Attentat auf Honecker und andere Besondere Vorkommnisse

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Oberleutnant Horst H. kümmerte sich um den Mann auf der Fahrbahn, brachte ihn in eine stabile Seitenlage, wie er es gelernt hatte, und legte ihm den Sitzbezug aus dem Lada unter den Kopf. Eine Krankenschwester, die angehalten hatte, um zu helfen, machte ihm klar, dass der Mann, dessen Blut in breitem Strom über die Straße rann, tot war.

Auch der Fahrer des Lkw S 4000 und sein Sohn waren hinzugetreten. Angeblich hatten sie bei laufendem Motor die Schüsse nicht gehört, wohl aber beim Blick nach hinten den Lada-Fahrer zusammenbrechen sehen. Anwohner, die sich anfangs weder über das gewohnte Sondersignal noch über das Knallen am Silvestertag gewundert hatten, kamen aus den nahen Häusern. Es war ungefähr 13.10 Uhr. Eine Stunde später wurde Oberleutnant Rainer L. mit einem Lungendurchschuss drei Zentimeter über dem Herzen in die MfS-Klinik Berlin-Buch eingeliefert. Sein linker Lungenflügel war zusammengefallen, aus dem Rippenfellraum mussten 800 Milliliter Blut entfernt werden. Sein Zustand war ernst, besserte sich aber rasch.

Erst gegen 15.30 Uhr traf die Untersuchungskommission der Staatssicherheit am „Ereignisort“ ein, an dem nichts verändert worden war. Noch immer lag der Tote unter einer Decke neben seinem Pkw. Über die Identität bestand kein Zweifel. Jeder im Ort kannte den Handwerksmeister Paul Eßling und seinen grünen Lada. Der herbeigerufene Mediziner war Eßlings behandelnder Arzt und Nachbar. Ohne die Leiche unter der Decke vollständig zu untersuchen, diagnostizierte er den Tod durch einen Kopfschuss und stellte den Totenschein aus.

Die Tatortuntersuchung

Alle Ermittlungen und Untersuchungen wurden von Anfang an „zuständigkeitshalber“ von den Kriminalisten und Juristen der Spezialkommission der Hauptabteilung Untersuchung des MfS geführt. Intern hieß der Bereich, dem die Aufklärung aller „öffentlichkeitswirksamen“ Ereignisse und schweren Straftaten zufielen, Vorkommnisuntersuchung. Er war für die kriminalistischen Untersuchungen etwa bei Flugzeug- und Eisenbahnunglücken, spektakulären Kindesmorden oder Straftaten zuständig, von denen „Repräsentanten” betroffen waren.

In Klosterfelde, wo die vielbefahrene F 109 von der Volkspolizei seit Stunden großräumig abgesperrt war, lautete der Befehl, alle Untersuchungen am Ereignisort in kürzester Frist abzuschließen, um das entstandene Verkehrschaos so rasch wie möglich abzubauen. Inzwischen sprach bereits die ganze Gegend von der Schießerei.

Die Kriminalisten des MfS fanden in unmittelbarer Nähe des Volvo zwei 9-mm-Hülsen aus der Makarow von Horst H. Eine nicht abgeschossene 7,65-mm-Patrone lag drei Meter vom Kopf des Toten entfernt auf der Fahrbahn. Eine leere 7,65-mm-Hülse hatte der Tote in der Jackentasche, eine zweite wurde am nächsten Tag nach aufwendigen Sucharbeiten mit Metalldetektoren am gegenüberliegenden Straßenrand gefunden. Deren Projektil steckte in der Oberbekleidung des verletzten Oberleutnants, wie sich herausstellte.

Man brachte die Leiche Paul Eßlings in den Hof des nächstgelegenen Hauses an der heutigen Berliner Chaussee. Von dort wurde sie am Abend zur gerichtsmedizinischen Untersuchung abtransportiert. Zwei Einsatzfahrzeuge der Feuerwehr standen bereit, um sofort nach dem vorläufigen Abschluss der Untersuchungen – inzwischen war es längst dunkel – die Fahrbahn zu reinigen.

Aus kriminalistischer Sicht war das eine Fehlentscheidung. Wohl deshalb wurden die zweite 7,65-mm-Hülse und das zweite Projektil niemals gefunden. Ungeklärt blieb vorerst auch der Verbleib eines der beiden Makarow-Geschosse. Später gaben die beiden Zeugen im Lkw dazu einen Hinweis: Die Ladeklappe ihres S 4000 wies eine einen halben Zentimeter tiefe Mulde wie von einem Geschoss auf.

