Nur ein Schubs

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Nur ein Schubs
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Nur ein Schubs

ein Gütersloh-Krimi

Texte: © Copyright by Jan Bobe

Gestaltung: Eckard Klessmann

Coverfoto (Dalkebrücke an der Weberei): Detlef Güthenke

Lektorat. Elisabeth Jürgens

Beratung: Tina Gallach

Nur ein Schubs ist ebenfalls als Taschenbuch erhältlich im

Vox-Rindvieh-Verlag M. Borner

ISBN 978-3-98-201571-2

www.ostwestfaelisch.de

Bevor es losgeht

Fast wäre diese Geschichte tatsächlich passiert, im Zuge der Finanzkrise irgendwann vor ein paar Jahren. Denn einige der handelnden Personen sind nur allzu real. Keine Sorge, sie alle haben mir ihre Erlaubnis für ihren Auftritt in diesem Buch gegeben. Zudem haben nicht wenige der Szenarien und Begebenheiten tatsächlich genauso stattgefunden, wie sie hier beschrieben sind. Allerdings zu einer anderen Zeit, an anderen Orten und mit anderen Menschen, sodass auch hier ein Rückschluss auf die tatsächlich Beteiligten nicht möglich ist. Leider hat es eine Firma Sandmann und eine Landsparkasse Bockhorst aber nie gegeben, also musste ich die gesamte Handlung dann doch erfinden.

Sollte Sie daher nun beim Lesen plötzlich das Gefühl beschleichen, sich selbst wiederzuerkennen, dann habe ich Sie entweder vorher angesprochen, oder aber diese Ähnlichkeit wäre rein zufällig und völlig unbeabsichtigt.

Was ist wahr, was geflunkert? Mit der Lösung dieser zentralen Frage wünsche ich Ihnen, liebe Leser, viele frohe Stunden.

Eine Bemerkung zur Polizei Gütersloh ist noch erforderlich. Sie ist eine reale Behörde, der ich zu allem Überfluss selbst seit etwa vierzig Jahren sehr gerne angehöre. Ihre Darstellung bereitete mir deshalb Kopfzerbrechen, sie musste besonders fiktiv ausfallen. So braucht es niemand wundern, wenn in diesem Buch die Polizei immer noch in ihrem alten, maroden Standort an der Berliner Straße festhängt, obwohl sie in Wirklichkeit bekanntlich schon 1998 in einen topmodernen Neubau an der Herzebrocker Straße umgezogen ist.

Sollte trotzdem jemand hoffen oder befürchten, dass hier aus dem Nähkästchen geplaudert oder gar schmutzige Wäsche aus all der Zeit hervorgekramt und gewaschen werden soll, so muss ich diejenigen enttäuschen. Auch nach intensiver Suche habe ich nichts gefunden, was auch nur ein kleines, hinterhältiges Nachtreten wirklich gelohnt hätte. Eigentlich jammerschade, denn die Gelegenheit wäre erstklassig gewesen.

Nein, ganz im Gegenteil: Ich habe kein einziges der vielen Jahre bereut. Es war immer sehr nett und unglaublich spannend in der echten, der wirklichen Polizei Gütersloh, die mit dieser Geschichte nicht mehr zu tun hat als mit der alten Seidenweberei der Gebr. Bartels, in der sich nun schicke Loftwohnungen befinden. Die heutigen Bewohner der alten Wache haben hier allerdings die einmalige Chance auf einen Blick in die skurrilen Geschichten, die in den dicken Mauern um sie herum zu Hunderten schlummern.

Jan Bobe

Prolog

Sommer

Grelle, blaue LED-Blitze durchschnitten die Nacht und warfen bizarre Muster an Bäume und Hauswände. Ein kerniger Turbodiesel drehte scheinbar mühelos auf, dann kam der Rettungswagen durch die Unterführung geschossen und jagte die Dalkestraße entlang zur Blessenstätte hin, die übliche Flugschneise vom Klinikum in den Gütersloher Norden. Wohl mit Rücksicht auf die ruhebedürftigen Bewohner des Seniorenzentrums 'Am Bachschemm' hatte der Fahrer auf das Martinshorn verzichtet. Unten an der Kreuzung Kirchstraße war aber bevorrechtigter Querverkehr zu befürchten. Ein einzelnes Intervall der starken Kompressorhörner zerfetzte die nächtliche Stille, doch nach vier Sekunden senkte sich wieder Ruhe über den Webereipark, der in tiefer Dunkelheit lag. Nur eine einsame Laterne versuchte, etwas Licht und damit auch einen Hauch gefühlter Sicherheit in das finstere Gelände zu streuen, wurde aber von einem üppig wuchernden Haselstrauch erfolgreich daran gehindert.

