Brüder vor dem Verwaltungsgebäude der Firma Scheffold. Das Foto musste zu dem Zeitpunkt entstanden sein, als Alexander aus dem Familienunternehmen ausgestiegen war, um seine Unternehmensberatung aufzubauen.

Jedes der Bilder steckte in einem gedrechselten Holzrahmen. Jedes Detail der Wohnung hatte seine Wurzeln genauso wie Alexander selbst. Er stand oft so breitbeinig im Wohnzimmer wie Cristiano Ronaldo vor einem Elfmeter.

Jessica trat durch die Flügeltür, und vor ihr breitete sich das Wohnzimmer aus. Die großzügigen Fenster zeigten nach Süden und Osten, über die Südseite hatte man freien Blick auf das Albpanorama. Meistens war die Burg Hohenzollern gut zu erkennen.

Jessica ging weiter auf den Eichentisch zu und legte die Pläne zurück auf den Boden. Über etwas Bescheid zu wissen ist das eine, es sich anmerken zu lassen das andere.

Das war ihr Alex. Sie brauchte nur Geduld mit ihm, denn er löste die Dinge auf seine Art. Kam es darauf an, hatte er das Herz am richtigen Fleck. Streckte er nicht über die Pläne beide Hände nach ihr aus?

Ein letztes Mal schaute sie auf die Blätter, auf die geschwungene, harmonische Unterschrift des Architekten, dann drehte sie sich um und lief durch den Flur zum Arbeitszimmer. Ihr Oberkörper fühlte sich warm und weit an.

Jessicas Blick fiel zuerst auf den Schreibtisch. Die Akte von Jochen Heinrich lag dort, daneben stand Katys Bild. Sie nahm es in die Hände und verlor sich dabei in den braunen Augen ihrer Schwester. Katy lächelte unter einer gelb-, rot- und grau-gestreiften Strickmütze hervor, die wie ein umgedrehter Topf aussah.

Jessica spürte auch noch drei Jahre nach Katys Tod ihre Nähe, worüber sie sehr froh war.

Schwesterherz, was sagst du zu Alex und mir?, wandte sich Jessica in Gedanken an Katy. Wie wäre die Antwort ihrer diplomatischen Schwester? Wahrscheinlich würde Katy klar erkennen: Jessica war dabei, ihr bisheriges Leben auf den Kopf zu stellen. Der alte Schwurgerichtssaal am Amtsgericht war so etwas wie ihr zweites Wohnzimmer gewesen. Mit all den Erfolgen dort hatte sie es geschafft, eine Empfindung in Schach zu halten, die tief in ihrer Seele saß. Oft stieg ein Druck in ihr auf, legte sich unangenehm auf den Brustkorb, und das Herz begann zu hämmern, als wolle es aus der engen Brust entkommen. Gewöhnlich brachte das Herzrasen seine Begleiter mit, meistens hatte Jessica dabei einen hohen Felsvorsprung vor Augen, und ihr war, als drohte sie in die Tiefe zu fallen. Oft träumte sie davon, aber auch tagsüber war sie mittlerweile nicht mehr sicher. Wo würde das enden? Sie sah sich zitternd und nach Luft schnappend vor dem Gericht stehen, kaum noch fähig, ihren Mandanten zu verteidigen. Und dann?

Katy würde Jessica darauf aufmerksam machen, dass sie sich nicht dauerhaft mit Arbeit ablenken konnte, dass sie sich mit dem Schritt aus der Kanzlei, ein Stück weit auf Alex zu, richtig entschieden hatte.

Jessica würde sich natürlich ein bisschen wehren: Der Fall Heinrich sei keineswegs eine Flucht vor der Krise mit Alexander. Sie habe ihren Mandanten im Krankenhaus kennengelernt. Er war so übel zusammengeschlagen worden, dass die meisten Wunden genäht werden mussten. Seine Frau und die Töchter sahen sich mit Schikanen seitens der Bevölkerung und einer zweifelhaften Bürgerwehrgruppe konfrontiert. Insgesamt war die Familie in einer schlimmen Situation. War es also nicht ihre Pflicht gewesen, Heinrichs Verteidigung zu übernehmen?

