Attentat auf Honecker und andere Besondere Vorkommnisse

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Attentat auf Honecker und andere Besondere Vorkommnisse
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Jan Eik / Klaus Behling

Attentat auf Honecker

und andere Besondere Vorkommnisse

Jaron Verlag

Die Autoren

Jan Eik: J. E.

Klaus Behling: K. B.

Originalausgabe

1. Auflage 2017

© 2017 Jaron Verlag GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten. Jede Verwertung des Werkes und aller seiner Teile ist nur mit Zustimmung des Verlages erlaubt. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Medien.

www.jaron-verlag.de

Umschlaggestaltung: Bauer+Möhring, Berlin, unter Verwendung eines Fotos von Harald Hauswald

Satz: Prill Partners | producing, Barcelona

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2017

ISBN 978-3-95552-236-0

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Ein Wort voraus

Wildost in Klosterfelde

Das „Attentat“ auf Erich Honecker

Das Funkhaus brennt

Die Geschichte einer erfundenen Sabotage

Letzter Ausweg Makarow

Der Tod Erich Apels am 3. Dezember 1965

Ein Hubschrauberabsturz in Libyen

Werner Lamberz’ Tod in der Wüste

Zerstörte Leben

Suizide nach friedlicher Revolution und Wiedervereinigung

Genossen im Goldrausch

Ein Stasi-Offizier als Wirtschaftsverbrecher

Am Leben verzweifelt

Dean Reeds geheimnisumwitterter Abschied

Geheimnisse der „Freunde“

Die verborgenen Seiten der sowjetischen Besatzer

Dank

Abkürzungen

Ausgewählte Literatur

Ein Wort voraus

Die Geschichte der DDR ist reich an „Besonderen Vorkommnissen”. Die Öffentlichkeit wurde über sie eher spärlich informiert, und längst nicht alles stimmte, was man den Untertanen verkündete. So wie angesichts der Mangelwirtschaft die Verteilung von Waren und Dienstleistungen reglementiert war, wurden auch Nachrichten nur sehr dosiert abgegeben. Gerüchte und Wandersagen wurden zu einem Schwarzmarkt der Informationen.

Den hielt eine emsig arbeitende Abteilung im Ministerium für Staatssicherheit (MfS) wachsam im Auge. Ihre Aufgabe war die „Vorkommnisuntersuchung“. Sie erfasste jede Abweichung von dem, was den DDR-Medien zu berichten erlaubt war. Die Männer hatten gut zu tun, denn vierzig Jahre lang war die Lage kritisch in dem engen Land. Und es war Eile geboten, denn Gerüchte breiteten sich in der DDR mit einer Geschwindigkeit von etwa vier Stundenkilometern aus, wie streng geheime Erkenntnisse der Stasi ergaben. Die Fama brauchte etwa sieben Tage, um die 678 Kilometer von Sassnitz bis Eisenach zu bewältigen.

Glücklicherweise gelang es trotz Heimlichtuerei nicht, alle Spuren der verschwiegenen Ereignisse zu beseitigen. Nach dem Ende der DDR kam aus den Akten manches Interessante, bisweilen auch wirklich Sensationelles ans Licht. Die Suche nach den wahren Sachverhalten begann oft mit den Erinnerungen von Zeitzeugen oder mit unter der Hand zugänglich gemachten Informationen der damaligen Ermittler. Der Widerspruch ewiger Besserwisser und frustrierter Nostalgiker blieb nicht aus.

Das vorliegende Buch, das keinen wissenschaftlichen Anspruch erhebt, wohl aber den auf eine fundierte Darstellung von Fakten und die gewissenhafte Suche danach, enthält zusammengefasst die Ergebnisse der Recherchen, die teilweise bis in den Spätherbst 1989 zurückreichen – eine Zeit, in der von Datenschutz noch keine Rede war.

Als das aufsehenerregendste Vorkommnis gilt das angebliche Honecker-Attentat von Klosterfelde. Die „Königsebene“ der DDR war fehlender Offenheit und Öffentlichkeit wegen jahrzehntelang besonders geheimnis- und gerüchteumwittert. Hat es wirklich Versuche gegeben, einen Repräsentanten der DDR umzubringen?

Und war der große Rundfunkbrand im Februar 1955 tatsächlich Folge einer Sabotagehandlung, wie bis heute in Büchern ehemaliger Stasi-Mitarbeiter behauptet wird? Oder ist er nur ein typisches Beispiel für die in der DDR herrschende Willkür in Strafverfolgung und Justiz?