Drei Anwohner an der Straße wurden noch am Silvesterabend in Wandlitz vernommen. Zwei hatten gesehen, dass der Lada-Fahrer zuerst auf den Verkehrspolizisten geschossen hatte, bevor er seine Waffe gegen die eigene Schläfe richtete. Die Zeugenaussagen widersprechen sich allerdings, was die Anzahl der Schüsse betraf.

Als ein Berliner Journalist mehr als elf Jahre später die Zeugen, darunter auch die Insassen des Lkw, noch einmal befragte, wollten nicht mehr alle zu ihren damaligen Aussagen stehen. Grund genug für die Staatsanwaltschaft in Neuruppin, erneut Ermittlungen im Fall Paul Eßling aufzunehmen, weil sie nun davon ausging, die Staatssicherheit habe seinerzeit Druck auf die Zeugen ausgeübt.

Das ist insbesondere hinsichtlich der ersten Vernehmungen am Silvesterabend unwahrscheinlich. Die Zeugen schilderten unabhängig voneinander, dass Eßling zuerst geschossen und später die Waffe gegen sich selbst gerichtet habe. Ein Versuch, die Zeugen zu beeinflussen, wäre auch logisch nicht erklärbar. Die Stasi musste ihren noch unter Schock stehenden und bis dahin nicht vernehmungsfähigen Oberleutnant des Personenschutzes nicht vor dem viel später im Raum stehenden Vorwurf bewahren, er hätte „einen Amokschützen und potenziellen Mörder hingerichtet“. Und hätte Horst H. nach einem aufgesetzten Nahschuss – der wurde im Nachhinein für möglich gehalten – unter den Augen der Zeugen seiner Tat die Leiche in die stabile Seitenlage gebracht und ihr den Schonbezug unter den Kopf gelegt? Die Aussagen von H., der erst am 6. Januar 1983 aktenkundig vernommen wurde, und Rainer L., dessen Vernehmung sogar erst am 2. Februar erfolgte, stimmten, abgesehen von geringfügigen Details, überein.

Wie nicht anders zu erwarten, verpflichtete die Staatssicherheit alle Zeugen zu absoluter Verschwiegenheit über den Vorfall. Paul Eßlings Mutter erfuhr erst am Neujahrstag vom Tod ihres Sohns. Am Silvesternachmittag hatte sie der Enkel, der noch keinen Führerschein besaß, auf Schleichwegen zu ihrem nur wenige Hundert Meter vom Ereignisort entfernten Haus direkt an der F 109 gefahren. Abends tauchte zweimal die Volkspolizei jeweils in Begleitung eines Zivilisten bei ihr auf. Beim ersten Besuch erkundigte man sich, ob sie ihren Reisepass bereits verlängert habe – als Rentnerin durfte sie mit diesem Dokument in den Westen fahren – und welche Westkontakte sie besitze. Der zweite Besuch galt ihrem Enkel. Doch der feierte bei Freunden im Nachbarort Silvester. Die Schießerei am Ortseingang von Klosterfelde war auch dort das beherrschende Thema. Erst als er nachts gegen 2.30 Uhr heimkehrte und die Untersuchungskommission im Hause antraf, erfuhr er, dass es sich bei dem Toten um seinen Vater handelte.

Das Sektionsprotokoll

Am Neujahrstag 1983 begann um 10.00 Uhr morgens an der Militärmedizinischen Akademie Bad Saarow unter Aufsicht des Militärstaatsanwalts Oberstleutnant Möller die Sektion der Leiche des Paul Eßling. Oberst Medizinalrat Professor Dr. sc. med. Schmechta, Leiter des Instituts für Gerichtliche Medizin, nahm sie selbst vor.

Der mit einer Fotodokumentation versehene ausführliche Leichenöffnungsbericht klärte die Todesursache eindeutig. Da er in diesem Fall das wichtigste Dokument ist, sei er hier, trotz der schwer verständlichen Mediziner-Sprache, ausführlich zitiert:

Die Leichenöffnung des E. ergab Befunde einer Schußverletzung des Kopfes und einer Schußverletzung des Rumpfes in Höhe des Beckens. Bei der Kopfschußverletzung befindet sich der Einschuß in der rechten Schläfenregion oberhalb des oberen Ohrmuschelrandes und ist der Ausschuß links der Kopfmitte lokalisiert. Das Geschoß hat den Schädel in Querrichtung und unter einem geringgradig ansteigenden Winkel durchsetzt. Die Einschußverletzung wies die Zeichen eines sog. absoluten Nahschusses auf (Waffe der Hautoberfläche aufgesetzt bzw. Schußentfernung bis 0,5 cm). Eine außergewöhnlich starke Beschmauchung war in der Umgebung der Schädeleinschußöffnung und an der harten Hirnhaut darunter ausgeprägt. Bei der zweiten Schußverletzung handelt es sich um einen Durchschuß des Körpers von der rechten Unterbauchregion zur linken Gesäßseite mit einem geringen Winkel nach unten (Schußrichtung gering absteigend gegenüber der Horizontalen). Nahschußzeichen waren mit bloßem Auge nicht nachweisbar. Todesursache des E. ist die Schußverletzung des Kopfes infolge der Hirngewebszerreißungen und der Schädelknochenberstungsbrüche.

