Nur ein Schubs

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Kapitel 4

„Moin Manni!“ Der Tatortwagen stand noch nicht ganz still, da war Kriminalkommissar Dierk-Helge Reuter-Ritterling schon aus dem Fahrzeug und auf seinen uniformierten Kollegen zugesprungen.

„Kannst du mir einen kurzen Überblick geben?“

„Klar, sofort“, meinte Manni freundlich. „Aber lass uns erst auf Hermann warten, dann brauche ich nicht alles zweimal zu erzählen.“ Er beobachtete, wie der alte Kriminalbeamte gemütlich dem Fahrzeug entstieg, längere Zeit im Fond herumkramte und schließlich gemessenen Schrittes auf sie zukam, Spurenkoffer in der Hand und Kamera um den Hals. Er registrierte auch belustigt, dass der junge Dierk-Helge die ganze Zeit nervös auf den Fußspitzen wippte. Sein brandrotes Haar leuchtete in der Morgensonne und bildete einen unglaublichen Kontrast zu seiner nachgerade bleichen Gesichtsfarbe. Otto, Mannis Streifenpartner, redete derweil in der Werkhalle auf einen grauhaarigen Mann in gleichfarbigem Arbeitskittel ein und zeigte dabei auf einen großen Stapel beschichteter Isolierplatten. Der Mann hörte Otto zu, schüttelte dann den Kopf und verschwand im Inneren der Halle. Otto kam zu ihnen herüber geschlendert, die Hände tief in den Hosentaschen und mit offensichtlicher Stinklaune.

„Na, Otto, Deal geplatzt?“ Kriminaloberkommissar Hermann Stratkötter hatte die Situation sofort erfasst.

„Scheiß-Wichtigtuer!“, stieß der Dicke hervor und wandte sich angewidert ab, nicht ohne dem Graukittel einen giftigen Blick hinterher zu schicken.

„Okay, dann kurz zur Lage!“ Manni zückte sein Notizbuch. „Scheint alles nach einem klaren Fall von Car-Napping auszusehen, zum Nachteil des Bauunternehmers Sandmann. Die Täter sind an der Rückfront über die Mauer aufs Dach, haben eine Lichtkuppel aufgehebelt und konnten von dort auf das Hochregal im hinteren Bereich runterspringen. Der Rest war einfach. Sie haben die Tür zum Bürotrakt aufgebrochen, wozu sie ein langes Hebeleisen aus dem Betrieb verwendeten. Im Büro haben sie den Schlüsselschrank von der Wand gehebelt und geknackt. Entwendet wurden drei Fahrzeuge: zwei fast neue 12-Tonner mit Allradantrieb und Ladekran und dann der Mercedes vom Chef. Alles komplett mit Papieren und Originalschlüsseln. Tatzeitraum von Freitag, achtzehn Uhr bis heute Morgen um sechs. Melderin ist Frau Sylvia Lieblich, die Geschäftsführerin. Sandmann selbst ist noch auf Geschäftsreise in Spanien, wird aber jeden Moment zurückerwartet. Das ist auch der Grund, warum sein Mercedes hier untergestellt war. Soweit die Lage. Wie sollen wir den Schriftkram regeln? Wir schreiben wie üblich die Strafanzeige und ihr macht die Spurensuche?“ Hermann nickte zustimmend, aber Dierk-Helge hatte andere Pläne.

„Nee, wir übernehmen komplett.“ Hermann verdrehte die Augen und schickte ein ebenso inniges wie nutzloses Stoßgebet gen Himmel.

„Schreib mir ‘nen Dreizeiler zur Eintreffsituation, alles andere machen wir. Irgendwas stinkt hier.“ Tief in Gedanken versunken wendete Dierk-Helge sich ab und schritt auf den Bürotrakt zu.

Dort trafen sie auf eine Frau, die sich als „Sylvia Lieblich, Geschäftsleitung“ vorstellte. Sie war mittelgroß, mittelschlank und trug mittelblondes, mittellanges Haar. Irgendwie hätte sie insgesamt ziemlich mittelmäßig gewirkt, wären da nicht das schwarze Nadelstreifenkostüm, die schwarzen Pumps, die gestärkte weiße Bluse, die Goldbrille, der teure Schmuck und das aufwendige Make-Up gewesen. Sylvia Lieblich hatte keine Anstrengungen gescheut, sich managermäßig voll aufzubrezeln.