Jessica lief mit Katys Bild in der Hand vor dem Schreibtisch auf und ab. Nur noch vierzehn Tage bis zum Plädoyer, dann war der Prozess abgeschlossen. Sie blieb vor dem Schreibtisch stehen. Ja, Katy würde zustimmen. Wenn Familie, dann jetzt.

Jessica nahm das Foto einen Moment lang dichter vor die Augen, dann stellte sie es behutsam auf seinen Platz zurück und seufzte. Katy war der Mensch gewesen, dem sie sich anvertrauen konnte, und die Schwester hatte immer die richtigen Worte gefunden.

Es gab nur einen Haken dabei: Bis jetzt hatte Jessica noch nicht mit ihrem Chef gesprochen. Richtig offen waren sie und Dr. Alfred Sebastian über die Kanzleinachfolge nie ins Gespräch gekommen. Unterschwellig hatte sie immer mal wieder durchblicken lassen, sie brauche mehr Zeit für ihre Beziehung. Dennoch bedeutete ein Nein gegenüber Sebastian, sein Lebenswerk auszuschlagen. Konnte sie das? Er war ihr Mentor gewesen, ohne ihn wäre sie nie so weit gekommen.

Die Fernsehsendung morgen könnte der Auftakt zu einem neuen Leben sein. Es musste doch gelingen, Familienplanung und Beruf unter einen Hut zu bringen, ohne dass sie ein schlechtes Gewissen bekam. Nach der Fernsehsendung würde sie den nächsten konsequenten Schritt gehen und Sebastian ihre Situation schildern. Ob ihr vielleicht dieses bevorstehende Gespräch so zu schaffen machte?

Energisch zog Jessica den Schreibtischstuhl zurück und setzte sich. Für die Fernsehsendung konnte sie nichts mehr vorbereiten, deshalb schlug sie Jochen Heinrichs Akte auf. Daneben legte sie ein Blatt Papier und griff nach einem Bleistift.

In regelmäßigen Abständen ließ sie den Stift über Daumen und Zeigefinger auf das Blatt Papier fallen. Ein helles, hölzernes Geräusch war zu hören, so als würde der Stift jeden Schritt ihrer Verteidigung abzählen. Letzten Herbst hatte sich Heinrich über einen Zeitraum von sechs Wochen gewöhnlich zwischen sieben und acht Uhr abends in den Stadtpark geschlichen. Im Herbstdunkel hielt er sich versteckt, trat plötzlich hervor und zeigte seinen Penis. Er erschreckte vier Frauen. Jugendliche stellten Heinrich am 11. Oktober und verbreiteten sein Foto und seinen Namen sofort im Internet. Unglücklich für Jessicas Mandanten, dass Christine Schanz am 24. September, also knapp drei Wochen zuvor, in der Nähe des Stadtparksees vergewaltigt worden war. Die Polizei hatte intensiv nach dem Täter gesucht, allerdings ohne Erfolg. Plötzlich war Heinrich in die Ermittlungen geraten, und als seine DNA am Körper der Frau gefunden wurde, verschlimmerte sich seine Lage. Trotzdem war Staatsanwalt Steven Jung Anfang März dieses Jahrs gezwungen gewesen, den Tatvorwurf der Vergewaltigung gegenüber Jochen Heinrich zurückzuziehen: Vier Wochen nach den Tests wurde bekannt gegeben, Heinrichs DNA vom Körper der Frau sei nicht identisch mit der Sperma-DNA des Vergewaltigers. Warum hatte es sich der sonst so gewissenhafte Jung so einfach gemacht? Von Anfang an hatte es zwei Spuren von Fremd-DNA gegeben. Es hätte Jung klar sein müssen, dass er es damit vor Gericht nicht einfach haben würde. Gut, wer wie Heinrich seinen Penis im Stadtpark zeigt, dem ist auch eine Vergewaltigung zuzutrauen – war das Jungs Gedanke gewesen? Zusätzlich baute Jung noch auf die Zeugenaussage einer jungen Frau. Zu diesem Zeitpunkt hatte er noch nicht wissen können, dass sich diese Aussage in Luft auflösen würde. Nach und nach war es Jessica gelungen, ihre Verteidigungsstrategie auszubauen. Von Beginn an hatte sie die Tatvorwürfe Vergewaltigung und Exhibitionismus voneinander getrennt. Übrig blieben Heinrichs exhibitionistische Handlungen, und hier würde der Freiheitsentzug zu einer Bewährungsstrafe ausgesetzt werden. Das lag aber nicht nur an Jessica, sondern vielmehr an Heinrich selbst.