Beim Entkleiden des Toten fand sich in seiner Turnhose das 9-mm-Projektil der Makarow. Es handelte sich mit großer Wahrscheinlichkeit um dieselbe Kugel, die vorher die Scheibe des Lada durchschlagen hatte. Weiter verzeichnete die Sektionsdiagnose:

Schußverletzung des Kopfes: Beschriebene Einschußverletzung der rechten Schläfenregion 5,5 cm oberhalb des oberen Ohrmuschelansatzes (166 cm oberhalb der Fußsohle). Feiner sog. Schmutzsaum der Wundränder. Zeichen des absoluten Nahschusses: Ausbildung einer Pulverschmauchhöhle mit verstreuten grauschwärzlichen Pulverschmauchablagerungen unter der Hautoberfläche, unter dem Muskelüberzug des rechten Schläfenmuskels und zwischen den Muskelfasern desselben. Die 1 cm breite grauschwarze Beschmauchung in der Umgebung der Knocheneinschußlücke. Rötliche Verfärbung der Muskelfasern des rechten Schläfenmuskels um den Schußkanal. Pfennigstückgroße grauschwarze Beschmauchung der harten Hirnhaut unter der Schädeleinschußöffnung. Handtellergroße frische dunkelrote Kopfschwartenblutung der Stirn- / Scheitelregion. Längsovale 1,5 cm mal 0,8 cm große Einschußverletzung des Schädels am vorderen oberen Rand der rechten Schläfenbeinschuppe. Trichterartige Erweiterung nach innen. Fetzige, etwa 3 cm Zerreißung der harten Hirnhaut unter der Einschußöffnung. Von der Schädeleinschußöffnung strahlig ausgehende Schädelbrüche in Richtung des rechten Stirnbeinhöckers, zur Scheitelmitte und zum rechten Scheitelbeinhöcker sowie in Kopflängsrichtung zur rechten Hinterhauptseite … Vereinzelte frische rote Punktblutungen in der Umgebung der Hirnschußverletzung … Etwa 3 cm mal 3,5 cm große Schädelknochenausschußverletzung an der Stirnbein-Scheitelbeingrenze links der Pfeilnahtkreuzung. Trichterförmige Erweiterung der Knochenlücke nach außen (Durchmesser an der inneren Knochentafel etwa 2 mal 2 cm). Von der Knochenausschußverletzung ausgehende strahlig angeordnete Schädelberstungsbrüche … Heraussprengung von 2 jeweils etwa 5 mal 5 cm großen Scheitelbeinfragmenten am Hinterrand der Knochenausschußöffnung. Zerreißung der harten Hirnhaut unter der Schädelausschußöffnung. Beschriebene Ausschußverletzung der Kopfschwarte links hinter der Kopfmitte 12 cm oberhalb der linken Augenbraue (169 cm oberhalb der Fußsohle).

 

Schußverletzung des Rumpfes: … Einschußverletzung des rechten Unterbauches (94 cm oberhalb der Fußsohle) … Schußverletzung der rechten äußeren Hüftschlagader von ovalärer Gestalt und etwa 0,6 mal 0,8 cm Durchmesser … Zerreißung der Hinterwand der Harnblase mit etwa 2 cm mal 3 cm großer Eröffnung der Harnblase. Geronnenes Blut in der Harnblase. Schußkanal durch die linken inneren Hüftmuskeln am Unterrand des linken Darmbeines und durch die linksseitige Gesäßmuskulatur. Ausschußverletzung der Haut der linken Gesäßhälfte 86 cm oberhalb der Fußsohle.

Allgemeines stärkeres Hirnoedem. Deutliche Blutarmut der inneren Organe. Wenig flüssiges Leichenblut. Stärkere netzartige Kohlefarbstoffablagerung unter dem Lungenfell beider Lungen. Verfettung der Leber.

Eine sogenannte Stanzmarke vom Aufsetzen der Waffe in der rechten Schläfenregion fehlte. Auch an der 7,65-mm-Waffe waren keine Hautpartikel oder andere direkte Spuren eines aufgesetzten Nahschusses festzustellen.