Ihre Haltung wirkte gerade aber weniger autoritär, denn sie kniete auf dem Boden und versuchte erfolglos, den Stahlschrank zur Seite zu schieben, der offensichtlich von der Wand gehebelt und direkt aufgebrochen worden war.

„Finger weg!“ kommandierte Dierk-Helge sofort scharf. Die Frau stand auf, musterte ihn herausfordernd und stemmte die Hände in die Hüften.

„Ob Sie es glauben oder nicht, ich habe hier eine Firma zu leiten“, schoss sie zurück. „Der Laden muss weiterlaufen, uns geht mit jeder Minute bares Geld durch die Lappen. Dieser Einbruch wirft uns glatt zwei Tage zurück. Sämtliche Termine kippen, wir geraten vertraglich in Verzug. Das zahlt uns kein Mensch!“

„Schon klar“, schaltete Hermann sich diplomatisch ein. „Trotzdem müssen Sie nicht ausgerechnet die Sachen berühren, die auch die Täter angefasst haben. Ich nehme an, Sie brauchen als erstes Ihr Büro wieder zurück?“

Die Lieblich nickte zustimmend. Endlich jemand, der Durchblick hatte.

„Okay, dann fangen wir gleich hier an, umso schneller sind wir durch. Was ist übrigens mit dem Tresor dort?“

„Scheint alles okay zu sein.“

„Können Sie mal nachsehen, ob was fehlt?“ Hermann musterte den alten Stahlkoloss aus Vorkriegszeiten interessiert. Er besaß zwei Zahlenschlösser aus matt blinkendem Messing.

„Nein, die Kombination kennt nur Herr Sandmann.“

Aha, soviel also zum Thema Geschäftsleitung. Interessiert sah Dierk-Helge sich um. Die Fotos an den Wänden zeigten stattliche Segelyachten und Szenen vom Hochseeangeln. Der Chef war verschiedentlich selbst am Steuer und im Kampfstuhl zu sehen. Er schien exklusive Hobbys zu pflegen. Eine ganze Wand war jedoch mit Magnettafeln versehen. Drei verschiedene Bauprojekte waren dort im Grundriss, in verschiedenen Aufrissen und als aufwändige 3-D-Animation zu sehen.

„Das sind die Objekte, die Fa. Sandmann derzeit aktuell realisiert“, erklärte Sylvia Lieblich professionell. „Das ist natürlich nur ein Teil der Auftragslage. Wir hängen immer nur die aktuell im Bau befindlichen Projekte auf, damit die Mitarbeiter sich besser hineindenken können. Ein Bild sagt nun mal mehr als tausend Worte!“

„Was Sie nicht sagen“, meinte Dierk Helge abwesend. Sein Blick blieb auf einem Exposee hängen, das plakativ auf einem Regal stand. „Villas Selva y Mar“ las er.

„Das ist unser derzeitiges Investorenprojekt in Málaga“, soufflierte Sylvia Lieblich sofort. „Ein echtes Sahnestück und äußerst lukrativ. Exklusive Villen, umgeben von einem Naturreservat. Eine abgelegene Bucht an der Steilküste mit eigenem Sandstrand. Wenn Sie interessiert sind, kommen Sie gern zu uns.“

Aber Dierk-Helge war mit den Gedanken schon wieder woanders. Geistesabwesend faltete er das Exposé zusammen und steckte es ein. Dann machten Hermann und er sich an die Arbeit.

Zwanzig Minuten später waren sie drinnen fertig und sichteten das Außengelände.

„Jetzt mal ganz in Ruhe, Roter!“ Hermann Stratkötter fischte sich eine von seinen fiesen gelben Gauloises aus der Hemdtasche und setzte sie mit seinem vorsintflutlichen Flammenwerfer in Brand. Eine herbe Duftwolke aus kohlschwarzem Tabak und Benzin machte sich breit.