Über die Karriere und den Freitod des Planungschefs Erich Apel Anfang der 1960er-Jahre war ebenfalls wenig bekannt. Wollte er wirklich einen Hauch von Marktwirtschaft in der DDR einführen? Und wer half ihm dabei, bevor er sein Fähnchen in den neuen politischen Wind schwenkte?

Apropos Suizid: Warum gehörte der Tod von eigener Hand zu den vielen Tabuthemen im Land? Und was geschah nach dem unrühmlichen Ende der DDR? Wohlfeile Behauptungen wie die, dass der Schmerz über den verpfuschten Sozialismus „mehr Tote als an der Mauer“ gefordert habe, waren zu hinterfragen.

Doch zurück in die vermeintliche Blütezeit der DDR. 1978 rankten sich um den Hubschrauberabsturz des „Kronprinzen“ Werner Lamberz in der Libyschen Wüste mancherlei Gerüchte. Nach den wahren Hintergründen fragte lange niemand. Es wäre damals wohl auch kaum möglich gewesen, mehr zu erfahren als das, was das „Zentralorgan“ mit dickem schwarzem Trauerrand verkündete. Dafür sorgte zuverlässig die Stasi.

Sie behielt auch die schwarzen Schafe in ihren eigenen Reihen im Auge. Um „das Ansehen des Organs in der Öffentlichkeit nicht zu schädigen“, vertuschten Minister Erich Mielke und seine engsten Vertrauten das größte Wirtschaftsverbrechen der DDR. Es ging um rund dreißig Millionen Mark in Ost- und West-Währung sowie in Gold, die ein einziger Mann mit seiner Helferin beiseitegeschafft hatte.

Rätselhaft erschien der Tod des amerikanischen Paradiesvogels Dean Reed. War der Sozialismus für den „roten Elvis“ von Rauchfangswerder trotz Reisefreiheit und anderer Privilegien so enttäuschend, dass er 1986 keinen anderen Weg als den ins Wasser des Zeuthener Sees sah? Oder steckten geheimnisvolle Bedrohungen hinter dem spektakulären Ableben des Sängers und Schauspielers?

Als nach fast fünfzig Jahren die stets als „Freunde“ titulierten sowjetischen Besatzer ihren Abgang vollzogen, offenbarten sich die dunklen Seiten ihrer Herrschaft. Vom Marmeladen-Klau über Vergewaltigungen bis hin zu grausamen Morden – worüber die Bevölkerung lange nur gemunkelt hatte, ließ sich nun mit Namen, Fakten und Daten belegen. Es waren Ausnahmen, aber sie zeigten, dass die kleine DDR trotz aller Freundschaftsbekundungen bis zum Schluss ein besetztes Land und nicht Herr im eigenen Haus war.

Auch wenn wir viele der alten Geschichten heute mit einem Lächeln über die damaligen Zeiten quittieren können, waren sie doch Ausdruck des Zeitgeists in der DDR. Der war allzu oft bestimmt durch Angst und Misstrauen. Solche Gefühle im Volk zu ignorieren oder gar zu pflegen bekommt den Herrschenden nie. Deshalb werden sie noch einmal erzählt, diese alten Geschichten.

Wildost in Klosterfelde

Das „Attentat“ auf Erich Honecker

Als „Angriff auf das Leben eines Regenten oder einer sonstigen hervorragenden Persönlichkeit“ definierte vor fast 150 Jahren „Meyers Konversationslexikon“ das Attentat. Es fehlte nicht der Hinweis, dass derlei „Mordthaten zum Zweck der Vernichtung des Vertreters einer großen Idee“ bereits auf eine lange Geschichte zurückblickten.

Die DDR war mit spektakulären Ereignissen nicht gerade gesegnet. Hier dominierte der triste Alltag. Doch manchmal schien sich auch hinter ihm Besonderes zu verbergen. Davon war der junge Dieter Müller überzeugt, als er in der gerade ein paar Jahre zuvor gegründeten Deutschen Demokratischen Republik, die so große Pläne mit dem Sozialismus hatte, „Volkskorrespondent“ wurde. Erste Artikel im FDJ-Blatt „Junge Welt“ machten ihn stolz, der Weg ins „Rote Kloster“, der Sektion Journalistik an der Leipziger Uni, schien geebnet. Doch zwischen Ostsee und Erzgebirge war es schon damals eng. 1956, nach dem Abitur auf dem Hallenser Giebichenstein-Gymnasium „Thomas Müntzer“, ging Dieter Müller in den Westen.