Die einsame Gestalt, die auf der Bank am Spielplatz inmitten von Pizzaschachteln, Pommesschalen und einer beträchtlichen Menge Leergut saß, war daher kaum zu entdecken. Und wenn tatsächlich ein nächtlicher Passant den Weg zwischen Kesselhaus und Umspannwerk über die Holzbrücke genommen und den Mann bemerkt hätte, was nicht der Fall war, wäre ihm sicher entgangen, dass dessen völlige Unbeweglichkeit nur scheinbar war. Denn seine Schultern zitterten leicht, dicke Tränen quollen aus seinen rot umränderten Augen, und der Rotz tropfte ihm aus dem Gesicht, während er leise in sich hinein weinte. Der Mann stierte apathisch in die Dalke, die schwarz und träge an ihm vorbeifloss. Nichts passierte. Schließlich, nach einer halben Ewigkeit, zog er kräftig die Nase hoch, und seine rechte Hand griff unter die Bank. Sie brachte eine dunkelgrüne Flasche hervor, die Linke zog in mechanischer Bewegung den Korken ab. In einer einzigen bedächtigen Bewegung setzte der Trinker die Flasche an, steigerte kontinuierlich ihren Anstellwinkel bis in die Senkrechte und überstreckte dabei den Kopf nackenwärts. Ein großer Schluck, dann war der Inhalt bewältigt. Einen langen Moment verblieb die Flasche in ihrer Position, bis auch der letzte Tropfen sicher hinausgelaufen war, dann flog sie in hohem Bogen in die Büsche. Der Mann atmete scharf aus und horchte dann intensiv in sich hinein. Sein stark gedämpftes System registrierte einen anhaltenden, penetranten Impuls, den er schließlich als dringendes menschliches Bedürfnis identifizierte. Mühsam begann er, sich zu erheben, fiel aber prompt wieder auf die Bank zurück. Beim zweiten, schwungvolleren Versuch bekam er direkt Übergewicht nach vorn. Nur ein heftiger Ausfallschritt bewahrte ihn vor dem Sturz, sorgte aber dafür, dass er nun rückwärts kippte und ins Gras fiel. Eine Weile lag er dort wie ein Käfer auf dem Buckel, bis er es schaffte, sich umständlich auf den Bauch zu drehen und tatsächlich nach mehreren Versuchen zumindest mit dem Hinterteil wieder hochzukommen. Er krachte aber immer wieder zusammen. Schließlich erkannte er die Aussichtslosigkeit seines Tuns, robbte zur Bank hinüber und zog sich mühsam daran hoch in einen wackeligen Stand. Nach einer unsicheren Weile hatte er sich so weit stabilisiert, dass er frei stehen konnte. Vorsichtig stüskerte er zum nahen Dalkeufer, balancierte mühsam den schwankenden Horizont aus und öffnete umständlich seinen Hosenstall. Nach längerem Herumkramen fand er schließlich sein bestes Stück, brachte es in Position, und kurz darauf plätscherte ein kräftiger Strahl, während er die Erleichterung genoss und zugleich konzentriert die Außentreppe der Weberei auf der anderen Flussseite fixierte, um nicht doch noch ein jähes Opfer der Gravitation zu werden.

Es war kein Stoß, erst recht kein Schlag, nur ein kleiner Schubs mit dem Zeigefinger, der ihn genau zwischen die Schulterblätter traf. Er hätte nur einen kleinen Schritt nach vorn machen müssen. Er hätte die Hände zum Schutz vors Gesicht bringen und die Knie beugen sollen. Vielleicht hätte er auch all das getan, aber dafür hätte er zwanzig Sekunden mehr Zeit gebraucht in seinem Zustand. So kippte er wie ein fallender Baum. Er merkte nur noch den Aufschlag. Mehr nicht.

Kapitel 1

Frühling

„Dalke 25/11 für Dalke kommen!“

„25/11 hört!“

„Fahren Sie Friedrich-Ebert-Straße zum Amtsgericht, dort reglose Person auf der Fahrbahn! Anruf kam von der Feuerwehr nebenan.“

„25/11 verstanden, sind unterwegs.“

„24/11, wo steht ihr?“

„Verler Straße, beim Schotten. Wir fahren auch mal in die Richtung.“

Polizeioberkommissar Ulrich Haferkamp ließ das Seitenfenster vom Streifenwagen runter. „He, Patrick, kau schneller, wir haben zu tun!“

Patrick Grünbaum, Kommissaranwärter im Abschlusspraktrikum, hob hektisch beide Arme, in einer Hand einen Big Mac, in der anderen einen Becher Cola. Dann stopfte er einen Fleischklops mit pappigem Brötchen und Kunstkäse fast heile in den Mund und warf den ganzen Rest in den Mülleimer. Heftig kauend plumpste er auf den Fahrersitz und startete den Motor.