Ob auch die Makarow-Pistole auf solche Spuren untersucht wurde, geht aus dem Protokoll nicht hervor. Es fand jedoch eine eingehende Untersuchung der Schussspuren statt, bei der die Schmauchelemente Antimon, Blei und Kupfer unter der Haut des Schläfenlappens und an der (rechten) Schusshand Eßlings nach der atomabsorptionsspektrofotometrischen Methode bestimmt und verglichen wurden. Das Gewichtsverhältnis der Blei- und Kupferspuren an der Einschussstelle stimmte mit denen der Wischspuren von Eßlings rechter Hand überein. Daraus ergab sich laut Gutachten zweifelsfrei der Nachweis eines absoluten Nahschusses, den E. sich selbst beigebracht hatte.

Die „Stern“-Story und ihre Schwächen

In Klosterfelde und Umgebung begannen in den ersten Januartagen 1983 intensive Nachforschungen der Staatssicherheit, insbesondere im weitverzweigten Kunden- und Bekanntenkreis des Handwerksmeisters. Man war bemüht, „Umfeld und Motivation des Attentäters“ und die Herkunft der Waffe aufzuklären. Diese Ermittlungen waren nach gut einer Woche in den wesentlichen Punkten abgeschlossen. Dass inzwischen die Gerüchteküche brodelte und die Legende vom Attentat selbst den Berliner Pfarrer Rainer Eppelmann erreicht hatte, wusste die Stasi ebenfalls. Wichtigtuerische Informanten schrieben sich die Finger wund – in den Akten findet sich so manch unterhaltsames Schriftstück.

Überraschenderweise hatte jedoch, unbemerkt vom MfS, zur selben Zeit noch jemand in Klosterfelde, Wandlitz und Stolzenhagen recherchiert. Der Mann aus Berlin war in einem unauffälligen Wagen mit DDR-Kennzeichen aufgetaucht und fündig geworden: „Stern“-Korrespondent Dieter Bub, dem ein Ortsansässiger eine Information über den ungewöhnlichen Zwischenfall zugespielt hatte. Zum Erstaunen der Westmedien und zum grimmigen Ärger der DDR-Oberen konnte Bub mit echten Fotos des vermeintlichen Attentäters, seiner Familie, seines Hauses und seiner Freundin aufwarten. Auch trat er Einzelheiten aus dem Familienleben des unglücklich Geschiedenen breit, die in Klosterfelde die Spatzen von den Dächern pfiffen.

Der Westkorrespondent, der sich ohne Genehmigung des Außenministeriums auf verbotenem Terrain bewegte und sein Risiko kannte, kam an die tatsächlichen Augenzeugen nicht heran. Der „Stern“ schmückte deshalb seine fünfseitige Titelstory mit allerlei erfundenen Details aus. „Die anderen Stasi-Männer reißen ihre Kalaschnikows hoch …“, heißt es da etwa. Ein Foto des angeblichen Tatorts und die bereits erwähnte fantasievolle Zeichnung, auf der Eßlings Lada von zwei Volvos in die Zange genommen wird, während ein dritter Bewachungswagen und ein Polizeifahrzeug zu Honeckers Citroën aufschließen und weiterrasen, gehören dazu. Selbst die vermeintlichen Wagenspuren der Aktion entdeckte Bub auf dem unbefestigten Randstreifen vor dem Haus Berliner Chaussee 5. Das lag allerdings 200 Meter vom Ereignisort entfernt, die Reifenspuren stammten von den Absperrfahrzeugen.

Das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“, wohl nicht ganz ohne Neid auf Bubs waghalsige Recherchen, zweifelte die Darstellung des Kollegen an:

„In diesem Moment [in dem Paul Eßling auf das Ende des Honecker-Konvois stieß, J. E.]“, folgert Stern-Bub, „muß den Ofensetzer aus Klosterfelde die kalte Wut gepackt haben.“ Sein einziger Beleg: Eßling habe nach Aussagen von Bekannten häufig „unbeherrscht auf Honecker und die SED-Regierung geschimpft. Wenn er nur könnte, wollte er es denen schon zeigen“ – ein Indiz, an dem gemessen es in der notorisch unzufriedenen DDR-Bevölkerung von potenziellen Attentätern nur so wimmeln müßte. Der Stern weiß noch mehr. Zwar saß Eßling nach Bubs Schilderung allein im Auto, doch der Leser ist Live dabei: „Ohne den Fuß vom Gaspedal zu nehmen, holt er seinen Revolver aus dem Handschuhfach und entsichert ihn.“ Ob Eßling es Honecker tatsächlich zeigen wollte oder ob der Amok-Fahrer aus privatem Kummer einfach durchdrehte und, als er gestoppt wurde, den ersten besten anschoß, bevor er sich selbst umbrachte, oder ob er in einer Kurzschlußhandlung in jedem Fall Selbstmord begehen wollte – das wußte in Wahrheit Eßling allein. In der SED zirkuliert noch eine andere Version: Danach tötete Eßling möglicherweise nicht sich selbst, sondern wurde von Sicherheitsbeamten erschossen; unsinnig ist in jedem Fall die Stern-Behauptung, der Staatsratsvorsitzende sei „nur knapp einem Attentat entkommen“.