 

Der Bleistift fiel auf das Blatt Papier. Klack, Klack. Das alles war gar nicht Jungs Art. Es sei denn, Jessica hätte etwas übersehen. War ihr etwa aufgrund der Krise mit Alexander etwas entgangen?

***

Als Alex die Tür öffnete und seinen Kopf ins Zimmer streckte, zuckte Jessica zusammen, so sehr hatte sie sich in Heinrichs Fall vertieft.

„Schatzi“, sagte Alexander und lächelte. „Ich esse nur einen Happs und gehe dann ins Bett. Ich bin total platt.“

Jessica nickte und schaute auf ihre Armbanduhr. Es war kurz nach elf. Sie stand auf und ging auf ihn zu. Alexander hatte über die Jahre nichts von seiner Strahlkraft verloren. Unter dem weißen Hemd zeichnete sich seine breite, feste Brust deutlich ab. Die graugrünen Augen leuchteten. Auf seinem Gesicht lag etwas Entspanntes. Er hatte noch nicht mal ein schlechtes Gewissen, musste also das Essen total vergessen haben. Ja, er wirkte wie nach einem Saunabesuch.

Dass sie die Rindersteaks in der Demeter-Metzgerei geholt hatte und dafür durch den halben Stadtpark gelaufen war: Es lag ihr auf der Zunge. Zum ersten Mal hatte sie versucht, die Steaks medium zu braten, und es war ihr gelungen. Jetzt störte sie sich auf einmal an dem tadellosen Äußeren ihres Mannes, sie störte sich sogar an seinem „Schatzi“. Früher hatte er einfach „Jess“ gesagt. Worte, sinnlos, dachte Jessica. Alles würde an seiner glatten Fassade abperlen. Sie hatte so viel auf dem Herzen und sagte jetzt nur: „In der Küche steht was.“

Alex nickte, schaute auf sein riesiges Smartphone. Wieder kein Erinnern oder Bedauern, gar nichts.

„Hast du was?“, fragte er.

„Nein, nichts.“

Er ließ das Handy in die Hose gleiten, nickte ihr kurz zu und ging. Jetzt drehte er sich noch einmal kurz um und hielt sich eine Hand an die Stirn.

„Ach, richtig! Die Von-Ackern-Show. Das ist doch morgen, oder?“

„Ja, morgen.“

„Du machst dir doch nicht etwa Sorgen deswegen? Nimmst du Toni nicht mit?“

Er meinte Antonia, Jessicas Assistentin.

„Nein, die kommt erst am Sonntag aus Thailand zurück.“

Michael, der externe Mitarbeiter der Kanzlei, würde Jessica begleiten, aber auch das behielt sie für sich.

„Egal“, rief Alexander überschwänglich, streckte Jessica beide Daumen entgegen und lief dabei gleichzeitig rückwärts. „Du machst das schon.“

Jessica nickte und fuhr sich mit beiden Händen über die Arme. Sie fühlte die kühlen Wände, dachte an das kaltgewordene Essen, und sie sah Alexander zu, wie er sich von ihr entfernte.