„Waf iff bemm lof?“

„Ruhig, Brauner, ich sagte Beeilen, nicht Wegschmeißen. Wir fahren zu ‘ner Hilo am Amtsgericht. Die Cola hättest du ja noch trinken können.“

Patrick schluckte zweimal schwer, schaute frustriert und gab Gas. Der Wagen verließ zügig den Parkplatz des Fast-Food-Tempels.

Das Funkgerät quakte: „Dalke für 25/11, wir treffen hier gerade ein. Sieht nicht gut aus, die reanimieren!“

Uli beugte sich vor und drückte zwei Knöpfe im Armaturenbrett, Blaulicht und Martinshorn gingen an. Dann lehnte er sich zurück, schloss die Augen und wartete ab. Raaatsch, der Wahlhebel wurde in die unterste Position gekloppt. Sportmodus. Der Turbodiesel heulte in höchster Drehzahl auf und das Automatikgetriebe schaltete vier Gangstufen herunter. 160 PS trieben den Passat Kombi druckvoll nach vorn. Ach ja, die erste Einsatzfahrt. So haben wir alle mal angefangen! Uli öffnete die Augen wieder und schaute vorsichtig nach links. Weiße Fingerknöchel krallten sich ins Lenkrad, ein verdächtiger Glanz lag auf Patricks starrem Blick, der etwa 80 Meter vor ihm auf der Straße festgenagelt schien.

Die Verler Straße flog inzwischen mit 140 Sachen unter ihnen durch, aber Patrick blieb eisern auf dem Gas stehen. Uli notierte Minuspunkte auf einer imaginären Checkliste und fragte sich, wann er seinen Zauberlehrling am besten einbremsen sollte. Aber es kam nicht dazu. Ein Lkw kam ihnen entgegen. Vier massive Fernlichtscheinwerfer, dachseitig in Reihe montiert, flammten auf und nahmen ihnen für einen Moment jegliche Sicht. Patrick bremste panikartig, weshalb er die grüne Ampel „Auf der Haar“ mit nur noch 100 km/h nahm.

 

„Arschloch! Wenn ich den kriege!“ presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Hast du das Kennzeichen?“

„Nee, aber es war einer von DHL.“ Uli grinste gemütlich. „Kleiner Tipp: Mach halt dein eigenes Fernlicht aus bei Gegenverkehr, dann wird auch keiner sauer!“

Patrick brauchte eine Weile, bis er den Hinweis gecheckt und umgesetzt hatte. Deshalb konnte er auch vor der roten Ampel am Stadtring problemlos bis auf Null abbremsen, ohne vorher an der britischen Kaserne irgendwelche betrunkenen Soldaten zu atomisieren. Uli vergab einen virtuellen Pluspunkt für den Stillstand der Räder. Jetzt war Patrick in der roten Welle und musste auch an der Kampstraße runterbremsen. In der Kurve vor der Carl-Bertelsmann-Straße schob der Passat aber schon wieder verdächtig über die Vorderräder. Zum Glück griff hier das ESP beherzt ein und bremste das Gefährt kontrolliert auf einen unbedenklichen Geschwindigkeitsbereich ab.

Als der Wagen am Music Temple endlich wieder Gas annahm und der Friedrich-Ebert-Tunnel mit steigender Geschwindigkeit auf sie zukam, sah Uli in der Gefällestrecke mit Linkskurve unvermeidbare Probleme aufkommen und sich selbst schließlich doch zu einer Bemerkung genötigt: „Fahr langsam, Patrick, wir ham’s eilig!“

„K…keine Sorge, hab alles im Griff.“ Doch das schien Patrick selbst nicht zu glauben, denn im Tunnel kriegte er mitten in der Kurve plötzlich Angst vor der eigenen Courage, ging vom Gas und fing prompt an zu schlingern. Patrick lenkte hektisch, das ESP hatte auch schon wieder alle Hände voll zu tun. Ein kapitaler Pendelschlenker war trotzdem unvermeidbar. Mit 60 Sachen und einem hochroten Patrick ging es dann weiter bis zum Einsatzort. Das Blaulicht sahen sie schon von weitem. Ein Rettungswagen stand auf der Gegenspur und ein Streifenwagen stand dahinter.