Dass er dort zu Dieter Bub wurde, entdeckte die Stasi erst später. Da arbeitete er bereits als „Stern“-Korrespondent in Ost-Berlin und machte Mielkes Männern in der Normannenstraße so richtig Ärger. Seine Heimatredaktion in Hamburg hatte nämlich eine Riesenstory auf die Titelseite gehoben, die in Ost-Berlin alle Alarmglocken schrillen ließ. Am 11. Januar 1983 verkündete das Magazin: „Der STERN enthüllt, was die DDR zu vertuschen sucht: DAS ATTENTAT!“

 

In ein seitenfüllendes Foto Erich Honeckers war das bläuliche Bild eines Mannes mit einem Fernglas um den Hals eingeklinkt. Daneben stand: „Ofensetzer Paul Eßling, der Mann, der Honecker erschießen wollte.“ Eine Doppelseite zeigte eine wilde Schießerei zwischen zwei Leuten aus abrupt gebremsten Autos als Comic. Dass dort mehr Fahrzeuge zu sehen waren, als an dem Ereignis tatsächlich beteiligt waren, machte die Geschichte noch dramatischer. Überschriften verkündeten: „Anschlagsversuch auf der 109“ und „Von der Stasi in die Zange genommen“.

Die Meldung selbst war eher dünn: „Ein Ofensetzer aus einem Dorf bei Berlin versuchte Silvester auf den DDR-Staatsratsvorsitzenden zu schießen. Der Attentäter verfehlte sein Ziel. Erich Honecker entkam und überlebte. Dem Schützen blieb nur der Selbstmord. Er schoss sich in den Kopf und starb auf der Stelle. Ein Sicherheitsbeamter wurde mit schweren Verletzungen ins Krankenhaus gebracht.“

So war es dem Korrespondenten Dieter Bub in Ost-Berlin zu Ohren gekommen, und zu seiner Chronistenpflicht gehörte es, das an seine Redaktion weiterzugeben. Dass seine Zeitschrift eine so große Geschichte daraus machen würde, hatte er nicht erwartet, erzählte der Journalist später. Aber der „Stern“ hatte in jenem Jahr ohnehin kein besonders gutes Händchen für Sensationen: Vier Monate später blamierte sich das Blatt mit den vermeintlichen Tagebüchern Adolf Hitlers, die es zu entdecken geglaubt hatte.

Anders als die falschen Hitler-Tagebücher verbrannte die Story um das Honecker-Attentat nicht knapp zehn Millionen Mark. Allerdings flog Dieter Bub aus der DDR: Nach vier Jahren erfolgreicher journalistischer Arbeit musste er das Land innerhalb von 48 Stunden verlassen. Im Rückblick endete damit für ihn die „aufregendste Zeit [s]eines Lebens, Abenteuer, Herausforderung – und Albtraum“.

Albträume schien das „Besondere Vorkommnis“ dem vermeintlichen Opfer Erich Honecker nicht bereitet zu haben – obwohl es am Silvestertag 1982 tatsächlich einen Amoklauf eines in einer tiefen persönlichen Krise steckenden, alkoholisierten Handwerksmeisters gegeben hatte. Trotzdem ließ der höchste Repräsentant des Staates vorsorglich ein Dementi verfassen. Denn auch wenn der „Stern“ nicht auf der „Postzeitungsvertriebsliste“ der DDR zu finden war – solch eine Meldung lief nur Minuten nach Erscheinen des Blattes über die westlichen Rundfunk- und Fernsehstationen, und die wurden in seinem Reich vom Volk mit höchster Aufmerksamkeit verfolgt.

Und so landete am 11. Januar 1983 um 15.23 Uhr auf den Fernschreibern eine Meldung der Pressestelle des Ministeriums des Innern der DDR.

„Selbstmord nach Fahrerflucht“

Der 11. Januar 1983 war ein Dienstag – jener Tag der Woche, an dem die wöchentliche Sitzung des Politbüros des Zentralkomitees (ZK) der SED stattfand, auf der das Land hinter verschlossenen Türen regiert wurde. Was nach draußen drang, waren meist weniger aufsehenerregende Beschlüsse als ritualisierte Phrasen über die Rolle der Bedeutung und die Bedeutung der Rolle.