Kapitel 2

„Keine Sorge, Frau Dr. Scheffold“, sagte die junge Michelle und fuhr Jessica mit einem Wattepad über die Wangen. „Das ist der übliche Wahnsinn. Ich habe nur wenige Sendungen erlebt, zu denen alle Gäste pünktlich da waren.“

„Und ich bin extra früh los, um ganz sicher zu gehen.“

„Vielleicht ist das der Fehler gewesen. Aber kein Problem, ich bin gleich fertig, und dann gehe ich bis zur Studiotür mit. Sie können Ihren Platz gar nicht verfehlen.“

„So?“

„Ja, die anderen Gäste sitzen bereits. Es ist nur noch Ihr Stuhl frei.“

„Oje“, antwortete Jessica. „So was habe ich gar nicht gern.“

„Wieso nicht? Die wichtigsten Gäste zum Schluss. Passt doch alles.“

Michelle legte eine Hand auf Jessicas Schulter. Zusammen schauten sie jetzt in den Spiegel.

„Perfekt.“ Michelle nickte zufrieden. Das stimmte. Sie hatte Jessicas Wangenpartie leicht betont, die Augenbrauen nachgezogen, die Lippen geschminkt und zuletzt das Gesicht gepudert. Jessica sah aus, als hätte es die Vollsperrung kurz vor der Aichtalbrücke und die damit verbundene Aufregung gar nicht gegeben. Die Tür zur Maske flog auf.

„Beeilung!“, rief der Mann, der Jessica vor ein paar Minuten das Mikrofon angesteckt hatte.

„Wir kommen“, antwortete Michelle.

Jessica spürte Schweiß am Rücken und in den Achselhöhlen. Hoffentlich hält das Make-up. Schweiß auf der Stirn bedeutete, dass Schminke in die Augen gelangen konnte, was sie überhaupt nicht vertrug. Die Augen tränten sofort, und das machte die Sache dann nur noch schlimmer. Deshalb verzichtete sie meistens auf Eyeliner.

Michelle deutete mit einer Hand den Gang entlang.

„Da vorne ist die Studiotür. Wir sind gleich da. Lassen Sie sich von den Männern nicht den Wind aus den Segeln nehmen. Viele Frauen schauen auf Sie, Frau Scheffold. Ich lese auch alles von Ihnen.“

Jessica nickte: „Ich gebe mein Bestes.“

Michelle sagte das wahrscheinlich nicht ohne Grund. Unglücklicherweise hatte die Gerichtsreporterin Franka Friedrich für heute abgesagt, und an ihrer Stelle kam nun ausgerechnet Dr. Jürgen Heck, Sebastians größter Rivale. Heck würde heute alles unternehmen, um Jessicas Position zu schwächen, so viel stand fest. Aber nicht nur das! Mit Frau Friedrich wäre das Kräfteverhältnis ausgeglichen gewesen. Jetzt saß Jessica einmal mehr inmitten einer Männerrunde. Michelle griff nach der Studiotür und lächelte noch einmal kurz, bevor sie die Tür öffnete. Sofort war ein noch recht junger Mann mit langen Haaren bei Jessica. Wahrscheinlich ein Assistent der Aufnahmeleitung. Sie spürte einen sanften, aber bestimmten Zug an ihrem Arm.

„Kommen Sie. Schnell.“

Sie liefen auf das Podium zu.

„Tut mir leid, wir haben die Bühne schon hochgefahren. Frau Scheffold, Sie sind doch sportlich? Darf ich Sie um einen großen Schritt bitten?“

„Ja, klar, da komme ich hoch.“

Jessica musste ihr Bein ein gutes Stück hochziehen, um auf das Podest zu kommen. Wenn jetzt die Hosennaht platzt, das wäre der Super-GAU. Der Mann stützte sie am rechten Unterarm. Um zu ihrem Platz zu gelangen, musste sie sehr dicht an Jürgen Heck vorbei.