Polizeikommissar Manni Schulte stellte Lübecker Hüte und Blitzleuchten auf, Polizeihauptmeister Jörg „Otto“ Krüger lehnte seine 120 Kilo Lebendgewicht mit offener Jacke am RTW an und nuckelte an einer Cola. Er hatte es gern immer etwas bequemer.

„Keine Panik“, warf er Uli entgegen, der für seinen Geschmack viel zu dynamisch auf ihn zukam. „Ist bloß Magura, die alte Pottsau. Hat sich im besoffenen Kopf gemault und die Birne aufgeschlagen. Die laden den gleich ein, dann sind wir wieder weg!“

„Mach mir lieber noch den linken Fahrstreifen dicht und schick den Verkehr komplett in die Bismarckstraße. Und setz dir dabei ‘ne Mütze auf. Das gibt immer so hässliche Fettflecken, wenn dich einer umfährt.“

Otto wurde puterrot im Gesicht und drohte zu platzen. Doch schließlich senkte er den Blick, trollte sich äußerst widerwillig zu seinem Streifenwagen und fuhr ihn in die geheißene Position. Dann griff er zum Handy.

„A-tem-los-durch-die-Nacht“ quetschte der jüngere der beiden Sanis stoßweise zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, während seine muskulösen Unterarme im Rhythmus des Gassenhauers mit sichtlichem Widerwillen die Herzmassage ausführten. „Wie sieht’s aus, Bernhard?“ fragte Uli. Der ältere Rettungssanitäter sah nicht mal auf.

„Schlecht“, sagte er gemütlich, „der is chanz inne Mäse. Taucht nichmal mehr als Orchaanspender. Aber der Notaazt is im Anfluch, der hat das letzte Wort. Müsste cheeden Moment hier sein. Schädelbasisbruch, wennzte mich fraachst. Der is hier bestimmt chestolpert und mit sseinen Dääz aufcheschlagen.“

Der Tote, ein schmuddeliges, mageres Männlein um die 60, blutete leicht aus den Ohren.

„Is doch eh alles für ‘n Arsch bei dem Stinker“, mopperte der Jüngere. „Ich hab hier kaum Widerstand bei der Herzmassage, das Brustbein ist auf jeden Fall auch durch. Bäh, ich krieg direkt Herpes, wie der gammelt. Und woanders brauchen uns anständige Leute ...“ Dem Schweiß, der ihm bereits vom Kopf floss, krabbelte aus dem Kragen ein mächtiges tätowiertes Wikingerornament bis hinters Ohr entgegen. „Halt die Klappe und pump, Ron“, zischte der Alte scharf. Das reichte Uli erst mal, er griff zum Mikrofon.

„Dalke für den 24/11?“

„Ja, komm für Dalke!“

„Erstens: Der Verletzte ist inzwischen ex. Zweitens stinkt das hier stark nach Unfallflucht. Ich brauche so schnell wie möglich mehr Licht von der Feuerwehr, die sollen auch das THW alarmieren, das kann länger dauern. Dann noch Kräfte von uns zur Verkehrsregelung. Schick auch jemand zur Feuerwache, die sollen den Zeugen vernehmen, der Magura gefunden hat.

Und du solltest ein paar Leute vom Verkehrskommissariat rausklingeln, damit die zügig die weiteren Ermittlungen übernehmen können. Lieber fünf als zwei. Da kommt jede Menge Arbeit auf uns zu.“

Uli lief von jetzt auf gleich zu optimaler Betriebstemperatur auf. Er trommelte Manni und Patrick zusammen und wies sie an, einen Streifenwagen 50 Meter vor dem Toten aufzustellen und das Fernlicht einzuschalten.

Kurz darauf lagen Uli, Manni und Patrick auf Händen und Knien und suchten jeden Zentimeter Straße sorgfältig ab. Simultan bauten Feuerwehrmänner große, ballonförmige Stativleuchten auf, Stromaggregate wurden angeworfen. Schon bald war die Unfallstelle taghell erleuchtet.

Ein Streifenwagen fuhr durch die Absperrung, die gerade vom Verkehrsdienst aufgebaut wurde. Er zog locker an den Suchenden vorbei bis direkt neben den Toten, der mit blauen Tüchern abgedeckt war.

„Welche Dumpfbacke ist das denn, hier einfach so mitten durch die Radieschen zu baseln?“, knurrte Uli wütend.