„Wie zum Henker kommst du darauf, dass hier irgendwas getürkt ist?“

„Liegt doch glasklar auf der Hand!“ Dierk-Helge schritt gestikulierend auf und ab. „Erstens: Das Brecheisen, mit dem sie die Feuerschutztür aufgehebelt haben, war hier aus dem Betrieb. Mit was anderem hätte man das schwere Ding auch gar nicht knacken können.“

„Klar“, konterte Hermann. „Aber das Oberlicht ist mit einem kleineren Eisen aufgebrochen worden, ebenso der Schlüsselkasten. Roter Lack, handelsübliche Baumarktware. Die haben nicht mit der Feuerschutztür gerechnet, sind mit ihrem Werkzeug gescheitert und haben sich im Objekt was Besseres gesucht. Das erleben wir bei Firmeneinbrüchen doch laufend. Kein Tresorknacker bringt ein Schweißgerät mit, wenn eines vor Ort ist.“

„Ja, aber dann der Mercedes!“ Hermann zuckte unbewusst zusammen. Die Worte ‚Ja, aber‘ aus Dierk-Helges Mund lösten inzwischen allergische Reaktionen bei ihm aus.

„Der Mercedes war nur zufällig hier. Das kann nur ein Insider gewusst haben.“

„Mensch, Dierk, denk doch mal nach! Was wird denn hier die letzten Jahre geklaut wie blöd? Baufahrzeuge halt. Lkw, Bagger, Radlader, Kräne und Gabelstapler. Gerüste nimmt man auch schon mal gern mit. Das Baugeschäft boomt im Osten, die Sachen werden da gebraucht. Jetzt baldowert jemand das Ding hier mit den beiden 12-Tonnern aus und stolpert dabei – hups – über den Mercedes. Was glaubst du, was der macht?“

Aber Dierk-Helge gab nicht auf. Lässig schlug er auf das schwere, mannshohe Rolltor, das gewöhnlich die Zufahrt zum Firmengelände versperrte. „Die Schlüssel fürs Tor waren nicht in der Firma. Die haben nur der Chef, der Hausmeister und die Poliere. Wie glaubst du haben die Einbrecher das auf und wieder zu gekriegt ohne Schlüssel und ohne sichtbaren Schaden?“ Herausforderung und Triumph blitzten in seinen Augen, als er seinen Kollegen ansah. Hermann schaute sich das Tor in Ruhe an. Es wurde elektrisch betrieben und über einen Schlüsseltaster bedient, der sauber in einen Pfosten eingelassen war. Hermann kramte in der Hosentasche und holte ein voluminöses Schlüsselbund hervor. Dann begann er, die einzelnen Schlüssel zu probieren. Schon beim zweiten gab es ein lautes Klicken. Summend sprang ein Elektromotor an und das gut geschmierte Tor schloss sich fast lautlos.

„Kuckma, wieder mal mein Garagenschlüssel. Der passt meistens.“ Hermann grinste zufrieden. „Billiger Baumarktzylinder. Jeder siebte Schlüssel passt.“

Das Rolltor war noch nicht wieder ganz offen, da fuhr ein schwarzer Audi Q7 mit quietschenden Reifen aufs Gelände. Am Hamburger Kennzeichen konnte man leicht erraten, dass es ein Leihwagen war. Ein Mann um die 50 in teurem, zerknittertem Anzug stieg aus und kam forschen Schrittes auf sie zu.

„Sandmann“, stellte er sich vor. „Bernd Sandmann. Ich bin hier der Chef. Meine Mitarbeiterin hat mich eben angerufen. Was ist denn genau passiert?“

Dierk-Helge schmollte gerade, also sprach Hermann mit ihm.

Die Bürotür ging auf. Sylvia Lieblich rauschte auf Bernd Sandmann zu und warf sich ihm schluchzend an den Hals. Hermann glotzte verwundert. Nanu, die arrogante Büroschnepfe von eben schien ja mächtig aufzutauen. Und ihr Arbeitsbereich schien ja auch erheblich tiefer zu gehen, als sie vorhin vorgegeben hatte.

 

Sandmann tröstete seine Mitarbeiterin. „Komm, Sylvia, ist alles halb so wild. Ich hab schon von unterwegs telefoniert. In drei Stunden stehen hier zwei Leasingfahrzeuge auf dem Hof, dann geht es weiter. Schließlich sind wir versichert.“ „Und ob“, dachte Dierk-Helge grimmig. Hermann konnte ihm erzählen was er wollte. Der war doch eh nur zu faul. Er, Dierk-Helge Reuter-Ritterling, würde seiner Nase folgen. Und wenn hier außer Hermann was faul war, dann würde er das rauskriegen. Er brauchte diesen geschniegelten Typen doch nur anzugucken, um Bescheid zu wissen. Sandmann passte einfach nicht auf den Bau. Der war Sohn von Beruf. Und die heulende Blondine war eindeutig ein Fremdkörper in diesem Betrieb mit ihren Pumps und ihren gestylten Fingernägeln. Aber da war doch eben dieser Graukittel, der Otto abserviert hatte. Das waren gewöhnlich die Leute, die wussten, was Phase war. Dierk-Helge machte sich im Hinterkopf eine Notiz, dem Mann später noch mal auf den Zahn zu fühlen.