Auch Marlies Menge, von 1978 bis 1990 für die Wochenzeitung „Die Zeit“ in Ost-Berlin, machte sich so ihre Gedanken. Am 14. Januar 1983 schrieb sie in ihrem Blatt: „Ein Ofensetzer, so hieß es, sei es gewesen. Er habe seine Öfen bei Mitarbeitern von Honecker gesetzt und sich über den üppigen Lebensstil der hohen Genossen geärgert.“ Zutreffend stellt sie fest: „Zunächst wurde über das Motiv gestaunt: Ein Handwerker, der sich über das Wohlleben anderer aufregt! Egal, ob ein Handwerker einen privaten Betrieb hat, mit staatlicher Beteiligung arbeitet oder in einer staatlichen Produktionsgemeinschaft – jeder in der DDR weiß, daß es Handwerkern nicht schlecht geht.“ Und dann äußerte die Journalistin einen Gedanken, der eigentlich auf der Hand lag: „Wenn ihn das gute Leben seiner Auftraggeber wirklich so empört hat, warum hat er dann nicht einen Sprengsatz in einem der Öfen montiert, fragte man sich. Das hätte immerhin mehr Aussicht auf Erfolg gehabt als ein Attentat auf offener Straße.“

Attentat oder nicht – Mielkes Firma wurde nach der „Stern“-Veröffentlichung erst richtig aktiv in Klosterfelde. Angeblich wurden zeitweilig sogar die Telefonverbindungen nach Berlin unterbrochen, doch dabei konnte es sich auch um eine normale Störung im überalterten Telefonnetz der DDR-Post handeln. Jedenfalls war die Staatssicherheit fieberhaft bemüht, Bubs Informanten ausfindig zu machen. Aber nicht einmal die eigenen IM, die es in der Gegend um Wandlitz noch reichlicher gab als anderswo in der DDR, brachten Klarheit in die Angelegenheit. Man vernahm ein Dutzend Leute, doch keiner wusste etwas. Nur eine Frau wollte einen „West-Wagen“ im Ort gesehen haben.

In seiner nächsten Ausgabe vom 18. Januar – Bub war seit Tagen aus der DDR ausgewiesen – schob der „Stern“ noch einmal nach, allerdings nur auf Seite 124: Neue Fakten, neue Fotos – diesmal von einem Flensburger Verwandten der Familie Eßling, Immo Sch., beigesteuert. Von seinen Besuchen bei Paul Eßling wusste Sch. zu berichten, der sei ein höchst eigensinniger Mensch und überdies ein Waffennarr gewesen, keinesfalls jedoch ein Alkoholiker. Ein Attentäter mit 2,5 Promille (die wies ein nach dem gaschromatografischen Verfahren gewonnenes Gutachten dem Toten nach) machte offenbar nicht so viel her wie einer, der aus Zorn auf das Regime zur Waffe griff.

Ob ein geübter Schütze auch oder gerade in diesem Zustand sein Ziel zu treffen vermag, steht auf einem anderen Blatt. Paul Eßling war jedenfalls ein ausgezeichneter Schütze. Die zahlreichen Schießscheiben in seinem Haus bewiesen es, und die GST, die vormilitärische „Gesellschaft für Sport und Technik“, in Klosterfelde bestätigte es den Ermittlern von der Staatssicherheit.

Paul Eßling – ein Mann mit Problemen

Im Ort wusste jeder, was Immo Sch. und der „Stern“ nicht wahrhaben wollten: Paul Eßling hatte getrunken. Und auch die Stasi wusste es. Bereits am 24. Januar 1982 hatte man ihm in Berlin nach einer Verkehrskontrolle die Fahrerlaubnis entzogen. Er hatte mit einem Blutalkoholgehalt von 1,9 Milligramm pro Liter die zulässige Höchstgeschwindigkeit um 19 Stundenkilometer überschritten. Doch der Mann wusste sich zu helfen. Wozu hatte man schließlich gute Bekannte bei einer gewissen Firma? Mit einem Ofensetzer, der noch dazu das nötige Material besorgen konnte, wollte es sich niemand verderben. Ein Kamin für die „Datsche“ war der Gipfel kleinbürgerlichen Wohlstands, und Paul Eßling nutzte das.