Die Beifahrertür ging auf und eine lange, dünne Gestalt mit schlechter Haltung und braun kariertem Anzug stieg aus.

„Ach du Scheiße, der Flamingo!“ Manni verdrehte die Augen und übergab sich theatralisch in seine Mütze.

Polizeirat Dr. Meier-Wirsing, Volljurist und Seiteneinsteiger in den höheren Polizeidienst, erschien am Einsatzort. Falsch, Meier-Wirsing erschien nicht, er trat auf. Aber damit nicht genug: In der geöffneten Fahrertür zeigte sich jetzt der wohlfrisierte Kopf von Polizeioberkommissar Ronald Dettmer. Der Mitarbeiter des Führungsbüros und neuerdings permanenter Schatten vom neuen Chef entstieg langsam und umständlich dem Fahrzeug. Die kurze Einsatzfahrt schien seinen angeschlagenen Bandscheiben nicht gut getan zu haben. Meier-Wirsing kam mit weiten Schritten herüber, seinen Lackel Dettmer im Schlepptau. Er selbst hielt seinen Gang für kraftvoll und zielstrebig, alle anderen erinnerte er lebhaft an einen großen Storchenvogel, der durch den Tansania-See watet. Der brandneue kommissarische Leiter der Polizeidirektion Gütersloh bevorzugte zudem rosa Hemden, daher war sein Spitzname eine Sache weniger Stunden gewesen.

„Guten Abend die Herren“, grüßte er mit einem Sympathie heischenden Lächeln in die Runde. „Ja, ich habe heute Führungsbereitschaft, und da habe ich mich entschlossen, diesen Einsatz persönlich vor Ort zu führen. Können Sie mir kurz ein Lagebild geben?“

„Ja klar. Der Tote heißt Robert Magura und ist ein amtsbekannter Alkoholiker.“ Uli spulte die Fakten ansatzlos ab. „Er wurde hier vor 20 Minuten leblos auf der Straße gefunden. Erste Diagnose: Schädelbruch und innere Thoraxverletzungen. Keine Anzeichen für ein Überrollen, bisher keine Hinweise auf das flüchtige Fahrzeug. Die Fahndung steht.“

„He, Uli, ich hab hier was!“ Patrick winkte aufgeregt. Uli ging sofort zu ihm hinüber. Die Sanis zogen ab, Dettmer unterhielt sich angeregt mit einem Feuerwehrkameraden und Meier-Wirsing stand auf einmal allein da. Er ging zu dem Toten, um ihn anzusehen, aber der stank erbärmlich, also deckte er ihn schnell wieder zu. Er sah, wie Uli drüben mit den Kollegen diskutierte und dann an einer bestimmten Stelle Zeichen mit gelber Kreide auf die Fahrbahn malte.

Meier-Wirsing war sauer. Er war sogar stocksauer. Hier stand er mal wieder mutterseelenallein. Niemand beachtete ihn, niemand hörte ihm zu, alle machten was sie wollten und scherten sich einen Dreck um ihn. Zum Heulen, alles war genau wie früher.

Tiefe Verzweiflung kochte hoch in Sönke Meier-Wirsing. Er ballte die Faust in der Tasche und sah sich hilfesuchend um. Aus Richtung Kaiserstraße sah er einen Typen in Zimmermannshosen durch die Absperrung herankommen. Der Mann ging zu einem Streifenwagen, öffnete die Heckklappe und kramte darin herum. Fassungslos sah Meier-Wirsing zu, dann warf er einen sichernden Rundumblick. War Unterstützung in der Nähe? Ja, die anderen standen keine 20 Meter weiter. Er sah wieder hinüber zu dem seltsamen Mann. Der hatte eine gelbe Polizei-Warnweste aus dem Auto genommen und zog sie sich über seine karierte Kanadajacke. Dann streifte er Latexhandschuhe über und ging hinüber zur Leiche, die er kurz und gründlich untersuchte. Was sollte das denn? Na, der kam ihm gerade recht. Den würde er erst mal strammstehen lassen! Meier-Wirsing drückte die Brust durch und trat näher.

„He, Sie da, unterlassen Sie das sofort! Wer sind Sie und was haben Sie an der Leiche zu suchen?“

Der Mann blickte auf und musterte den Anzugträger. „Ich bin Polizist und mach hier meinen Job. Und wer sind Sie?“

„Ich bin hier der Einsatzleiter. Ich kenne Sie nicht. Ich habe Sie überhaupt noch nie gesehen!“

„Ich Sie auch nicht!“ Der Mann war Mitte 50 und trug im linken Ohr einen großen goldenen Ring. Er stand auf und ging hinüber zu Uli und Manni, die ihn freudig begrüßten und ihm kräftig auf die Schulter hauten.