Kapitel 5

Gegen zwei Uhr kamen Hermann und Dierk-Helge endlich auf die Dienststelle zurück. Hermann holte einen Rollwagen vom Hausmeister und verschwand mit seinem umfangreichen Spurenmaterial direkt zu den Kriminaltechnikern beim Erkennungsdienst. Dass Tatortdienst am Montag voll die Arschkarte ist, wusste Dierk-Helge nicht erst seit gestern. Da stehen immer die ganzen Einbrüche vom Wochenende an. Eigentlich ist das mehr als genug Arbeit für einen Tag. Aber voller böser Vorahnung schaute er auf dem Weg zum Büro noch schnell bei Elke vorbei. Die gute Seele und Büromanagerin des Kommissariats sah ihn über zwei hohe Aktenstapel hinweg mitleidig an. Und richtig: Der Papierstoß, der in seinem Fach schmorte, bog den dünnen Sperrholzboden schon deutlich nach unten und schien auch jetzt noch bei bloßem Betrachten aufzugehen wie ein Hefeteig. Chef Reiffeisen hatte mal wieder gnadenlos zugeschlagen und ihm sein Fach so richtig schön vollgeknallt.

'Die jungen Dachse sollen mal ordentlich an die Schüppe, dann kommen sie nicht auf dumme Gedanken' war sein ureigenstes Motto. Dem war scheißegal, ob man sich den ganzen Vormittag draußen die Hacken abgelaufen hatte. Frustriert schnappte er sich eine gelbe Postbox aus der Ecke und warf den Stoß nach kurzer Sichtung hinein. Na ja, immerhin ein komplett geklauter Transporter. Der Rest Fahrraddiebstähle, Internetbetrüge und eine nette Serie von demolierten Autos. Zerkratzte Türen, abgeknickte Antennen und Scheibenwischer. Lauter tote Hosen. Viel Arbeit, null Ermittlungsansatz. Was hatte er nur verbrochen? Dierk-Helge schielte auf Hermanns Fach, das war deutlich flacher bestückt. Warum kriegte der nicht die ganze Kleinscheiße? Der bewegte seinen Arsch doch sowieso nicht freiwillig nach draußen, so wie die meisten.

Irgendwie tickten hier alle nach derselben Uhr. Papier wegschaufeln, Statistik bedienen. Alles andere war Wurst. Wenn er hier doch bloß was zu sagen hätte, dann würde der Laden anders laufen. Dierk-Helge sehnte sich zu den Spezialermittlern für Leichen, Brand und Rauschgift. Die hatten noch Zeit für richtige Recherchen, die hatten keinen Rollbalken an ihrer Fallübersicht. Aber die Aussicht auf eine Stelle im K1 oder K2 war düster für Newcomer wie ihn. Da musste man sich schon profilieren. Aber wie bitte konnte man aus dem bürokratischen Tsunami eines Massenkommissariats positiv hervorstechen? Dierk-Helge seufzte frustriert, dann trollte er sich den endlosen Flur entlang zu seinem Büro.

„Viel Spaß damit“, rief Elke ihm sorgenvoll hinterher, aber Dierk-Helge war gedanklich schon längst wieder woanders. Vorausgesetzt, Unternehmer Sandmann hatte tatsächlich einen Versicherungsbetrug hingelegt: Welchen Sinn konnte das haben? Das Baugewerbe hatte ziemliche Flaute, es litt immer noch unter der Finanzkrise. Drohte Sandmann vielleicht die Insolvenz? Brauchte er dringend Geld, um die Zahlungsunfähigkeit abzuwenden?

Sandmann hatte von zwei Ein-Familien-Häusern gesprochen, dazu kam das Seniorenheim in Herzebrock.