„Das ist ja typisch“, zischte er ihr zu, „Hauptsache Aufmerksamkeit.“

Heck klemmte in seinem Stuhl wie ein Kronkorken in einer Flasche. Sein kleiner, dicker Körper füllte den Stuhl nahezu aus, irgendwie fehlte diesem Mann der Hals. Wie immer, sobald Jessica auf Heck traf, fragte sie sich: Worum geht es ihm eigentlich? Klar, Sebastian und Heck waren Kommilitonen gewesen. Sebastian, ein mittelloser Alt-Achtundsechziger, und Heck, ein Konservativer mit viel Geld im Rücken. Letztlich hatte sich Sebastian mit seinem Talent durchgesetzt, das fiel besonders deshalb auf, weil Hecks Büro nicht mal einen Kilometer von Sebastians Kanzlei entfernt lag.

Jessica setzte sich, und sofort schaute Heck sie angriffslustig an. Das kann ja heiter werden.

Der Assistent überprüfte den Sitz des Mikrofons. Er nickte Jessica zu, drehte sich weg und hob einen Daumen in Richtung Kamera. Harald von Ackern saß ebenfalls in seinem Stuhl und sortierte in aller Ruhe seine Moderationskarten. Von Ackern trug einen dunklen Anzug, ein weißes Hemd, aber keine Krawatte. Wie viele Männer um die vierzig hatte er sich, wahrscheinlich wegen Problemen mit Haarausfall, eine Glatze rasieren lassen. Das verlieh ihm zusammen mit dem runden Gesicht ein gemütliches Aussehen. Und genau darin lag die Gefahr. Jessica durfte sich von seinem kumpelhaften Plauderton nicht einlullen lassen. Der CDU-Politiker Wolfgang Börner hatte nicht umsonst die letzte Sendung einfach verlassen.

Jessica atmete tief, und ihr Blick fiel dabei auf den einzigen noch leeren Platz in der ersten Zuschauerreihe. Ein großer Mann mit Baseballcap steuerte im Moment darauf zu. Michael. Obwohl ihn Jessica seit Ewigkeiten kannte, konnte er Toni nicht ersetzen. Trotzdem tat es ihr gut, jemand Bekanntes in der Nähe zu wissen.

Gleich muss es losgehen. Jessica schloss die Augen. Ihr bislang größter Erfolg. Sie brauchte einen guten Auftritt, Heck hin oder her. Die Talkrunde so kurz vor der Veröffentlichung des Buches kam genau richtig, hing doch ihr neuer Lebensplan ein Stück weit davon ab. Sie wollte Alexander deutlich zeigen, wie viel er ihr bedeutete.

Sie öffnete die Augen und sah in dem Moment, wie von Ackern Heck freundlich zulächelte. Kennen die sich etwa? Vielleicht war es kein Zufall, dass er heute hier saß und nicht Frau Friedrich. Vielleicht wusste der Sender von der Rivalität beider Kanzleien, außerdem hatte Heck viel mit Staatsanwalt Jung zu tun. Die plötzliche Ruhe um den Heinrich-Prozess. Konnte Heck sie mit etwas konfrontieren, worauf sie nicht vorbereitet war?

Das Podest fuhr in diesem Moment noch ein Stück nach oben. Die Scheinwerfer über den Zuschauerreihen verdunkelten sich, vier andere Scheinwerfer richteten sich auf die Bühne aus.

Sie saß wie auf einem Präsentierteller und konnte genauso wenig weg wie aus einem Fahrstuhl. Und da war es wieder! Als hätte jemand einen Schalter umgelegt. Etwas sehr Mächtiges rauschte durch Jessicas Körper. Ihr Herz schlug heftig. Sie krallte die Hände in die weichen Lederlehnen des Sessels.

Eine Stimme zählte: acht, sieben, sechs …

Dann von Ackerns Stimme: „Liebe Gäste hier im Studio, liebe Zuschauer zu Hause, ein herzliches Willkommen zur Von-Ackern-Show. Wir wollen darüber reden, ob das Internet, ob soziale Plattformen wie Facebook und Twitter dazu beitragen, bestehende Missstände in der Gesellschaft schneller ans Licht zu bringen als in der Zeit vor dem Internet. Wie wichtig ist dabei die digitale Präsenz des Einzelnen?