So war es auch an diesem Tag. Die Agenda dieser ersten Sitzung im neuen Jahr umfasste 23 Punkte mit 22 Beschlussvorlagen, die sich etwa mit „Maßnahmen zur Arbeit mit den Thesen des ZK der SED zum Karl-Marx-Jahr“ und „Schlußfolgerungen für die Erhöhung von Ordnung, Disziplin und Sicherheit im Eisenbahnwesen“ befassten. Das angebliche Attentat auf den „Generalsekretär des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Vorsitzenden des Staatsrates der Deutschen Demokratischen Republik und Vorsitzenden des Nationalen Verteidigungsrates der DDR“, das der „Stern“ Stunden zuvor vermeldet hatte, wurde nicht einmal erwähnt.

Natürlich wusste Erich Mielke von den Geschehnissen, denn die „Staatssicherheit“ der DDR war schließlich sein Job. Er hatte bereits in den Abendstunden des 31. Dezember 1982 erfahren, dass jenes „Besondere Vorkommnis“ keinen terroristischen Hintergrund befürchten ließ. Selbstverständlich informierte er seinen obersten Dienstherrn und setzte die üblichen Allheilmittel bei allen Abweichungen vom normierten DDR-Alltag ein: Die Zeugen wurden zum Schweigen verpflichtet, alle Informationen über das Ereignis mit der höchsten Geheimhaltungsstufe versehen – kurzum, das Ganze wurde vertuscht. Für den innersten Führungszirkel der SED gab es eine Meldung von dreißig Zeilen. Für einen Tagesordnungspunkt auf der Politbürositzung reichte das nicht.

Doch nun war die Geschichte in der Welt, und der Allgemeine Deutsche Nachrichtendienst (ADN) meldete: „Die Pressestelle des Ministeriums des Innern weist Falschmeldungen westlicher Agenturen und Presseorgane über einen Verkehrszwischenfall am 31. Dezember 1982 in Klosterfelde, Kreis Bernau, zurück. An diesem Tag war es zu einer schweren Verkehrsgefährdung durch den Fahrer eines Pkw vom Typ Lada gekommen. Nach Feststellung der Volkspolizei stand der Fahrer des Pkw unter starkem Alkoholeinfluss. Eine ärztliche Untersuchung ergab eine Blutalkoholkonzentration von 2,5 Promille. Nach schwerer Gefährdung des Straßenverkehrs war der Pkw-Fahrer den Aufforderungen, die Fahrt zu stoppen, nicht gefolgt, sondern beging Fahrerflucht. Als er durch eine Streife der Volkspolizei gestellt wurde, schoß der Volltrunkene aus einer Handfeuerwaffe. Dabei wurde ein Streifenangehöriger der Verkehrspolizei schwer verletzt. Bevor es gelang, den Täter festzunehmen, beging er mit seiner Schußwaffe Selbstmord.“

Eine derartige Meldung schien geradezu prädestiniert, im täglichen Nachrichtenstrudel unterzugehen. Davon, dass der „Verkehrszwischenfall“ den ersten Mann im Staate betraf, war nichts zu lesen, und gelernte DDR-Bürger stolperten allenfalls darüber, dass einer der ihrigen eine Schußwaffe besessen hatte.

Dass illegaler Waffenbesitz im Lande unnachsichtig verfolgt und rigide bestraft wurde, wusste jeder. Waffen von Jägern und Sportlern unterlagen strengsten Sicherheitsbestimmungen. Die Russen ballerten hin und wieder illegal herum, doch das galt ohnehin als Tabuthema. Allerdings munkelte man über „personengebundene“ Pistolen von SED-Funktionären bis hinunter zu den Kreisleitungen. Was steckte also hinter der merkwürdigen Meldung?

Den „Stern“ bekamen seinerzeit nur wenige DDR-Bürger zu sehen. Den meisten entgingen also auch die Fotos, die in der Zeitschrift abgedruckt waren: von der Straße der Roten Armee in Klosterfelde (mit eingeklinkter Kartenskizze), von der aus einem noblen Pelzkragen blickenden Freundin Paul Eßlings und von dessen geschiedener Frau mit den beiden Kindern am Wohnzimmertisch.

In den Westmedien verschwand die Geschichte recht schnell wieder. Die Konkurrenzblätter wollten offenbar nicht allzu viel Reklame für den „Stern“ machen und beschränkten sich auf kleinere Berichte.