Das war zwar alles nicht gerade bombig, aber der Laden schien zu laufen und angeblich steckten bereits weitere Aufträge in der Pipeline. Fa. Sandmann schien auf gesunden Füßen zu stehen. Und trotzdem: drei teure Fahrzeuge auf einen Schlag. Das war schon ein ordentlicher Hammer für sich. Circa 250.000 Euro Zeitwert. Aber da war noch was. Irgendwie hatte es mit Sandmann zu tun. Warum war ihm der Mann so suspekt? Dierk-Helge schloss die Augen und ließ die Begegnung noch mal im Gedächtnis ablaufen.

Sandmann: Etwa eins fünfundachtzig groß, sportlich mit Bauchansatz, dazu porentiefe Bräune mit einem ordentlichen Schuss Sonnenbank. Das dunkel getönte und blondgesträhnte, noch recht volle Haar sorgfältig nach hinten gegelt, teurer Anzug, schwere Goldkette und eine wuchtige Schweizer Uhr, die verdächtig nach Breitling aussah. Der jetzt leider geklaute AMG-Mercedes rundete das Bild ab. Dazu die megateuren Hobbys: Segeln und Hochseeangeln in der Karibik. Alles, aber auch wirklich alles an Sandmann stank nach Geld. Nach viel Geld. Okay, ein mittelständischer Bauunternehmer lebt deutlich über der Armutsgrenze, aber die Symbolik, mit der Sandmann sich umgab, war für ihn zwei Regale zu hoch gegriffen.

Das war es. Dierk-Helge grinste. Sandmann lebte klar über seine Verhältnisse. Der war kein Handwerker und würde auch nie einer werden. Sandmann war ein Zocker. Hatte er sich womöglich verzockt? Und was hatte es mit diesen „Villas Selva y Mar“ auf sich? Das würde er als nächstes herauskriegen. Der Ermittlungsterrier in ihm streckte witternd die Nase in den Wind und ließ aus tiefstem Inneren ein böses Knurren heraus, während die Flanken angespannt zitterten. Voller Tatendrang schmiss Dierk-Helge sich in seinen Bürosessel. Von dem Stoß neuer Anzeigen nahm er die oberen beiden und legte sie in ein gut gefülltes Körbchen auf seinem Schreibtisch. Da würde er sich morgen früh als Erstes drum kümmern. Den Rest knallte er kurzerhand in die zweite Schublade seines Schreibtisches. Das heißt, er wollte knallen, aber die Schublade war zu seinem Schrecken randvoll. Auch die dritte Lade enthielt schon einen beträchtlichen Stoß. Höchste Zeit für einen verschärften Bürotag. Sichten, sortieren, kopieren, lochen, klammern. Dann den ganzen Rotz weg zur Staatsanwaltschaft, eine Durchschrift ablegen und zum Schluss, als wichtigster Schritt der detektivischen Bemühungen, die Kriminalstatistik bedienen. Und hoffen, dass Reiffeisen nicht allzu viel von dem Schrott wieder zurückgab, weil er mal wieder in jeder Suppe irgendein Haar finden würde. Dierk-Helge stieß einen tiefen Seufzer aus. Bei nächster Gelegenheit, versprach er sich hoch und heilig. Aber nicht jetzt. Nach fünf Minuten konzentrierter Denkarbeit griff er zum Hörer.

Als Hermann vom Erkennungsdienst zurückkam, fand er seinen Kollegen vor, der mit hochrotem Kopf irgendwem am Telefon klarmachte, warum gerade die Firma Sandmann dringend intensiver Fürsorge bedurfte. „Sicher? Was ist heute schon sicher?“ fragte er seinen Gesprächspartner. „Das ganze stinkt halt nach Betrug. Und dafür muss es ein Motiv geben. Schau doch einfach mal nach, das kostet ja nichts. Ja? Du meldest dich? Perfekt!“

„Wer war denn das?“ Hermann sah seinen Partner besorgt an.

„Oberfinanzdirektion Münster“, sagte der lakonisch und hackte irgendetwas mit Hochgeschwindigkeit in seinen PC. Hermann zuckte mit den Schultern und holte sich erst mal einen Kaffee aus dem Automaten im Keller. Genau 38 Minuten später klingelte das Telefon. Die Art, in der Dierk-Helge den Telefonhörer schnappte, erinnerte Hermann lebhaft an die Boa Constrictor in seinem Terrarium zuhause, wenn sie ihre wöchentliche Zuchtratte schlug.