Begrüßen Sie mit mir meine Gäste: die Staranwältin Frau Dr. Jessica Scheffold, den Medienwissenschaftler Henning Trové, den Rechtsanwalt Dr. Jürgen Heck und den Start-up-Gründer Steffen Arnold.

Dr. Heck sagt: ‚Drei Viertel des Internets sind überflüssige Schaumschlägerei. Unausgegorene Informationen gelangen zu schnell an die Öffentlichkeit und beschwören unnötige Debatten herauf.‘ Die Kanzlei Heck ist im Bereich Wirtschaftsrecht eine Größe und beweist damit, dass Erfolg auch mit einer kleinen Homepage möglich ist.

Dem widerspricht Frau Dr. Scheffold, sie sagt: ‚In Zeiten des digitalen Wandels sollte man die neuen Medien sinnvoll nutzen, anstatt sie zu verteufeln.‘ Frau Scheffold schreibt online für tausende Follower und schafft es, dass auch Normalbürger schwierige juristische Zusammenhänge verstehen können.“

Jessica versuchte, in die Kamera zu lächeln. Die Medien warfen ihr immer vor, nach außen kalt und unnahbar zu wirken. Ein Eindruck, den sie heute entkräften wollte. Wie sollte das gelingen? Sie spürte eine enorme Anspannung.

„‚Ich würde lieber die Hosen zu Hause vergessen als das Smartphone – ohne Internet geht gar nichts.‘ Dieser Satz stammt von Steffen Arnold. Mit Blick auf sein Leben trifft das auch zu: Begonnen hat er mit einem kleinen Start-up, jetzt betreibt er den größten deutschen Onlinemarktplatz für Bioprodukte, außerdem ist er Mitbegründer der ersten Onlinegewerkschaft. Diese Gewerkschaft vertritt die Interessen aller Menschen, die über das Internet ihr Geld verdienen.

 

Der Medienexperte Herr Trové hat das Buch Die digitale Evolution geschrieben. Er hilft uns heute, alle Argumente zu verstehen, und er wird uns – sollte die Zeit dafür reichen – auch aufzeigen, wohin die Entwicklung in Bezug auf das Internet gehen wird. Noch einmal ein ganz herzliches Willkommen an meine Gesprächspartner und Zuhörer.“

Der Applaus, der während der Anmoderation zu hören gewesen war, klang ab. Von Ackern wandte sich an Trové.

„In Ihrem Buch beschreiben Sie unter anderem solche Phänomene wie Fake News und Hasskommentare. Und wenn ich jetzt sage, …“, der Moderator schaute ins Publikum, „… dass es kaum einen Tag gibt, an dem nicht ein Shitstorm durch das Netz geistert, werden die meisten hier im Studio zustimmen.“

„Ja“, antwortete Trové. „Wir erleben gerade eine gewaltige Verschmutzung der öffentlichen Außenwelt. Medienmacht ist aber etwas anderes als Medienmündigkeit. Wir brauchen einen reiferen Umgang mit dem Medium, eine Art neues Bewusstsein. Genauso wie auch das Umwelt…“

„Augenblick“, unterbrach der Moderator Trové nach diesen wenigen Sätzen. „Wie kommen wir denn zu einem reiferen Umgang mit dem Medium? Das ist doch die Frage. Ich habe Ihr Buch sehr aufmerksam gelesen. Andere Wissenschaftler fordern mehr digitale Bildung an die Schulen zu bringen, sodass die Schüler Fake News und Bildfälschungen erkennen können. Ihr Ansatz, Herr Trové, ist aber noch breiter und auch für den einen oder anderen eher schwer zu verstehen. Können Sie uns das mit einfachen Worten erklären, so als säßen wir in einer Eckkneipe?“

„Bestimmt.“

„Trinken Sie Weizen oder lieber Pils?“

„Weizen“, lachte Trové.