Das Formelle regelte Botschafter Wolfgang Meyer vom DDR-Außenministerium. Am 14. Januar 1983 bestellte er den Korrespondenten Dieter Bub ein, um ihn wegen der „von der Springer-Presse zur Hetze gegen die DDR ausgeschlachteten Falschmeldung” zu rügen. Dass die Illustrierte „Stern“ mit Springer nichts zu tun hatte, überstieg offenbar die Vorstellungskraft der DDR-Funktionäre, die nur eine zentral gesteuerte Presse kannten.

Bub gab zu, gegen die Arbeitsordnung für auswärtige Korrespondenten verstoßen und ohne Genehmigung recherchiert zu haben. Das war schließlich sein tägliches Brot. Informationen über das wahre Leben in der DDR aus dem SED-Zentralorgan „Neues Deutschland“ zu gewinnen gelang nicht einmal seinen östlichen Kollegen. Überdies erwähnte er, die Geschichte vom Attentat sei mehreren Medien unmittelbar nach Neujahr gegen Geld angeboten worden.

Auf dem üblichen Dienstweg informierte Botschafter Meyer das „Große Haus“, und Hausherr Erich Honecker entschied kurzerhand, den unangenehm aufgefallenen Journalisten hinauszuwerfen. Zwei Stunden nach der ersten Unterredung teilte Meyer Bub den Entzug seiner Akkreditierung mit. Er habe die DDR „auf Grund grober Verletzungen der gesetzlichen Bestimmungen, wegen wahrheitswidriger und verleumderischer Berichterstattung” zu verlassen. Das war keine sonderlich dramatische Sanktion, denn Bub war bereits der vierte westdeutsche Korrespondent, den ein solches Verdikt traf.

Spurensuche in der märkischen Provinz

Das Holzverarbeitungswerk mit seiner seit Anfang der 1950er-Jahre betriebenen Produktion beliebter Küchenmöbel gibt es schon lange nicht mehr, und auch an die frühere Groß-LPG Pflanzenproduktion mit über 4000 Hektar Land von Schönerlinde bis Zerpenschleuse, Agrochemischem Zentrum und großem Kartoffellagerhaus erinnern sich nur noch die Alten. Klosterfelde ist ein 3000-Seelen-Ort wie hundert andere rund um Berlin. Das alte märkische Angerdorf gehört inzwischen zur Gemeinde Wandlitz.

Aus der dort gelegenen und streng bewachten „Waldsiedlung“ rauschten früher die beiden großen Citroën CX Prestige auf der F 109 durch Klosterfelde, wenn Erich Honecker in die Schorfheide zur Jagd fuhr. Der SED-Chef hatte dieses „Spitzenerzeugnis der französischen Industrie“ – so der zufriedene Nutzer drei Wochen, nachdem die DDR am 8. Juli 1978 mit Frankreich ihr bis dahin größtes Joint Venture über den Bau eines Pkw-Gelenkwellenwerks in Mosel abgeschlossen hatte – von Citroën-Generaldirektor Raymond Ravenel geschenkt bekommen. Seine Politbüro-Genossen fuhren derweil jene Volvo 264 TE (Top Executive), die die DDR-Staatsführung bei dem Turiner Autohersteller Bertone mit einem um siebzig Zentimeter verlängerten Radstand erworben hatte. Auch das Stasi-Begleitkommando nutzte – wenn auch in kleinerer Ausführung – die kantigen Autos aus Schweden.

Derartige Nobelkarossen sind heute auf der Straße durch Klosterfelde nicht mehr zu bestaunen. Daran, dass auch damals dafür nie viel Zeit blieb, erinnert sich ein ehemaliger Volkspolizist: „Die sind hier immer nur durchgerast. Wir hatten da nichts zu melden.“ Und auch, dass eines der auf der Ostseite der Bahnlinie nach Berlin stehenden bungalowartigen Wochenend- und Wohnhäuser mal jenem Mann gehört hatte, der am Silvester 1982 starb, wissen nur noch wenige.

In einem der ältesten und dürftigsten Häuser an der Dorfstraße wohnte die Mutter des angeblichen Attentäters Paul Eßling. Dessen hinterbliebener Sohn Ralf lebte auf dem weitläufigen väterlichen Anwesen. Man unternahm damals keinen Versuch, den anfangs nicht einmal Volljährigen von dort zu vertreiben. Lange noch fuhr er das zur Straftat benutzte Kraftfahrzeug, das man ihm mit zersplitterter Türscheibe und ohne den Schonbezug des Fahrersitzes zurückgegeben hatte.