Dierk-Helge lauschte angespannt, dann weiteten sich seine Augen. „Okay, ich klär das hier im Hause und melde mich umgehend bei dir, um alles Weitere zu besprechen. Tschüss bis dann … und danke!“

Dierk-Helge legte den Hörer auf und atmete tief aus. Dann machte er eine Becker-Faust und stieß ein herzhaftes „YESSS“ aus.

„Du ahnst nicht, was die Jungs von der Steuerfahndung mir gerade gesteckt haben!“

Hermann seufzte leise. „Nein“, sagte er dann, und milde Resignation schwang in seiner Stimme. „Aber ich befürchte, dass du es mir alles sofort haarklein erzählst!“

„Die Steuerfahnder haben Sandmann auf der Liste. Du weißt doch: der Luxemburger Bankenskandal. Sandmann hat dort auch Schwarzgeld gebunkert. Der Kerl will sich nach Übersee absetzen und liquidiert hier gerade seine Vermögenswerte. Wenn das keine Fluchtgefahr ist, dann weiß ich's nicht. Ich muss sofort zum Chef!“ Und raus war er.

Hermann lehnte sich zurück und atmete tief durch. Es war dringend Zeit für sein tägliches Ritual. Erst mal holte er sich einen frischen Kaffee. Dann zog er eine Schublade auf, der er eine grüne Flasche entnahm. Er goss einen anständigen Schluck davon in seinen Kaffeebecher, von dem er zuvor die erforderliche Menge Kaffee abgetrunken hatte. Er nippte genießerisch und wartete ab.

Eine Stunde später war Dierk-Helge wieder da. Körperhaltung und Mimik ähnelten der eines getretenen Dackels.

„Na, wie war's?“, fragte Hermann beiläufig, ohne von seiner Zeitung hochzuschauen.

„Die sind doch alle nicht ganz dicht“, stieß Dierk-Helge zornbebend aus. „Nix hören, nix sehen, nix sagen, das ist hier die Strategie!“ Er setzte sich hin und schmollte wie ein Dreijähriger. Hermann war einerseits froh, wenn sein junger Springinsfeld mal einen Dämpfer abkriegte. Aber jetzt war er doch etwas besorgt.

„Nun erzähl schon“, sagte er väterlich. „Kein Haftbefehl? Kein Durchsuchungsbeschluss?“

„Nicht die Bohne“, murmelte Dierk-Helge deprimiert. „Reiffeisen hat sofort die Wirtschaftskriminalisten dazu gerufen. Die WiKri-Leute haben gleich so komisch geguckt. Dann haben sie bei der Steuerfahndung nachgehakt, die hatten den Fall inzwischen intern durchgesprochen. Sandmann ist ein kleiner Fisch. Er hat da Einlagen im niedrigen sechsstelligen Bereich. Reicht niemals für eine Freiheitstrafe. Na ja, und beim Thema Fluchtgefahr haben sie mir erst mal ‘ne Trainerstunde verpasst.“

„Wieso“, hakte Hermann ein, „das ist doch ganz einfach. Du setzt die wirtschaftlichen und sozialen Bindungen des Beschuldigten im Inland gegen die Höhe der zu erwartenden Strafe. Gegebenenfalls musst du noch etwaige Bindungen im Ausland erwägen. So haben wir es gelernt.“

„Genau das hat Reiffeisen auch gesagt. Sandmann hat ein funktionierendes Unternehmen, das ihm einen gehobenen Lebensstandard beschert. Er besitzt die Firmenimmobilie, dazu die elterliche Villa im Stadtpark und sicher auch noch ein sattes Barvermögen. Was die Schwarzgeldaffäre anbetrifft, die kann er mit einer Selbstanzeige aus der Welt schaffen. Er kriegt ‘ne saftige Nachzahlung aufgebrummt, behält aber den größeren Batzen, und alles ist gut. Für die Selbstanzeige wird den Delinquenten übrigens noch einige Zeit eingeräumt. Das ist ja Sinn der Sache. Man soll sich freiwillig melden, um möglichst viele Strafverfahren zu vermeiden. Und selbst wenn Sandmann sich nicht meldet und ein Strafverfahren bekommt: Bei der anliegenden Summe steht allenfalls eine Geldstrafe im Raum.“

„Und dafür gibt natürlich keiner seine Existenz, seinen Lebenskreis und seine verbleibenden Vermögenswerte auf, um irgendwo im Ausland ein Leben im Untergrund zu führen“, spann Hermann den Gedanken weiter.