Der Fremde schaute sich kurz um, ließ sich einige Dinge erklären, nickte dann und zeigte auf einen bestimmten Bereich der Straße. Patrick und Manni gingen wieder auf die Knie und suchten dort weiter, während der Fremde und Uli zurück zur Leiche gingen, die sie eingehend betrachteten.

Der Flamingo hatte die Schnauze voll. Und zwar restlos. Nicht mit ihm, nicht mit Dr. Sönke Meier-Wirsing. Denn schließlich war er hier der Chef, jetzt ließ er die Puppen tanzen. Er würde nicht mehr am Spielfeldrand stehen und zugucken. Nie wieder! Aus, Feierabend, Sense. Er überlegte kurz und pfiff dann seinen Fahrer heran.

„Na gut, Dettmer. Dann wollen wir mal Struktur in diesen Einsatz bringen.“ Meier-Wirsing rieb sich unternehmungslustig die Hände. „Kommen Sie!“

Entschlossen stelzte er auf die Kollegen zu.

„So, meine Herren, treten Sie bitte kurz zusammen, ich strukturiere jetzt mal den Einsatz. Sie geben aber auch nicht gerade ein tolles Bild ab, wie Sie da auf Knien über die Straße robben. Dazu in der schönen neuen Uniform. Die Presse ist im Anmarsch. RTL und Westfalia TV haben sich auch angesagt!“

Uli und Manni sahen sich bedeutungsvoll an. Aha, also daher wehte der Wind. Das erklärte auch, warum Ronald Dettmer mit rausgefahren war. Den kriegten doch sonst keine zehn Pferde hinter dem Ofen weg.

Meier-Wirsing fuhr in seiner Ansprache fort. „Wir bilden ab sofort vier Abschnitte.“ Lupenreine polizeiliche Einsatzlehre wurde jetzt abgespult. Manni Schulte schien im Hintergrund unter schweren Magenkoliken zu leiden.

„Den Abschnitt ‚Unfallort‘ leitet ab sofort POK Dettmer, als Unterabschnitt 'Spurensicherung' habe ich zur Unterstützung den Erkennungsdienst angefordert. Den Abschnitt 'Ermittlungen' übernimmt die Kriminalwache, ihr unterstelle ich die alarmierten Kräfte vom Verkehrskommissariat. Sie, Herr Haferkamp, übernehmen die Verkehrsmaßnahmen. Absperrung, Ableitung, Umleitung. Ich denke, das kriegen Sie hin?

Ich selbst werde unter vorläufigem Verzicht auf Reserve den Einsatz persönlich vor Ort führen und zugleich die Öffentlichkeitsarbeit leiten, bis die Pressestelle besetzt ist.“

Das war druckreif. Selbstgefällig schaute Meier-Wirsing sich um und erblickte den fremden Mann in Polizeiweste.

„Und Sie, Herr Wer-immer-Sie-sind: Halten Sie sich gefälligst aus der Spurensuche heraus, das macht die Kripo. Sie haben hier keine Funktion!“

Ha! Das ging runter wie Öl. Meier-Wirsing schwebte auf Wolken und sah den Fremden aufdringlich an. Dem Schlaumeier hatte er es aber sauber gezeigt.

„Lütkehennerich“, sagte der Schlaumeier und streckte Meier-Wirsing unvermittelt die Hand hin, der sie völlig überrumpelt ergriff und schüttelte. „Oder kurz Henry. Komm gerade aus dem Urlaub hier vorbei. Das ist meine Dienstgruppe und ich dachte, ich halte an und helfe.“

„Vielen Dank, wir kommen bestens zurecht. Überlassen Sie das uns und fahren Sie nach Hause!“

„Okay, wie Sie wollen. Eine Frage hätte ich aber doch noch: Was ist mit den Fahndungsmaßnahmen?“

Zwei müde wirkende Augen sahen Meier-Wirsing ruhig an, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Meier-Wirsing lächelte überlegen.