Die meisten der Zeugen, die die Stasi am Silvesterabend 1982 und in den Tagen danach vernommen hatte, wohnten auch nach dem Ende der DDR noch am Ort. Dasselbe gilt für den Arzt, der den Tod des Ofenbaumeisters Paul Eßling festgestellt hatte. Der Mediziner, der gut über seinen Nachbarn informiert war, wurde in einem „Operativen Vorgang“ unter dem Decknamen „Landarzt” überwacht. Informationen über ihn sammelte unter anderem der inoffizielle Mitarbeiter (IM) „Hans Berger”, der überdies CDU und Kirche im Ort bespitzelte.

Paul Eßling, ein Vierteljahr vor seinem 43. Geburtstag auf so schreckliche Weise ums Leben gekommen, galt als ehrgeiziger Eigenbrötler. Aufgewachsen war er auf dem großväterlichen Grundstück im Ort. Seinen Vater lernte er erst kennen, als der aus der Kriegsgefangenschaft heimkehrte. Da war Paul schon fast neun Jahre alt. Die Ehe der Eltern wurde geschieden, und der Junge geriet vollständig unter den Einfluss von Vater und Großvater. Beide waren Handwerksmeister alter Schule, hart zu Untergebenen, Frauen und Kindern, dabei arbeitsam und trinkfest. Paul wurde wie sie.

Als Paul Eßlings eigene Ehe im Herbst 1981 geschieden wurde, zog die Frau mit den beiden Töchtern nach Berlin. Der 15-jährige Ralf blieb beim Vater, der zunehmend in eine tiefe Lebenskrise geriet, aus der er keinen Ausweg fand.

Paul Eßlings Urne ruht heute auf dem kleinen Friedhof an der Dorfkirche. Die von der Mutter geforderte Erdbestattung war damals nicht zugelassen worden. „Sie haben mir den Jungen erschossen!“ Das blieb ihre feste Überzeugung über all die Jahre, in denen man nur hinter vorgehaltener Hand über den Tod von Paul Eßling sprach. Niemand sagte ihr eindeutig, was wirklich geschehen war.

Zur Urnenbeisetzung Anfang Februar 1983 durfte nicht einmal eine Traueranzeige erscheinen. Keinerlei Aufsehen erregen, lautete Mielkes eindeutiger Befehl. Davon hatte es in den westlichen Medien schon mehr als genug gegeben. So blieben nur die Gerüchte – wie jenes, in der Asche Paul Eßlings läge noch die Kugel, als hätte nicht einmal eine Obduktion stattgefunden.

Dabei waren schon damals, 1983, alle an den Untersuchungen Beteiligten der Ansicht, dass jede Geheimniskrämerei in dieser Sache völlig unnötig, ja schädlich wäre. Schließlich seien alle Ermittlungen unter strenger Beachtung der gesetzlichen Vorschriften durchgeführt worden. Ein Sektionsprotokoll wurde angefertigt, es gab die Vernehmungsprotokolle der Zeugen und die Tatortuntersuchungen. Nur eine Anklage wurde nie erhoben. Denn der Beschuldigte war tot.

 

Die „Repräsentantenfahrt“

Sieben Jahre später neigte sich die Geschichte der DDR ihrem Ende zu. Statt an die Vergangenheit dachten die Menschen an die Zukunft. Für das Konvolut von vier säuberlich gebundenen Akten im Archiv des noch amtierenden Militäroberstaatsanwalts der DDR, Generalmajor Gierke, interessierte sich niemand, denn was in jenen Monaten an Stasi-Geschichten ans Licht kam, schien viel spannender.

Dabei klang schon der Kurztitel des Aktenpakets so ganz anders, als es die Gerüchte ein paar Jahre zuvor hätten erwarten lassen: „Todesursachenuntersuchung Paul Eßling – Bericht über den Abschluss der Untersuchung zum versuchten Mord an dem Angehörigen des MfS, Oberleutnant L., Rainer, am 31. 12. 1982 während seines Dienstes zur Absicherung einer Repräsentantenfahrt Ortslage Klosterfelde / Bernau und damit unmittelbar in Zusammenhang stehende Todesermittlungssache Eßling, Paul.“

Es ging also um einen „versuchten Mord“ an einem Stasi-Mitarbeiter. Und was war eigentlich eine „Repräsentantenfahrt“?