„Die meisten Leute machen sich ein völlig falsches Bild von einer Flucht ins Ausland, meinte Reiffeisen. Sobald Sandmann sich irgendwo niederlässt, muss er sich zwangsläufig behördlich anmelden. Er muss Einreisebestimmungen und Visapflichten beachten. Spätestens dann fällt auf, dass er international gesucht wird. Okay, etliche Länder liefern bei Vermögensdelikten nicht aus. Aber genau diese Länder sind alles andere als demokratische Rechtsstaaten. Egal wo Sandmann auftaucht mit seinem Geld, garantiert wartet dort schon ein Haufen korrupter Beamter und Ganoven darauf, ihn wie eine Weihnachtsgans auszunehmen. Falls er plant, illegal im Untergrund zu leben, wird es richtig teuer, da braucht er Helfer vor Ort. Finanziell machst du dabei immer Minus. Und wer will schon mit der ständigen Angst leben, geschnappt und ausgeliefert zu werden? Eine Flucht ins Ausland macht Sinn, wenn du hier eine längere Haft und den Verlust deiner sämtlichen Vermögenswerte befürchten musst. Und das ist bei Sandmann eindeutig nicht der Fall.“

„Und was passiert jetzt weiter?“ Unfreiwillig begann Hermann nun doch, sich irgendwie für den Fall zu interessieren.

 

„Alles läuft wie geplant. Keine Fluchtgefahr, kein sofortiges Einschreiten. Es wird allerdings geprüft, ob man vorzeitig an Sandmann herantritt und ein Steuerstrafverfahren eröffnet.“

„Dann war es also nichts mit deinem Verdacht von wegen Sandmann verflüssigt sein Vermögen, um sich ins Ausland abzusetzen?“

„Jedenfalls nicht, was Reiffeisens Meinung anbetrifft.“

„Und was sagt er sonst noch so, der Herr Reiffeisen?“

„Er sagt, mein Engagement fände er ganz toll. Er will auch nicht ausschließen, dass Sandmann irgend ‘ne Leiche im Keller liegen hat, von der keiner was weiß, und dass er deshalb heimlich seine Flucht ins Ausland vorbereitet. Nur leider spräche bei ihm genau so viel oder so wenig dafür wie bei jedem von uns. Daher riet er mir, meinen Arbeitseifer erst mal darauf zu verschwenden, überhaupt einen vernünftigen Anfangsverdacht für den Versicherungsbetrug zu begründen. Und dann fand er es nicht gut, dass ich direkt bei der Steuerfahndung die Pferde scheu gemacht habe, ohne das Fachkommissariat zu beteiligen. Außerdem wäre ich mit meinen Fällen ziemlich im Rückstand, ein paar davon würden schon Schimmel ansetzen.“

„Aua, das hört sich ziemlich nach Rüffel an“, meinte Hermann mitfühlend.

„Das war kein Rüffel“, grummelte Dierk-Helge schmerzlich. „Das war ein lupenreiner Einlauf, war das.“

Er bosselte noch etwas auf seiner Tastatur herum, dann sprang er plötzlich auf.

„Du, ich mach heute früher Feierabend!“ Er schnappte sich seine alte Aktentasche, ein Erbstück von seinem Großvater und rauschte zur Tür.

Hermann sah ihm verwundert nach. „Früher Feierabend machen“ war bei Dierk-Helge bis jetzt nicht mal zu Ankes Geburtstag vorgekommen. Anke war seine Frau, die er heiß und innig liebte und sein Fels in der Brandung eines Ozeans voller lethargischer Ignoranten. „Mach mal 'n paar Tage Urlaub“, rief er ihm besorgt hinterher.

Als Anke Reuter gegen halb fünf wie gewohnt von der Arbeit kam, genügte ihr ein flüchtiger Blick, um zu checken, dass bei Dierk-Helge im Dienst mal wieder irgendwas angebrannt war. Alarm war ja eigentlich schon angesagt, wenn er vor fünf Uhr zu Hause war. Dann war ihm schon irgendeine Laus über die Leber gelaufen. Wenn er aber nachmittags schon ein Bier trank, bedeutete das Katastrophe. Dierk-Helge machte gerade die zweite Flasche auf und stierte vor sich hin. Dafür gab es nur eine Medizin. Kommentarlos schlich Anke ins Bad und ließ Wasser in die große Wanne ein. Sie schüttete eine ordentliche Portion von dem exquisiten Badesalz hinein, das sie neulich aus Italien mitgebracht hatten. Sie zündete ein paar Kerzen an, zog ihre Sachen aus und sprang kurz unter die Dusche. Dann ging sie so wie sie war in die Küche zu Dierk-Helge, der völlig entgeistert von seiner Flasche aufsah.