 

„Kompliment, Herr Lütke – äh – hennerich? Die Checkliste für große Verkehrsunfälle scheinen Sie ja schon mal gelesen zu haben. Sie müssen die Details aber immer im Gesamtkontext sehen. Lagebeurteilung, Entschlussfassung, Durchführung; das ist die Reihenfolge“, dozierte er gönnerhaft. „Wonach bitte soll ich fahnden? Die Erkenntnislage geht leider gegen Null. Soll ich wertvolle Einsatzkräfte blind in der Prärie herumschwirren lassen, die ich hier am Tatort benötige? Wir müssen dringend Informationen zum Unfallhergang und zum flüchtigen Fahrzeug erlangen, und zwar hier vor Ort. Oder können Sie die etwa einfach so aus dem Ärmel schütteln?“

„Für mich sieht alles nach ‘nem gelben Lkw aus.“

Meier-Wirsing stutzte, doch nur für einen Moment.

„Aah okay, und das sagt Ihnen Ihre unendliche Weisheit?“ Seine Stimme troff vor Ironie.

„Das nicht gerade“, antwortete Lütkehennerich gemütlich, „aber es steht ja alles deutlich auf die Straße geschrieben. Man muss halt nur lesen können. Genau wo Kollege Schulte steht, haben wir den seltenen Glücksfall einer Schuhabriebspur, die uns den Kollisionspunkt zuverlässig anzeigt. Genau dort ist er angefahren und circa zehn Meter weit in diese Richtung geschleudert worden, wo er jetzt noch liegt. Kollege Grünbaum hat hier gerade einige interessante Lacksplitter mit Rostanhaftungen gefunden, es gibt aber keinerlei Glas, weder auf der Fahrbahn noch an der Leiche. Bei einer Pkw-Kollision wäre das fast zwingend zu erwarten gewesen. Magura hat offensichtlich einen Schädelbasisbruch, das Brustbein ist durch und das Rückgrat ebenfalls. Die untere Körperhälfte ist dagegen völlig unverletzt. So als habe ihn in Brusthöhe ein solider, waagerechter Gegenstand getroffen. Das einzig passende Fahrzeugteil, das mir dazu einfällt, ist die vordere Unterkante eines Lkw-Anhängers. Magura muss irgendwie zwischen Motorwagen und Anhänger gestolpert sein, hat stehend die Aufbaukante abgekriegt und geriet dann unter den Anhänger, ohne überrollt zu werden. Die Situation ist anders kaum denkbar. Würde mich wundern, wenn der Fahrer was davon gemerkt hat.

Kurz und gut: Wir suchen ein Lkw-Gespann. Keinen Sattelschlepper, sondern einen Gliederzug. Farbe Gelb, Fluchtrichtung Autobahn.“

Funkstille. Dann hinter ihnen ein Schrei: „Scheiße, der DHL-Laster!“

Uli war hinzugekommen und hatte den Schluss von Henrys Statement mitgehört. Er riss sein Funkgerät aus der Brusttasche, trat zur Seite und begann, eine Salve an Informationen und Forderungen in Richtung Leitstelle abzufeuern.

Jenseits der Unfallstelle zerdepperte eine halbleere Colaflasche auf dem Gehweg in grobe Scherben und Manni Schulte trieb einen keifenden Otto mit kräftigen Schubsern und wüsten Beschimpfungen in den Streifenwagen, der Sekunden später mit qualmenden Reifen und Blaulicht in Richtung Verler Straße davonschoss.

Lütkehennerich war ein paar Schritte in Richtung Kollisionsstelle gegangen und stand still auf der Straße, einen Zeigefinger in scharfer Konzentration auf Mund und Nase drückend. Uli gesellte sich zu ihm.

„Seltsam. Findest du nicht auch?“, fragte Uli einfach so in den freien Raum.

„Was?“

„Na ja, es ist schon ziemlich schwierig, bei einem vorbeifahrenden Lkw-Gespann genau zwischen Motorwagen und Anhänger zu laufen. Da muss sich unser Robert schon richtig Mühe gegeben haben. Vielleicht hat da ja auch jemand nachgeholfen.“

„Meinst du echt? Ich weiß nicht. Vielleicht hat er nur nicht gecheckt, dass da noch ein Anhänger hinten dranhängt und ist direkt losgelaufen, als der Motorwagen vorbei war.“

„Hmm, kann sein. Aber ich würde grundsätzlich nicht ganz ausschließen, dass da einer dran gedreht hat. Und wir müssen auf den Flamingo achten. Der nervt ganz schön rum, oder?“, raunte er. „Zwei Minuten noch, dann geht der hoch wie ‘ne Rakete!“

„Sehe ich auch so.“ Henry zog die Stirn kraus. „Ist das der neue Chef?“

„Fürs erste ja. Kommt direkt von der Polizei-Hochschule. Leitet jetzt die Führungsstelle und provisorisch dazu die komplette Einsatz-Direktion, bis unser Polizeidirektor aus Afghanistan wiederkommt oder ein neuer Chef gefunden ist. Nicht gerade ein Glücksgriff.“

Henry runzelte die Stirn. „Am besten er kriegt irgendwie was zu tun. Ich habe da ‘ne Idee!“

Der Genannte stand schon wieder mutterseelenallein mitten im Geschehen. Alles um ihn herum lief in hektischer Präzision wie ein Actionfilm ab, aber er war mal wieder nur Zuschauer. Kinobesucher in der dritten Reihe. Eine Träne quoll aus seinem Augenwinkel, sein linker Nasenflügel flatterte unkontrolliert und er stöhnte lange und lautlos.