Letzteres lässt sich schnell klären. Die „Gleicheren unter den Gleichen“ im Arbeiter- und Bauernstaat wurden im SED-Kaderwelsch nicht Volksvertreter, sondern Repräsentanten genannt. Ließen sie sich irgendwohin bewegen, ganz egal, ob zum Staatsakt oder zum Freizeitvergnügen, war das eine Repräsentantenfahrt. Doch warum und wie sollte bei solch einer Kurzreise jemand ermordet werden, und wer war der darin verwickelte Repräsentant?

Eine Rekonstruktion. Der letzte Tag im Leben des Paul Eßling, ein Freitag, an dem, wenn überhaupt, nur bis mittags gearbeitet wurde, war ein trüber, schneeloser Wintertag. Am Vormittag hatte Paul seine Mutter aus ihrem Häuschen im Dorf abgeholt. Sie bereitete in der Küche des komfortablen Flachbaus am Wald, in dem ihr Sohn wohnte, das Mittagessen vor: Kartoffelsalat, wie der ihn liebte. Paul hatte seine Beziehungen zum Fleischer genutzt und dazu Filet besorgt. Sein 16-jähriger Sohn Ralf war unterdessen mit dem Moped ins Nachbardorf gefahren, um ein Stündchen auf seinem Pferd zu reiten, während der rastlose Meister selbst wie gewohnt in seinem weiträumigen Werkstatt- und Lagergebäude herumwerkelte.

Gegen 11.30 Uhr erschien Paul im Haus, um zu telefonieren. Dann verschwand er, ohne ein Wort zu sagen. Seine Mutter hörte den Wagen davonfahren. Sie wunderte sich nicht darüber, sie kannte ihren Sohn. Als der Enkel vom Reiten heimkehrte, trug sie das Essen auf.

Etwa zur selben Zeit setzten sich in der Liebermannstraße in Berlin-Weißensee zwei kräftige junge Männer um die dreißig in einen Volvo 164 E. Beide trugen die grünen Uniformen und weißen Mützen der Volkspolizei (VP). Vielleicht waren sie ein wenig sauer, ausgerechnet Silvester Dienst schieben zu müssen, aber als Offiziere des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) waren sie militärische Disziplin gewohnt. Auch die Verkleidung war nichts Neues für die beiden. Sie versahen an diesem Tag den „Sicherungsdienst der Verkehrspolizei im Rahmen des Personenschutzes führender Repräsentanten von Partei und Regierung“. Ihr Dienstauftrag lautete, die Fahrt des Generalsekretärs der SED, Erich Honecker, von Wandlitz aus in Richtung Schorfheide zu begleiten. Der erste Mann im Staate wollte zum Jahresausklang noch ein bisschen seinem liebsten Hobby frönen, der Jagd.

Unter dem Kommando von Oberst Rudolf Knaut waren in der Abteilung 7 (Nahsicherung) der Hauptabteilung Personenschutz im MfS insgesamt 300 Mann ausschließlich für derartige Schutzaufgaben vorgesehen. Die beiden „Verkehrspolizisten“ gehörten zur Unterabteilung 2 (Personensicherung Honecker, Stoph und Sindermann).

Pünktlich um 13.00 Uhr schloss sich der Volvo am Tor der Waldsiedlung als „Nachläufer“ den beiden Citroën an, dem „Hauptwagen“ und dessen Begleitfahrzeug, dem „Kommandowagen“, der auch als Funkzentrale fungierte. In Wandlitz bog die kleine Kolonne auf die F 109 nach Norden ab, durchfuhr mit den üblichen neunzig Stundenkilometern den Ort, in dem laut Straßenverkehrsordnung wie überall in geschlossenen Ortschaften Tempo fünfzig erlaubt war, und näherte sich der nächsten Kreuzung. Von links, aus Richtung Stolzenhagen, kam ein dunkelgrüner Lada heran, hielt am Stoppschild kurz an und bog unmittelbar vor dem Hauptwagen auf die F 109 ein. Die „Sicherungsfahrt“ musste „sehr stark abbremsen“, wie in den Akten vermerkt wurde, dann überholten die beiden Citroën den Lada 1300 ohne Schwierigkeiten, während der Volvo hinter ihm blieb.