Deshalb wandte er sich an Hauptmann T. von der MfS-Kreisdienststelle Bernau, der wiederum den Genossen St. von der HA VII/1, verantwortlich für die Offiziershochschule der VP in Biesenthal, so gut kannte, dass er ihn um Unterstützung angehen konnte. Eine Hand wusch nun mal die andere. Der stellvertretende Leiter der Kreisdienststelle bat die H VII/1, das bei der VP-Inspektion Pankow anstehende „Verfahren gegen Eßling, Paul … einzuziehen und uns zur operativen Nutzung zu übersenden“. Einem solchen Wunsch der Stasi konnte sich die Polizei nicht verschließen – was galten da schon Recht und Gesetz? Eine Begründung für den Deal mit eigennützigem Hintergrund lieferte T. ein Jahr später nach: „E. war mir persönlich bekannt, es bestand ein operatives Interesse resultierend aus bedeutsamen Kontakten … Einfluß auf die Überlegungen … hatte auch, daß Eßling für viele Genossen des MfS gearbeitet hatte und eine Arbeit für einen Genossen der HA XVIII bei Groß Köris zugesagt, aber noch nicht ausgeführt hatte. Im Frühsommer 82 wurde dem E. die Fahrerlaubnis zurückgegeben.“

Trotz der „unbürokratischen“ Regelung seines Vergehens war das Jahr 1982 eine besonders kritische Zeit im Leben Paul Eßlings. Inzwischen hatte er den letzten Halt verloren, den ihm die Familie vorher noch geboten hatte, obwohl er Frau und Kinder mit seinem herrischen Verhalten tyrannisierte. Seine Unausgeglichenheit und ständige Unzufriedenheit schlugen sich immer öfter in einer Unbeherrschtheit seinen Kunden und Bekannten gegenüber nieder. Sein Alkoholkonsum stieg. Darunter litten auch seine letzten persönlichen Beziehungen.

Die 38-jährige Geschäftsfrau Sieglinde St. aus Stolzenhagen, um die er hartnäckig geworben hatte, kündigte ihm ein paar Tage vor Weihnachten an, die Beziehung zu ihm endgültig zu lösen. Eßling war verzweifelt und betrank sich sinnlos. Als der Schnaps alle war, griff er nach vergälltem Brennspiritus. Sogar von einem Suizidversuch ist die Rede. Ein guter Bekannter, den er in der Nacht zum 23. Dezember mehrfach anrief, riet ihm dringend, einen Arzt aufzusuchen.

Ob Eßling am Silvestervormittag in seiner Werkstatt getrunken hatte, bevor er erneut bei Frau St. anrief und seinen Besuch ankündigte, ist ungewiss. Frau St. und ihre Mitarbeiter stießen gerade mit einem Glas Sekt auf den Feierabend an, und sie war nicht bereit, mit ihm zu reden. Als Eßling gegen 12.00 Uhr dennoch vor ihrem Haus aufkreuzte, drohte er: „Ich gehe jetzt rein und räume bei dir auf!“ Sieglinde St. blieb ruhig und sagte, er solle verschwinden. Zwanzig Minuten später war er wieder da, stieg aber diesmal nicht aus seinem Auto aus.

Elf Jahre später erinnerte sich Frau St.: „Kann sein, dass er etwas getrunken hatte, besoffen war er jedenfalls nicht.“ Ausführlicher sprechen mochte sie über die alte Geschichte nicht mehr – zu sehr hatten sie damals die zahlreichen Verhöre durch die Stasi belastet. Die hatte sogar unterstellt, Sieglinde St. sei die „Stern“-Informantin gewesen und habe dafür ein Honorar von 30 000 Westmark kassiert. Das wollte jedenfalls der Berliner „Tagesspiegel“ nach dem Ende der DDR von ihr erfahren haben.