Jessica schmunzelte. Mit einem Blick auf den Medienwissenschaftler fiel es ihr nicht schwer, an einen Wikinger zu denken. Sein breites Gesicht, der rotblonde Vollbart und dazu die Bassstimme. Er saß ruhig in seinem Sessel und ließ keine Unsicherheit erkennen.

„Ein Weizen bitte“, von Ackern hob die Hand, schaute in das Publikum, als wolle er tatsächlich eine Bestellung aufgeben. Jetzt neigte er sich Trové zu. Er baut Nähe auf, stellte Jessica für sich fest.

„Ich stimme meinen Kollegen zu, was die digitale Bildung betrifft. Um aber zu verstehen, was gerade passiert, sind mir ein paar andere Aspekte auch noch wichtig. Beim Internet haben wir es mit Technik zu tun. Ein Mann beispielsweise, der jahrelang mit einem Schmiedehammer gearbeitet hat, hat andere Hände als ein Kunstmaler.“

„Technik beeinflusst uns also?“

„O ja, sehr“, Trové nickte. „Und zwar nicht nur die Körperteile, sondern vor allem unser Gehirn, die Art und Weise, wie wir denken und wahrnehmen.“

„Der Mensch auf der einen Seite, die Technik auf der anderen. Warum soll das ein Konflikt sein? Keiner will auf das moderne Leben verzichten.“

Der Moderator lehnte sich wieder zurück und schuf damit zwischen sich und Trové Abstand. Das Aufbauen und der plötzliche Entzug von Nähe dienten oft dazu, den Gesprächspartner zu verunsichern. Jessica kannte diesen Trick. Trové allerdings lächelte und lehnte sich ebenfalls zurück. Ja, klar, es ist nicht seine erste Talkshow.

„Verständlich“, antwortete er ruhig. „Wir müssen aber wissen, die fünf Sinne des Menschen beeinflussen sich gegenseitig in einem offenen wechselseitigen System, während technische Systeme geschlossen sind. Waren wir in Urzeiten in freier Natur unterwegs, und es kam ein Reiz von außen, haben wir sofort reagiert und das Gehirn hat sehr schnell in einen Zustand der Harmonie zurückgefunden.“

„Jetzt dagegen …?“

„Jetzt dagegen bleibt der Erregungszustand lange und fortwährend erhalten, ohne dass es wieder zu einer harmonischen Balance kommt. Die Fachleute sagen ‚Closure‘ dazu.“

„Denken wir mal an bestimmte Ernährungsempfehlungen wie zum Beispiel Paleo. Es heißt doch immer, wir Menschen hätten uns seit tausenden von Jahren kaum verändert.“

„Jein, antwortete Trové. „Der alte Stammesmensch, ich habe es schon grob angesprochen, lebte vor allem in einer Welt des gesprochenen Wortes und des Schalls.“

„Gut, wir leben heute nicht mehr im Wald, das ist richtig.“

„Heute leben wir vor allem in einer visuellen Welt. Die gesamte Wahrnehmung hat sich sehr auf das kühle, distanzierte Auge verlagert. Mich und meinen Gesprächspartner trennt oft etwas: das Handy, der Videobeweis oder ganz häufig der Computerbildschirm. Deshalb hat sich auch die Kommunikation so abgekühlt. Mit dem Siegeszug des Computers erlebt die visuelle Welt ebenfalls einen Triumphzug. Aber: Wird ein Sinnesorgan ständig überreizt, geraten die anderen in eine Art Lähmung, einen Zustand, den wir etwa von der Hypnose her kennen.“

„Das bedeutet doch nichts anderes, als dass ich mich, nun ja, als dass ich mich …“ Der Moderator ruderte ein wenig unbeholfen mit den Armen.