Möglicherweise warf der „führende Repräsentant“ in diesem Augenblick einen Blick auf den Fahrer des Autos, der verkrampft hinter seinem Lenkrad saß und vergeblich versuchte, das Tempo mitzuhalten. Für seine Personenschützer war alles in Ordnung, sie hatten die wichtigste Regel befolgt: Der Konvoi musste rollen und durfte sich durch keinen Zwischenfall aufhalten lassen. Trotzdem sollte auf die „Personifizierung und Abstrafung“ des Verkehrsrowdys im Lada nicht verzichtet werden. Seitdem am 14. September 1973 Georg Ewald, Politbüro-Kandidat und Landwirtschaftsminister in Thüringen, bei solch einer Kolonnenfahrt tödlich verunglückt war, herrschten strengste Bestimmungen für derlei Zwischenfälle.

So erhielt der Kommandant des Volvo, Oberleutnant Rainer L., ein ehemaliger Betonbauer, aus dem Kommandowagen per Funk die Anweisung, den Lada zu stoppen. Sein Kraftfahrer, Oberleutnant Horst H., schaltete Blaulicht und Sirene ein und versuchte, den Lada zu überholen. Der drängte nach links. Oberleutnant L. wies aus dem geöffneten Fenster mit dem schwarz-weißen Regulierstab unmissverständlich nach rechts.

Die beiden Citroën waren längst vorbei und weit voraus. Der Lada-Fahrer unternahm einen letzten verzweifelten Versuch, schneller zu sein als die vermeintliche Polizei. Starren Blicks überholte er den Volvo rechts mit ungefähr neunzig Stundenkilometern.

„Der ist doch besoffen!“, sagte L. zu seinem Fahrer. Der setzte erneut zum Überholen an. Ein in Gegenrichtung fahrender Trabant schaffte es gerade noch, auf den unbefestigten Randstreifen auszuweichen.

Das ungleiche Wettrennen endete hinter den ersten Häusern von Klosterfelde. Ein entgegenkommender Lkw, der auf das Sondersignal hin hielt, versperrte die Hälfte der Fahrbahn und nahm dem Lada jede Fluchtmöglichkeit. Der Wagen kam anderthalb Meter hinter dem Volvo zum Stehen, in dem Horst H. mit laufendem Motor und eingelegtem Gang wartete, um einem eventuellen Auffahrunfall zu entgehen.

Rainer L. stieg aus und bedeutete dem Lkw-Fahrer, er könne weiterfahren. Dann ging er auf den Lada zu. „Was soll denn das hier werden?“, rief er. Er war sicher, es mit einem Betrunkenen zu tun zu haben. Immerhin war Silvester.

Der Lada-Fahrer, mittelgroß und mit einer schwarzen Lederjacke bekleidet, war ebenfalls ausgestiegen und stand hinter der Fahrertür seines Wagens.

High Noon auf der Straße der Roten Armee

12.00 Uhr mittags war seit gut einer Stunde vorbei, doch die sprichwörtliche High-Noon-Spannung lag in der Luft, als plötzlich das Unerwartete geschah: Der Mann aus dem Lada griff unter seiner Jacke zur Hüfte, zog eine Pistole und schoss.

L. spürte einen stechenden Schmerz in der linken Brusthälfte und wich unwillkürlich ein paar Schritte zurück. Sein Kollege und Genosse Horst H., ausgebildet für alle Situationen, die beim „Schutz von Repräsentanten“ auftreten könnten, hielt im ersten Augenblick nicht für möglich, was sich da wenige Meter von ihm entfernt abspielte. Er zog seine 9-mm-Makarow und lud durch. Noch im Aussteigen begriffen und ohne über das Visier zu zielen, schoss er zweimal am Mittelholm des Volvo vorbei auf den Mann, der gebückt hinter der Lada-Tür stand und mit seiner Pistole hantierte. Die Türscheibe splitterte. Der Mann in der Lederjacke hob wiederum seine Waffe, in Kopfhöhe diesmal, zielte auf die eigene Schläfe und schoss ein zweites Mal. Dann brach er neben dem Hinterrad seines Autos zusammen.

Mit der Waffe in der Hand näherte sich Horst H. vorsichtig dem am Boden Liegenden und stieß dessen Pistole mit dem Fuß zur Seite. Erst als er sicher war, dass der Mann handlungsunfähig war, steckte er seine Makarow ein.

Inzwischen war Oberleutnant L. zum Dienstfahrzeug gewankt. „Das Schwein hat mit Platzmunition geschossen, das drückt!“, sagte er gepresst. Der Schmerz über dem Herzen verstärkte sich. Erst als er im Auto saß, entdeckte er das Blut auf seiner Uniform. Er setzte einen Funkspruch an die Zentrale ab und forderte einen Rettungswagen an.