Doch zurück zu jenem verhängnisvollen Silvestertag. Wahrscheinlich hatte Eßling zu diesem Zeitpunkt nur einen ersten Schluck aus der Flasche Goldbrand genommen, die er in den zwanzig Minuten zwischen seinen beiden Besuchen in Stolzenhagen im Wandlitzer Imbiss „Zum dicken Kurt“ gekauft hatte. Sein Frust über das abweisende Verhalten der Frau war möglicherweise der Auslöser für die späteren Ereignisse. Auf dem Beifahrersitz neben ihm lagen das Fernglas, das er immer bei sich hatte, und die Flasche Goldbrand, aus der er ungefähr 0,3 Liter getrunken hatte – also sieben bis acht „Doppelte“, was mit dem Blutalkohol-Untersuchungsergebnis übereinstimmt. Ein 23 Zentimeter langes Messer lag griffbereit im Fußraum des Autos. In Eßlings Gürtel steckte die 7,65-mm-Walther-Pistole, mit der er schon öfter Schießübungen veranstaltet hatte.

 

In seiner Tasche trug Paul Eßling über 1000 Mark bei sich, dazu den Entwurf einer Heiratsannonce für die Zeitung „Wochenpost“: „Die 40 sind überschritten, die erste Ehe ist geschieden. Vater mit 16jährigem Sohn, nur 1,70 groß und auch keine Schönheit, kann auch nicht mit Hochschul-Abschluß glänzen und muß kräftig arbeiten, in schöner Gegend bei Berlin, ortsgebunden, überzeugter Nichtraucher, sucht hübsche, lebenserfahrene Frau, die bereit ist, sich anzupassen, so wie er es auch möchte. Fahrerlaubnis erwünscht, obwohl eigene vorhanden. Bitte Bildzuschriften …“

Der erfolgreiche Handwerker träumte offenbar von einem neuen Leben. Doch seine Abhängigkeit vom Alkohol bestimmte seine Gegenwart. Ein Teufelskreis, aus dem er keinen Ausweg fand.

Die Ermittler der Staatssicherheit stießen in Eßlings Haus und seiner Werkstatt überall auf leere Flaschen. Sechs Tage lang durchsuchten sie unter Aufsicht des Militärstaatsanwalts B. das gesamte Anwesen. Sie durchforschten selbst den Karpfenteich mit Detektorsonden. Die Ausbeute: ein rostiger Nagel.

Ein Waffennarr mit Beziehungen

Aussagekräftiger war, was man im Haus und unter dem Dach des großen Nebengebäudes fand. Kein Zweifel, der Mann, dem das alles gehört hatte, musste ein regelrechter Waffennarr gewesen sein! Über dem Kamin hing eine ganze Kollektion von Waffen: ein Florett, ein indischer Dolch, mehrere Waidmesser und eine Armbrust. Darüber hinaus besaß Paul Eßling eine französische Doppelflinte mit Zielfernrohr, Kaliber 16 x 24, dazu 617 Patronen, eine Büchsflinte der Firma C. Franz Keller aus Suhl, Kaliber 11.15 / 16 x 70, eine 8,8-mm-Scheibenbüchse mit gezogenem Lauf, sämtlich um die siebzig Jahre alt. Außerdem Kleinkaliberwaffen, zwei unbrauchbare Revolver, selbstgebaute Schalldämpfer, zwei Druckluftpistolen, insgesamt 1154 Schuss Munition und 360 leere Patronenhülsen. Das Beschlagnahmeprotokoll umfasste 164 Positionen. 31 Gegenstände wurden später auf Anweisung des Staatsanwalts vernichtet, 77 an die Erben zurückgegeben.

Den Grundstock für diese Waffensammlung hatte schon Eßlings Vater, ehemals Blockleiter der NSDAP, gelegt und über die Wirren der Zeit versteckt gehalten. Aus dessen Besitz stammte auch die schlecht gepflegte „Selbstladepistole Cal. 7.65 Walthers-Patent Modell 4“, um 1915 von Carl Walther im thüringischen Zella St. Blasii gefertigt.

Paul Eßling trug diese Pistole am Silvestertag nicht zum ersten Mal bei sich. Er liebte es, bewaffnet umherzufahren. Nach dem Suizid lag die Pistole mit nicht zurückgefahrenem Ladeschlitten als „Spur Nr. 3“ auf der Chaussee in Klosterfelde. Hatte Eßling vor dem tödlichen Schuss noch Zeit gefunden, eine Ladehemmung zu beseitigen? Die Patrone sprach dafür. Auch beim Probeschießen im Verlauf der waffentechnischen Untersuchung verklemmten sich immer wieder Patronen im Auswerferfenster der Waffe.