„Komm schon“, sagte sie zu ihm. „Dein Bier kannst du mitnehmen.“

Eine gute Stunde später saßen sie im Bademantel am Tisch und aßen Spaghetti Tricolore, jenes Gericht, das in knapp 15 Minuten zubereitet ist und für das manch ein Gourmet alles stehen lässt, sofern die richtigen Zutaten richtig verwendet wurden. Und das war hier der Fall. Dierk-Helge ging es prima, sein seelisches Gleichgewicht war wiederhergestellt. Er wirkte förmlich entspannt, wofür es gute Gründe gab. Trotzdem blieb er bei der Sache, in die er sich einmal festgebissen hatte.

„Irgendwas ist da oberfaul bei Sandmann. Ich spür das im Urin. Wenn man doch nur dieses Spaniengeschäft irgendwie durchleuchten könnte. Aber für ein Ermittlungsersuchen übers BKA fehlt mir einfach die Befugnis. Und die WiKri-Leute spielen leider nicht mit.“

Voller Stolz betrachtete Anke ihren Helden. Er war halt ihr kleiner Junge, den sie liebevoll umsorgen musste, aber Terrier durch und durch, wenn es um seine Arbeit ging. Zu süß.

„Warum schaust du dir die Sache nicht einfach selbst an?“

„Wie? Du meinst, ich soll da einfach privat hinfahren? Vergiss es. Wenn Reiffeisen das mitkriegt, dreht er mich durch den Wolf. Nee, Anke, so was gibt’s nur im Film.“

Anke schaute ihren Schatz mit großen braunen Augen an.

„Also, ich weiß nicht, wie es dir geht. Aber ich habe plötzlich irgendwie tierischen Bock auf einen Kurzurlaub in Spanien.“ Sie klappte ihren IPad auf, der wie immer griffbereit auf dem Tisch lag. Sie tippte etwas ein, scrollte mit dem Finger und las. „Da: Eine Woche Málaga für Kurzentschlossene: Appartement mit Flug 240 Euro pro Nase. Ab Paderborn!“

Dierk-Helge tapste im Zimmer herum. Er war hin- und hergerissen von der Idee, hatte aber förmlich Panik vor einem weiteren Zusammenstoß mit seinem Chef Reiffeisen, dessen Argumentation er äußerst widerwillig als schlüssig anerkennen musste. Er wusste zudem, er war ohnehin schon verschrien als hyperaktiver Oberverdachtschöpfer mit zu wenig Bodenhaftung. Ein weiterer Zwischenfall würde ihm das Genick brechen. Nein, ein Einlauf pro Woche reichte selbst einem Dierk-Helge.

„Nee wirklich, Schatz“, grummelte er deshalb entschuldigend, „aber das ist mir echt zu brenzlig. Tut mir leid.“ Betreten sah er, wie Anke eifrig etwas in den iPad hackte. Dann tippte sie mit Schwung auf „Enter“.

„Was meintest du gerade?“, fragte sie und schaute verwirrt hoch.

„Wir können nicht privat in Spanien ermitteln.“, erklärte Dierk-Helge nun schon bestimmter. „Ich breche tausend Vorschriften und komme in Teufels Küche.“

„Quatsch, kein Mensch kann uns verbieten, in Spanien Urlaub zu machen und nebenbei auch noch ein Investitionsobjekt zu besichtigen, das sogar die als extrem konservativ verschriene Landsparkasse Bockhorst als solide Geldanlage bewirbt.“

Anke wedelte mit dem Exposé und ihre Rehaugen blickten ihn völlig unschuldig an. Dierk-Helge wusste, er konnte dem Blick nicht lange standhalten, daher wandte er sich ab. „Ausgeschlossen“, presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Am besten wir vergessen das.“

„Zu spät“, meinte Anke wie nebenbei. „Ich hab gerade gebucht.“