„Sie sollten sich möglichst um eine breite Wahrnehmung kümmern. Verstehen Sie? Ich bin kein Gegner der Technik. Aber wir sollten verstehen, wie sie auf uns wirkt, damit wir die schwachen Stellen ausgleichen können. Denken wir an das Beispiel mit dem Hammermann. Auch er wird sich überlegen, was er machen kann, um gesund zu bleiben. Diese Überlegungen führen dann ganz automatisch zu einem reiferen Umgang mit Smartphone und Internet. Wir brauchen Rückzugsorte, Rückverbindung, Ruhephasen. Je schneller die Technik wird, desto wichtiger scheint es, darauf zu achten.“

„Sie zeigen in Ihrem Buch eine Verbindung, die zurückgeht bis zum Alphabet und vor allem dem Buchdruck. Gibt es noch mehr Verbindungen zwischen Buch und Internet?“

„Ja, für Buch und Internet gilt: Ich muss das Gelernte ins Leben überführen. Es nutzt nichts, hundertzwanzig Tindermatches in der Liste zu haben. Ich muss ein Date ausmachen und die Frau schlussendlich treffen. Mit den Lippen mache ich dabei hoffentlich die Erfahrung eines sinnlichen Kusses, dabei kann ich sogar die Augen schließen – oder manchmal ist es sogar besser, die Augen zu schließen.“

Im Publikum kam Gelächter auf. „Wer Lust hat“, rief Trové auf einmal laut ins Studio, „der kann ja mal versuchen, seine Ohren zuzuklappen, ohne dabei die Hände zu benutzen.“

Jessica schmunzelte. Sie sah, wie manche Gäste doch nach ihren Ohren griffen oder es bei ihrem Nachbarn versuchten.

„Wir stellen fest“, sagte Trové, „es geht nicht. Ein Indiz dafür, wie wichtig die Ohren sind.“

„Sie schreiben: ‚Mit Alphabet und Buchdruck entsteht der typografische Mensch, das schnelle, distanzierte Erfassen von Mustern über das Auge. Die Mönche im sechsten, siebten Jahrhundert haben anders gelesen als wir.‘“ Von Ackern schaute einen Augenblick von seiner Karte auf.

Trové nickte. „Die Mönche haben beim Lesen vor sich hingemurmelt. Man kann daran zeigen, wie sich das Leseverhalten geändert hat und immer noch ändert.“

„Ja“, von Ackern nickte. „Wer will, kann das alles in Ihrem Buch nachlesen. Und Sie schreiben außerdem noch vom Homo Digitalis. Ist das eigentlich Ihr Ernst?“

„Ja, natürlich.“

Jessica schaute in die Runde. Während Trové nach wie vor eine unglaubliche Ruhe ausstrahlte, zappelte Steffen Arnold, ein schlaksiger Brillenträger Mitte zwanzig, auf seinem Stuhl umher. Er rieb Daumen und Zeigefinger unablässig aneinander und konzentrierte sich wahrscheinlich darauf, aus dem Reiben kein Schnippen entstehen zu lassen. Jessica atmete zwei-, dreimal tief durch. Sie hatte in den letzten Jahren außerhalb des Fernsehens an vielen Podiumsdiskussionen teilgenommen und war von den Moderatoren immer gleich angesprochen worden. Hier hatte sie auf einmal Gelegenheit zuzuhören. Warum?

„Konkret“, hakte der Moderator nach, „welche Eigenschaften hat der Homo Digitalis?“

„Ich zähle mal ein paar auf, die wir am ehesten als negativ bezeichnen würden: verändertes Leseverhalten, mehr an der Oberfläche als in der Tiefe; infolge erleben wir eine drastische Fragmentierung von Inhalten; Schwierigkeiten damit, Entscheidungen zu treffen und dazu zu stehen. Zu viele Onlinestunden können den Lebensrhythmus durcheinanderbringen. Die Folgen wären Schlafstörungen, hohe Nervosität, Konzentrationsschwäche – und wieder die Folge davon, abnehmende Leistungsbereitschaft.“