Paul Eßling war nicht nur ein Waffenliebhaber, er wollte seine Waffen auch nutzen. Mit dem „führenden Repräsentanten“, in dessen Nähe er an jenem Silvestertag geriet, teilte er eine besondere Leidenschaft: Er war ein passionierter – um nicht zu sagen manischer – Jäger. Doch im Gegensatz zu dem hohen Würdenträger, der sich dafür riesige Waldgebiete reservierte, ließ man den eigenwilligen Handwerksmeister, dessen charakterliche Schwächen und dessen Neigung zum Alkohol bekannt waren, legal nie zum Schuss kommen. Wer in einer der rund 970 Jagdgesellschaften der DDR auf die Pirsch gehen wollte, musste über eine entsprechende „persönliche politische Eignung“ verfügen, denn geschossen wurde „unter der Führung der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands“. Die Jagdgesellschaft erzog „ihre Mitglieder zu aufrechten Kämpfern für den Sozialismus“, in ihren Lehrstunden nahm Staatsbürgerkunde mehr Raum als die Ausbildung an den Waffen ein. Doch Paul Eßling hatte mit seinem Staat nichts am Hut, er wollte nur schießen.

Dass der ihm das edle Waidwerk vorenthielt, traf ihn tief. Nicht einmal die Politprominenz zweiter Garnitur, die zu seinem Kundenkreis zählte, vermochte ihm da zu helfen. In den Befragungsprotokollen der Staatssicherheit tauchten zahlreiche renommierte Namen auf. Über einen prominenten Autor ist nachzulesen, er habe Eßling zu Hause besucht und sei von dessen Bekannten K. nach Hause gefahren worden. Betroffen bestätigte der Schriftstellerkollege den Vorgang. Bis zu unserem Gespräch darüber hatte er nicht geahnt, dass ihn die flächendeckende Überwachung der Stasi mit dem „Honecker-Attentäter“ in Verbindung gebracht hatte.

Paul Eßling baute seine Kamine auch in Häusern und „Datschen“ der Stasi-Oberen, unter anderem bei Markus Wolf, in mehreren Armee-Objekten und in den „Jagdhütten“ des Sportvereins Dynamo bei Groß-Schönebeck. Er war stolz auf seine Arbeit, die jeder schätzte. Ins Jagdkollektiv wurde er dennoch nicht aufgenommen. „Unsere Jagdgesellschaft ist durch Abtrennung eines Jagdgebiets an eine andere Jagdgesellschaft mit Jägern weit überfordert“, hieß es in einem von mehreren Ablehnungsschreiben auf seine wiederholten Aufnahmegesuche.

Jene „andere Jagdgesellschaft“ hatte in der Schorfheide seit über hundert Jahren ihre eigene Tradition. Diese reichte von Kaiser Wilhelm über den „Reichsjägermeister“ Hermann Göring bis zu Erich Honecker und Genossen. Selbst als Paul Eßlings Munitionslieferant, der Diplom-Staatswissenschaftler K., der als „Versorger“ für die Waldsiedlung Wandlitz tätig war und ein Jahr nach dem Tod des Ofensetzers auf der F 109 in seiner Jagdhütte selbst Suizid beging, sich im angeblichen Auftrag von „General Wolf“ für den Möchtegern-Jäger einsetzte, half das nicht. General Günter Wolf, Chef der Hauptabteilung Personenschutz im MfS, zeichnete für den Butler-Service in der Waldsiedlung Wandlitz verantwortlich. Er hatte seinen Untergebenen nicht nur schriftlich befohlen, ihre Arbeitsaufgaben „zur optimalen und niveauvollen Betreuung und Versorgung der führenden Repräsentanten, ihrer Familienangehörigen und Gäste … jederzeit vorbildlich, mit hoher Einsatzbereitschaft, revolutionärer Wachsamkeit und tschekistischer Meisterschaft zu realisieren“, sondern sie auch allen Ernstes angewiesen, den hohen Herren Genossen jeden Wunsch von den Augen abzulesen, bevor er überhaupt ausgesprochen wurde.

Dass sich ein Stasi-General für Paul Eßling eingesetzt haben soll, bleibt merkwürdig, denn der war bekanntermaßen aufmüpfig. Doch letztlich wog wohl das gängige DDR-Motto „Privat geht vor Katastrophe“ schwerer als das Gemoser des Mannes, den alle brauchten. Als die Stasi nach den „staatsfeindlichen Äußerungen“ Eßlings in Klosterfelde fragte, wollte sie dort niemand bestätigen. Vielmehr wurde der abgängige Mitbürger als ein in „politischer Hinsicht zurückhaltender Mensch charakterisiert“, obwohl es viele besser wussten. Selbst die zahlreichen „ehrenamtlichen Informanten“ der Firma gaben sich unwissend und behaupteten, dass Eßlings Jagdleidenschaft bekannt gewesen sei, nichts jedoch über die Waffen in seinem Besitz gewusst zu haben.