Henry sah ihn einen kurzen Moment an und ging auf ihn zu.

„Wenn ich einen Vorschlag machen darf, Herr Meier-Wirsing?“

„J... ja, bitte?“

„Wir brauchen dringend eine starke Ermittlungsgruppe, um die Fahndungsmaßnahmen zu koordinieren. Bei der Fuhrparkgröße von DHL ist ein einzelnes Team völlig überfordert. Und natürlich einen erfahrenen Kommissionsleiter. Vielleicht jemand von der Kripo?“

„Nein, auf gar keinen Fall!“ Meier-Wirsing blühte schlagartig auf. „Ich werde die Ermittlungskommission natürlich persönlich leiten! Zufällig habe ich selbst an der Hochschule der Polizei zu diesem Thema referiert. Unterstützen Sie Herrn Dettmer hier weiter am Unfallort und halten Sie engen Kontakt zu mir, ich kümmere mich um alles andere.“

Eine EK! Wieso war er nicht gleich darauf gekommen? Egal, alles würde gut werden. Kommissionsleiter! Kräfte von Kripo und Verwaltung anfordern und befehligen! Fahndungshinweise und Ermittlungsergebnisse in den Medien präsentieren! Und vor allem am Montag in der Führungsrunde. Die würden staunen. Besonders der Kripochef, dieser Reiffeisen, der ständig für seine drei bis vier EKs Leute aus seiner, Meier-Wirsings Direktion wegsaugte, ohne dass man sich dagegen wehren konnte. Zu allem Überfluss machte er sich jeden Morgen damit auch noch wichtig und ließ bei allen passenden und unpassenden Gelegenheiten den Klugscheißer raushängen. War der in den letzten Wochen irgendwie weitergekommen? Kein Stück!

Diese Sache hier war dagegen sehr erfolgversprechend. Gab es nicht in den großen Flotten von jedem Lkw GPS-Daten? Bestimmt! Im Geiste rief Meier-Wirsing polizeitaktische, kriminalistische und gerichtsmedizinische Schlagworte auf, die er zusätzlich zum Einsatz zu bringen gedachte. Leichenspürhunde, Mantrailer, DNA-Analyse, Öffentlichkeitsfahndung, Toll-Collect. Was war noch mal dieses Leukomalachit-Grün? Egal, es klang auf jeden Fall unglaublich schlau! Leicht und locker flossen ihm die Begriffe aus dem Langzeitgedächtnis und wurden im Arbeitsspeicher griffbereit abgelegt.

Meier-Wirsing hörte lauter werdende Stimmen hinter sich. Zwei Kamerateams waren eingetroffen und diskutierten mit den Absperrkräften über das Betreten des Unfallortes.

Bestens vorbereitet machte Meier-Wirsing sich auf den Weg zu ihnen.

Rechts im Pättken zum Städtischen Gymnasium, dicht an einem großen Rhododendron, stand jemand und beobachtete interessiert das Geschehen. Im Vorbeigehen erhaschte Meier-Wirsing einen flüchtigen Blick auf die schlanke, dunkle Gestalt mit Basecap und Kapuzenpulli. Er hielt inne und sah genauer hin, aber da war sie auf einmal spurlos verschwunden. Komisch. Oder Einbildung? Hoch erhobenen Hauptes und mit energisch vorgerecktem Kinn stelzte er den laufenden Kameras entgegen.

„So, das war's!“ Uli packte die letzten Kegel und Blitzleuchten in den Streifenwagen, Patrick löste weiter hinten einen Streifen Flatterband von einem Laternenpfahl ab. Die Friedrich-Ebert-Straße lag friedlich da wie immer. Nur ein paar Kreidestriche deuteten noch darauf hin, dass hier vor kurzem ein Mensch getötet worden war. Und ein kleiner Fleck Ölbindemittel, von dem niemand ahnen konnte, dass er eine ganz andere, eine rote Flüssigkeit aufgesaugt hatte.